Was Buddha mit „Leerheit“ meint
interpretiert von Stephen Batchelor

Die „Kürzere Lehrrede über die Leerheit“ beginnt mit einer Frage, die Buddhas persönlicher Begleiter Ānanda stellt: Buddha und Ananda“Du lebtest einst in Sakiya, Herr, unter deinen Verwandten in der Stadt Nāgaraka. Dort hörte ich von deinen eigenen Lippen, wie du sagtest: Nun weile ich vorwiegend in Leerheit. Habe ich das richtig gehört?” “Ja,” antwortet Gotama. “Damals, so wie heute, weile ich vorwiegend in Leerheit.” Das Wort, das einem hier ins Auge springt, ist “weilen”, aus dem Pali „viharati“ übersetzt. Die Substantivform ist vihāra, “Wohnsitz” oder “Aufenthaltsort”, und hat die Bedeutung “Kloster” angenommen – das heißt, ein Wohnsitz für Mönche. Nun beschreibt aber “weilen” oder “wohnen” eine ursprüngliche Beziehung zu dieser Erde auf der wir leben. Leerheit ist zuerst und vor allem ein Zustand, in dem wir weilen, wohnen und leben. Eine andere Lehrrede in Pali beschreibt diese Leerheit als “Wohnstätte einer bedeutenden Person.” Leerheit scheint also eine Perspektive zu sein, ein Empfindungsvermögen, eine Lebensform in dieser überwältigenden, ungewissen Welt. Die “bedeutende Person” wäre jemand, der ein solches Empfindungsvermögen entwickelt hat, dass es völlig natürlich geworden ist. Leerheit ist also nicht die Negation des “Selbst”, sondern enthüllt die Würde einer Person, die erkannt hat, was es bedeutet, ein Mensch in seiner ganzen Fülle zu sein. Eine solche Leerheit ist weit davon entfernt, eine letzte Wahrheit zu sein, die durch logisches Schließen zu verstehen und dann in einem Zustand nicht-begrifflicher Meditation direkt zu erkennen ist. Es ist ein Empfindungsvermögen, in dem jemand weilt, nicht ein vorrangiges erkenntnistheoretisches Objekt, das einem durch Wissen Erleuchtung des Bewusstseins verschafft. Die „Kürzere Lehrrede über die Leerheit“ erzählt die Geschichte eines Mannes, der nach einem Weg suchte, authentisch auf Erden zu leben. Gotama beginnt seine Lehrrede mit dem, was am nächsten liegt: das Landhaus, in dem er sich mit seinen Bettelmönchen aufhält. “Da das Haus leer ist von Elefanten, Rindern und Pferden, leer von Gold und Silber, leer von Mengen an Frauen und Männern,” führt er aus, “gibt es nur eine Sache, von der dieses Landhaus nicht leer ist: diese Gruppe von Bettelmönchen.” Aber ein Bettelmönch, der diese Gemeinschaft als zu laut und störend empfindet, wird die Einsamkeit des Waldes aufsuchen, die “leer ist von jeder Wahrnehmung von Dörfern oder Menschen.” Der Bettelmönch betrachtet also den Wald als “leer von dem, was nicht da ist, und von dem, was übrig ist, weiß er: ‘Das ist, was da ist.’” Obwohl der Bettelmönch nicht länger vom Trubel der Welt irritiert wird, stellt er fest, dass er zu Ängstlichkeit neigt, die durch das Leben im Wald erzeugt wird. Um diese Ängstlichkeit zu überwinden, versetzt sich der Bettelmönch in zunehmend verfeinerte Zustände meditativer Versenkung: über die Ausdehnung der Erde, den grenzenlosen Raum, grenzenloses Bewusstsein, das Nichts, und das Weder-bewusst-noch-unbewusst-Sein. Aber in jedem Stadium stellt er fest, dass es noch immer etwas in ihm gibt, was Unbehagen entstehen lässt. Also gibt er die tiefen, tranceähnlichen Zustände auf für “merkmallose Konzentration des Herzens.” Aber auch da erkennt er, dass er noch immer zu der Angst neigt, die davon kommt, dass er die sechs Wahrnehmungsfelder eines lebenden Körpers hat.” Worin auch immer der Wert seiner merkmallosen Konzentration besteht, so ist sie dennoch “produziert und willentlich herbeigeführt” und daher “vergänglich und dem Aufhören unterworfen.” Erst hier, nachdem er die Möglichkeiten der Meditation in Waldeinsamkeit ausgeschöpft hat, erkennt er, dass all diese Übungen letztlich vergeblich sind, weil sie enden werden. Er scheint zum Ausgangspunkt zurückgekehrt zu sein. Aber genau diese Einsicht in die Vergänglichkeit verschafft ihm die Ruhe des Geistes, die er die ganze Zeit gesucht hat. “Indem er solches weiß und sieht,” fährt Gotama fort, “ist sein Herz befreit von den Trieben (āsava) der Sinne, des Werdens und des Nicht-Wissens”. Aber das ist nicht das Ende der Geschichte. “Ohne all die Ängste, die durch Triebe bedingt sind,” überlegt der Bettelmönch, “neige ich immer noch zu der Angst, die daraus entsteht, dass ich die sechs Wahrnehmungsfelder eines lebenden Körpers habe. Dieser Bewusstseinszustand ist leer von jenen Trieben. Was nicht leer ist, ist: die sechs Wahrnehmungsfelder eines lebenden Körpers.” Die „Kürzere Lehrrede über die Leerheit“ schließt mit dieser Einsicht: in Leerheit zu weilen bedeutet, den körperlichen Raum der eigenen sinnlichen Erfahrung auszufüllen, aber auf eine Art, die nicht mehr von der eigenen gewohnheitsmäßigen Reaktivität bestimmt ist. In einer solchen Leerheit zu weilen bedeutet nicht, dass man nicht mehr leiden wird. Solange jemand Körper und Sinne hat, wird er “geneigt sein zur Angst”, die davon kommt, eine bewusste, fühlende Kreatur aus Fleisch, Knochen und Blut zu sein. Und das dürfte für Gotama genauso wahr gewesen sein wie für uns heute. Leerheit ist hier nicht eine Wahrheit – schon gar keine letzte Wahrheit – deren richtiges Verständnis ein Mittel wäre, Nicht-Wissen zu vertreiben und so Erleuchtung zu erlangen. Für Gotama kommt es nicht darauf an, Leerheit zu verstehen, sondern in ihr zu weilen. In Leerheit zu weilen bringt uns sicher zur Erde herunter und zu unseren Körpern zurück. Es ist ein Weg, uns zu ermöglichen, unsere Augen zu öffnen und gewöhnliche Dinge wie zum erstenmal zu sehen.

Dieser Text ist ein (noch nicht lektorierter) Auszug aus Stephen Batchelors neuestem Buch „Nach dem Buddhismus – den Dharma für ein säkulares Zeitalter neu denken“ (Arbeitstitel), das im Herbst 2016 in der edition steinrich erscheinen wird. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages. [1. Eine deutsche Übersetzung der Cúlasuññata Sutta – „Kürzere Lehrrede über die Leerheit“ gibt es z. B. unter: http://www.phathue.de/buddhismus/mittlere-sammlung/mn121/. coque iphone Der englische Originaltitel von Batchelors Buch lautet: After Buddhism – Rethinking the Dharma for a Secular Age, 2015, Yale University Press, New Haven & London.

In eigener Sache

Liebe Leserinnen und Leser, leider muss ich Euch davon informieren, dass Evamaria einen Schlaganfall erlitten hat. Die Aorta-Dissektion, die diesen verursacht hat, und die Notoperation zum Austausch des betroffenen Stückes der Aorta hat sie mit viel Glück überlebt. Jetzt befindet sie sich schon wieder am Weg der Besserung, ist aber in der Beweglichkeit ihrer linken Körperseite und ihrem Sprechen noch sehr eingeschränkt. Zwar versteht sie quasi alles, tut sich aber noch schwer, die von ihr so geliebten Wörter zu finden. Obwohl es täglich besser wird, fällt sie doch als Hauptautorin dieses Blogs eine Weile lang aus. Für uns in der Wiener Gruppe ist das eine heftige Erinnerung daran, wie sehr unser Leben permanent auf des Messers Schneide steht. Aber auch eine Inspiration und Ermunterung zur Praxis: Als Evamaria und ich über ihre Erfahrung gesprochen haben, hat sie diese ohne jegliche Mühe beim Sprechen als „unheimlich interessant“ bezeichnet. Das war für mich ein sehr bewegender Moment, das ist gelebtes „Dukkha-Umarmen“! Auch auf diesem Weg wünsche ich Evamaria schnelle und vollständige Genesung, und fühle mich an der Nase genommen, ihre Online-Abwesenheit durch mehr Beiträge meinerseits ein kleines Bisschen auszugleichen.

Was hat Recollective Awareness mit dem Dharma zu tun?
erklärt von Winton Higgins

Unsere Leserinnen und Leser sind mit Recollective Awareness 1 vertraut: es geht dabei darum, sich selbst und anderen die inneren Vorgänge während der Meditation im nachhinein bewusst zu machen, durch Einzel- und Gruppengespräche und das Führen eines Tagebuchs. Diese Praxis, entwickelt von Jason Siff 2, üben wir in unserer Sangha in Wien. Vor ein paar Wochen ist in unseren Gesprächen die Frage aufgetaucht, was dieser Zugang zur Meditation, bei dem ohne alle Vorgaben dazu eingeladen wird, den Geist laufen zu lassen, wie er will, mit dem Dharma zu tun habe.

cartoon comic_by_dukkhagirl_com_unzenthoughts3Darüber haben sich auch schon andere Gedanken gemacht. In einem Talk unseres australischen Dharmafreunds und Gewährsmanns Winton Higgins geht es genau darum 3:

„Die Frage, was Recollective Awareness mit dem Dharma zu tun hat, ist berechtigt angesichts der Tatsache, dass sie sich stark von Meditationspraktiken mit formelhaften Anleitungen des buddhistischen Mainstreams, vor allem im Vipassana, unterscheidet. Meine kurze Antwort: Recollective Awareness hat alles mit dem Dharma zu tun. Sie nimmt nämlich den direkten Weg zurück zum Dharma ohne den labyrinthischen Umweg über den Abhidhamma 4. Wir sollten unseren Geist einladen, alle seine Inhalte zu offenbaren, sodass wir das ganze Muster unserer komplexen, vielschichtigen Erfahrung sehen können und dabei unsere Meditationspraxis mit der größtmöglichen Vertrautheit mit dem Kern des Dharma verknüpfen. Der Dharma, wie Buddha ihn lehrt, stellt uns die Sprache zur Verfügung, mit der wir schrittweise zum klaren Verständnis unserer Praxis kommen. Darum geht es in der Kultur des Erwachens, die wir sowohl innerlich als auch gemeinsam zu pflegen versuchen. Meditation ist nicht nur ein intimer Vorgang, sondern auch ein gemeinsames Unternehmen, ein vermittelbarer und interpretierbarer Prozess. Welche Wurzeln hat Recollective Awareness im Dharma? Die Satipatthana Sutta ist die grundlegende Lehrrede des Buddha zur Meditation im allgemeinen und zur Einsichtsmeditation des Vipassana im besonderen. Recollective Awareness bietet eine Alternative zu Vipassana-Schulen, die aus dem Abhidhamma entstanden sind. imagesDas ist eine späte und einschneidende Neuinterpretation von Buddhas Lehre, von Mönchen für Mönche gemacht; Meditationstechniken des Vipassana stützen sich stark darauf und nicht auf die Sutta. Die Grundstruktur der Satipatthana Sutta bildet das, was Buddha die vier Aspekte von Sati nennt. Sati ist wahrscheinlich das wichtigste Wort, das Buddha gebrauchte. Seine ursprüngliche Bedeutung ist ’sich erinnern‘, aber Buddha gebrauchte es auch im Sinn von Achtsamkeit, Wachsamkeit. Recollective Awareness, ’nachvollziehendes Bewusstmachen‘, ist also wahrscheinlich die beste Übersetzung von ’sati‘, die wir haben. Buddha spricht in der Sutta häufig von ‚klarem Verständnis‘ – das bedeutet, unsere Erfahrung in Echtzeit nachzuvollziehen. Wenn wir uns unserer Erfahrung derart zuwenden, sehen wir, dass sie sehr komplex und vielschichtig ist. Zweifellos hat Buddha aus diesem Grund pragmatischerweise vorgeschlagen, wir könnten sie nach vier Aspekten aufschlüsseln:

  • körperliche Erfahrung,
  • Färbung der Wahrnehmung,
  • Geisteszustände und Stimmungslagen,
  • kognitive Inhalte des Geistes.

Es gibt hier eine Abfolge. Es beginnt mit der grundlegenden und konkretesten Art von Erfahrungen, die mit dem Körper und den Sinnen zu tun haben und schreitet dann zu immer subtileren Erfahrungen fort. Aber es ist eine Abfolge und keine Hierarchie, weil unsere Körperlichkeit der Resonanzboden für jede Erfahrung bleibt. Färbungen der Wahrnehmung, Stimmungen und Gedanken wirken sich darauf aus, wie wir uns in unserem Körper fühlen. Meditation geht wirklich nicht nur in unseren Köpfen vor sich. Klares Verständnis bedeutet nicht einfach, eine Liste machen zu können, sondern Erfahrungen im Kontext und dynamisch nachzuvollziehen. Auf einer ganz fundamentalen Ebene stellen wir fest, dass alle Erfahrungen entstehen, für eine Weile anhalten und dann vergehen. Nichts bleibt, und nichts hat also einen realen, dauerhaften Kern oder eine Substanz. Vielleicht stellen wir auch fest, dass alle unsere Erfahrung unstet ist, weil sie aus unserer grundlegenden conditio humana hervorgeht; wir sind verletzliche, begehrende und sich laufend verändernde Wesen, die unter Bedingungen leben, die sich unabhängig von uns selbst wiederum dauernd ändern. Wenn wir ein wenig Basiswissen im Dharma haben, kann uns das auf dieses dynamische Muster aufmerksam werden lassen: wir erfahren aus erster Hand diese grundlegende kleine Liste der Charakteristika unserer Existenz: Unbeständigkeit, dukkha und Nicht-Selbst. Diese Liste ist nicht Bücherweisheit – sie ist real! Wir könnten auch feststellen, dass unsere Erfahrung sich in vernetzten Beziehungen von Ursache und Wirkung entfaltet: aha, bedingtes Entstehen – der zentrale philosophische Gedanke des Buddha – ist auch Realität! 670px-Become-a-Buddhist-Step-11-Version-2 Die Meditierenden, denen Buddha diese Rede hielt, kannten die Grundlagen des Dharma schon. Es war spät in seinem Leben, und Buddha hatte die wesentlichen Lehren schon Jahrzehnte früher entwickelt. Nun arbeitete er sie aus und brachte sie direkt mit der Praxis der Meditation in Beziehung. Und als er zum vierten Aspekt kam (den kognitiven Inhalten des Geistes – Gedanken, Bilder, Geschichten usw.) schlug er vor, seine Zuhörer sollten sie entsprechend seinen Listen ordnen, die ihnen bis dahin gut bekannt waren: die fünf Hindernisse, die fünf Skhandas, die sechs Sinnesbereiche, die sieben Faktoren des Erwachens und die vier großen Aufgaben. All das hatten sie im kleinen Finger. In dieser Weise enthält und spiegelt die Sutta (und die Praxis, die in ihr vorgeschlagen wird), die gesamte Lehre des Buddha. Mit anderen Worten: der Buddha hatte die Grundlagen einer Kultur des Erwachens schon gelegt, und hielt die Lehrrede auf dieser Basis. Offenkundig fürchtete er nicht, das Wissen über diese Grundlagen könnte die Meditationserfahrung seiner Zuhörer verzerren. Im Gegenteil, er schlägt vor, dass sie diese Grundlagen so vollständig wie möglich ausschöpfen, um ihre eigene Erfahrung klar zu verstehen. Und gibt er ihnen spezielle Techniken und Formeln, die sie schrittweise anwenden sollten? Füttert er sie mit dem Löffel? Er denkt nicht daran! Er spricht nicht von body scan, primären und sekundären Objekten, Atembeobachtung an der Nase oder am Bauch, oder von den 17 ‚rechten Einsichten‘ – diese Utensilien stammen nicht aus dieser Sutta, sondern aus dem Abhidhamma. Seine Pädagogik ist das Gegenteil von Löffelfütterung. Er benützt die vier Aspekte der Achtsamkeit als Gelegenheit, ein Füllhorn von Möglichkeiten zu eröffnen, wie unsere meditative Erfahrung sich entfalten und was wir aus ihr machen könnten. Am Anfang der Sutta beschreibt er diese Praxis als ‚den direkten Weg zur Erkenntnis‘, aber es ist eindeutig ein ‚Do-it-yourself‘-Weg und keine Ameisenkarawane. Uns wird gesagt, worum es bei der Reise geht, was entlang des Weges auftauchen könnte, und wir erhalten einen Kompass. Jede und jeder von uns bahnt sich ihren und seinen eigenen Weg, abhängig vom eigenen Leben und seinen Neigungen. Jede und jeder von uns muss selbst die Verantwortung für die eigenen Praxis übernehmen, in Anwendung der Möglichkeiten, die die Sutta eröffnet. Meditation mit Recollective Awareness, nachvollziehendem Bewusstmachen, ist ein Ansatz, diese Lehre in der Praxis umzusetzen. In welchem Geist sollten wir Meditierende im Westen uns dem Dharma annähern? Wir sollten nicht nur lesen oder hören, was der Buddha sagte, sondern auch die Gesamtsituation, in der er sprach, in Betracht ziehen, einschließlich seiner Zuhörerschaft. Sie lebten in einer vor-literarischen Gesellschaft, die sich auf mündliche Überlieferung stützte, doch waren sie gebildete Leute. Ein gebildeter Mensch war in jener Zeit jemand, der ‚eine Menge gehört hatte‘. Und vermutlich auch innerlich verarbeitet hatte – das kommt von allein, wenn du Lehren in deinem Kopf herumträgst und nicht in einem Buch oder Ipod. Es war eine Art in sich aufsaugenden Lernens, das von manchen bis heute geschätzt wird. Wir brauchen eine innere Bibliothek von Formen, Metaphorik, Rhythmus und Tonfall, auf die wir uns für unsere eigene Arbeit beziehen können. Meditation ist nicht nur eine persönliche, sondern gleichzeitig eine gemeinschaftliche Praxis. Es geht auch um die Sangha, die dritte Zuflucht, in der wir miteinander in gemeinsamer Sprache, gemeinsamen Ausdrücken, gemeinsamen Werten kommunizieren können. Ohne das können wir nicht einmal mit uns selbst kommunizieren, da uns sonst das Vokabular fehlt, unser inneres Leben zu artikulieren. Beim Prozess der Recollective Awareness, des nachvollziehenden Bewusstmachens, werden wir im Einzel- und Gruppengespräch zum Austausch ermutigt. meditationskissenWir werden auch dazu ermutigt, unsere meditative Erfahrung aufzuschreiben. Es kann zum ‚klaren Verständnis‘ verhelfen – unserer Erfahrung nachzuspüren und sie zu interpretieren. Und wenn wir sie schriftlich festgehalten haben, macht das im Geist Platz für Neues, anstatt des endlosen Umrührens in Altbekanntem. Es ist eine Art des Loslassens, eine Art, unser Leben zu verarbeiten, wie jede erfahrene Tagebuchschreiberin bestätigen kann. Zum Abschluss Meditation mit Unterstützung von Recollective Awareness, nachvollziehendem Bewusstmachen, ist eine zentrale Praxis im Dharma. Unsere Kultur des Erwachens ist von der gemeinschaftlichen Natur unserer Praxis abhängig, und beide hängen davon ab, dass wir den Dharma als die zentrale Ressource in uns aufnehmen. spinne im netzEine meditierende Person, sagte mir einer meiner Lehrer, sollte wie eine Spinne sein, die in der Mitte ihres Netzes sitzt. Beim kleinsten Zittern weiß die Spinne genau, woher in ihrem großen und komplizierten Netz die Störung kommt, und läuft hin.

  1. eine passende deutsche Übersetzung wäre vielleicht: nachvollziehendes Bewusstmachen
  2. eine genaue Beschreibung von ihm selbst findet sich auf der Seite „Das Meditieren entlernen“ auf dieser Website.
  3. das englische Original ist auf unserer neuseeländischen Schwesterwebsite http://secularbuddhism.org.nz/ unter dem Titel: The dharmic foundations of the recollective awareness approach nachzulesen; die mit Wintons Zustimmung gekürzte Übersetzung stammt von Evamaria Glatz.
  4. für eine erste Begriffsklärung: https://de.wikipedia.org/wiki/Abhidhammapitaka.

Wie man sein Karma lenkt
von David Loy

David LoyWas sollen wir mit Karma anfangen1

Es hat keinen Sinn vorzutäuschen, dass Karma für den Buddhismus unserer Zeit nicht zu einem Problem geworden ist. Wenn wir ehrlich zu uns selbst sind: die meisten von uns wissen nicht recht, wie wir es verstehen sollen. Zusammen mit seinem Zwilling, der Wiedergeburt, war Karma immer ein wesentlicher Teil der buddhistischen Lehre, doch wissen wir nicht, wie buchstabengetreu sie interpretiert werden sollten. Karma wird oft als ein unpersönliches und deterministisches „moralisches Gesetz“ des Universums verstanden und wurde dafür benutzt, Rassismus, Kastenwesen, ökonomische Unterdrückung, angeborene Behinderungen und alles mögliche andere zu rationalisieren. So verstanden rechtfertigt Karma die Autorität politischer Eliten, die ihren Reichtum und ihre Macht also verdient haben müssen, und die Unterordnung derer, die beides nicht haben.

In der Kalama Sutta, die manchmal „die buddhistische Charta freien Forschens“ genannt wird, unterstrich der Buddha die Wichtigkeit intelligenten, prüfenden Zweifels. Er sagte, wir sollten an keine Sache glauben, bevor wir ihre Wahrheit für uns selbst bestätigt hätten. Das legt nahe, dass das buchstabengetreue Akzeptieren von Karma und Wiedergeburt ohne die Frage, was mit ihnen wirklich gemeint sei, bedeuten könnte, sich vom Besten der Tradition zu distanzieren. Das bedeutet nicht, buddhistische Lehren darüber herabzusetzen oder zu verwerfen. Es unterstreicht nur die Notwendigkeit für den modernen Buddhismus, diese Lehren zu hinterfragen.

Eines der grundlegendsten Prinzipien des Buddhismus ist gegenseitige Abhängigkeit, aber ich frage mich, ob uns klar ist, was das im Zusammenhang mit den ursprünglichen Lehren des Buddha bedeutet. Gegenseitige Abhängigkeit bedeutet, dass nichts irgendeine Form von „Selbst-Existenz“ hat, weil es von anderen Dingen abhängt, und so weiter. Alle Dinge entstehen und vergehen entsprechend von Ursachen und Bedingungen. Doch der Buddhismus, so meinen wir, ist der unvermittelten Erfahrung des Shakyamuni Buddha entsprungen, der ein „Erwachter“ wurde, als er unter dem Bodhibaum Nirvana erlangte.

Obwohl wir den hier erwähnten Bericht als gegeben ansehen, gibt es ein Problem damit. Diese Geschichte von der Erleuchtung, wie sie normalerweise erzählt wird, läuft auf einen Mythos von Selbst-Erschaffung hinaus – etwas, was der Buddhismus ablehnt! Wenn die gegenseitige Abhängigkeit aller Dinge für alle Dinge zutrifft, kann die Wahrheit des Buddhismus nicht unabhängig von all den anderen spirituellen Vorstellungen in Zeit und Raum des Buddha (das heißt, dem Indien zur Eisenzeit) ohne jede Beziehung zu ihnen entstanden sein. Statt dessen müssen die Lehren des Shakyamuni als Antwort auf diese Auffassungen verstanden werden, und zwar als eine Antwort, die unvermeidlich viele der spirituellen Vorstellungen, die in dieser Kultur gängig waren, zur Voraussetzung hatte – zum Beispiel die allgemeinen Annahmen über Karma und Wiedergeburt, die sich zu dieser Zeit weithin verbreiteten.

Eine andere grundlegende Lehre des Buddhismus ist die von der Unbeständigkeit, was uns in diesem Kontext daran erinnert, dass hinduistische und buddhistische Auffassungen eine Geschichte haben, dass sie sich mit der Zeit entwickelt haben. In früheren brahmanischen Lehren gab es eine Tendenz, Karma mechanisch und rituell zu verstehen. Ein Opfer auf die richtige Art durchzuführen, sollte ausnahmslos zu den erwünschten Folgen führen. Wenn diese nicht eintraten, wurde entweder ein Irrtum in der Durchführung angenommen oder eine Verzögerung der kausalen Konsequenzen, vielleicht bis in ein kommendes Leben (hier ist Wiedergeburt impliziert). In seiner spirituellen Revolution formte der Buddha diese rituelle Einstellung, die vom Leben das Gewünschte erhalten will, in ein moralisches Prinzip um, indem er den Akzent auf cetana, „Motive“, „Absichten“ richtete. Cetana ist der Schlüssel zum Verständnis des ethischen Zugang zu Karma, den er eröffnete.

Einige Texte des Pali Kanon stützen eine weitgehend deterministische Sichtweise. Zum Beispiel wird in der Culakammavibhanga Sutra (Majjhima Nikaya 135) Karma verwendet, um diverse Unterschiede zwischen Menschen zu erklären, einschließlich körperlicher Erscheinung und ökonomischer Ungleichheit. Es gibt aber auch andere Texte, zum Beispiel die Tittha Sutra (Anguttara Nikaya 3.61), in denen der Buddha darlegt, dass eine solche Sichtweise die Möglichkeit, einem spirituellen Pfad zu folgen, leugnet:

Es gibt Priester und Praktizierende, die an dieser Lehre, dieser Sichtweise festhalten: „Was immer einer Person auch widerfährt – angenehm, schmerzhaft oder weder angenehm noch schmerzhaft – alles ist durch Taten in der Vergangenheit verursacht.“ Ich sagte zu ihnen: „Wenn das so ist, ist eine Person ein Mörder lebendiger Wesen aufgrund dessen, was in der Vergangenheit getan wurde. Eine Person ist ein Dieb… ein Unkeuscher… ein Lügner… einer, der durch seine Rede Uneinigkeit stiftet… einer, der barsch spricht… ein nutzloser Schwätzer… gierig… bösartig… einer, der an falschen Ansichten festhält, aufgrund dessen, was in der Vergangenheit getan wurde.“ Wenn jemand auf die Sichtweise zurückfällt: was in der Vergangenheit getan wurde, sei wesentlich, Bhikkhus, dann gibt es keinen Wunsch, kein Bemühen [bei dem Gedanken]: „Dieses sollte getan werden. Dieses sollte nicht getan werden.“ Wenn man das, was getan und nicht getan werden sollte, nicht als Wahrheit oder Wirklichkeit bestimmen kann, bleibt man verwirrt und ungeschützt. Man kann sich [dann] selbst nicht mit Recht als einen Praktizierenden bezeichnen.

karmaDer originale Begriff Karma (kamma in Pali) bedeutet im Sanskrit buchstäblich „Handlung“, während vipaka das karmische Ergebnis einer Handlung ist (auch bekannt als ihre phala, „Frucht“). Das weist darauf hin, dass das Wesentliche ist, dass unsere Taten Folgen haben – genauer gesagt, dass unsere moralisch relevanten Taten Folgen haben, die über ihre unmittelbaren Effekte hinausgehen. In den meisten der gängigen Interpretationen ist das Gesetz von Karma und Wiedergeburt eine Möglichkeit, in den Griff zu bekommen, wie die Welt in der Zukunft auf uns einwirken wird, was unmittelbar mit einschließt, dass wir unsere eigene Verantwortung für alles, was uns geschieht, als Folge unserer früheren Taten akzeptieren müssen. „Wenn ich blind geboren bin, nun, das muss meine eigene Schuld sein.“ Das verfehlt die revolutionäre Bedeutung von Buddhas Neuinterpretation. Man versteht Karma besser als den Schlüssel zu spiritueller Entwicklung: wie unsere Lebenssituation verändert werden kann, indem wir die Motive für unsere Handlungen genau jetzt verändern. Wenn wir die buddhistische Lehre über Nicht-Selbst hinzufügen – modern ausgedrückt, dass die Selbst-Empfindung eines Menschen ein geistiges Konstrukt ist – können wir sehen, dass Karma nicht etwas ist, was das Selbst hat, es ist das, was die Selbst-Empfindung ist, und etwas, was die Selbst-Empfindung entsprechend der bewussten Wahl, die jemand trifft, verändert. „Ich“ (re)konstruiere mich selbst durch das, was „ich“ absichtlich tue, denn „meine“ Selbst-Empfindung ist der Niederschlag gewohnheitsmäßiger Formen des Denkens, Fühlens und Handelns. Genauso wie mein Körper aus der Nahrung zusammengesetzt ist, die ich esse, ist mein Charakter aus bewussten Entscheidungen zusammengesetzt, denn „ich“ bin aus meinen stetig wiederholten geistigen Haltungen aufgebaut. Menschen werden nicht für das „bestraft“ oder „belohnt“, was sie getan haben, sondern für das, was sie geworden sind, und was wir mit Absicht tun, macht uns zu dem, was wir sind. Ein anonymer Vers drückt das gut aus:

Säe einen Gedanken und ernte eine Tat, säe eine Tat und ernte eine Gewohnheit, säe eine Gewohnheit und ernte einen Charakter, säe einen Charakter und ernte ein Schicksal

Was ich tue, ist durch das motiviert, was ich denke. Gezielte Taten, immer wieder wiederholt, werden zu Gewohnheiten. Gewohnheitsmäßige Wege des Denkens, Fühlens, Handelns und Reagierens bauen meine Selbst-Empfindung auf und setzen sie zusammen: die Art von Mensch, der ich bin. Die Art von Mensch, der ich bin, bestimmt nicht vollständig, was mir geschieht, aber sie hat starken Einfluss darauf und auf meine Reaktionen. Wie der Philosoph Spinoza es im letzten Lehrsatz seiner Ethik ausdrückte: Glück ist nicht die Belohnung für Tugend; Glück ist die Tugend selbst. Wir werden nicht für unsere „Sünden“ bestraft, sondern durch sie. Eine andere Art Mensch zu werden bedeutet, die Welt auf andere Art zu erfahren. Wenn dein Geist sich ändert, ändert sich die Welt. Und wenn wir anders auf die Welt reagieren, reagiert die Welt anders auf uns. soldes coque iphone Je mehr ich durch Gier, Übelwollen und Verblendung motiviert bin, desto mehr muss ich die Welt manipulieren, um zu bekommen, was ich will, und infolgedessen fühle ich mich zunehmend entfremdet und andere fühlen sich zunehmend von mir entfremdet, wenn sie sehen, dass sie manipuliert worden sind. Dieses gegenseitige Misstrauen regt beide Seiten zu mehr Manipulation an. Andererseits: je mehr meine Taten durch Großzügigkeit, liebende Güte und die Weisheit der gegenseitigen Abhängigkeit motiviert sind, desto mehr kann ich mich entspannen und der Welt öffnen. Je mehr ich mich als Teil der Welt und wirklich mit anderen verbunden fühle, desto weniger werde ich dazu neigen, andere zu benutzen, und somit werden sie dazu neigen, mir zu vertrauen und sich mir zu öffnen. Wenn ich also meine eigenen Motive verändere, verändert das nicht nur mein eigenes Leben; es betrifft auch die Menschen rund um mich, denn das, was ich bin, ist nicht getrennt von dem, was sie sind. Karma als Wie-ich-meine-Lebenslage-verändere-indem-ich-meine-Motive-verändere ist keine fatalistische Lehre. Ganz im Gegenteil: eine anregendere spirituelle Lehre ist schwer vorstellbar. Es wird uns nicht gesagt, wir sollten die problematischen Umstände in unserem Leben passiv hinnehmen.

  1. Bei diesem Text handelt es sich um die gekürzte Übersetzung des Kapitels „How to drive your Karma“ aus David Loys Buch: Money Sex War Karma, das 2008 veröffentlicht wurde. Eine deutsche Fassung wird demnächst in der edition steinrich erscheinen. Der vorliegende Text ist noch nicht endredigiert; wir veröffentlichen ihn hier mit freundlicher Genehmigung des Verlags. Für die Übersetzung: Evamaria Glatz

War Immanuel Kant ein Buddhist?

Nein, das war er natürlich nicht. Er ist im Jahr 1804 gestorben, bevor erste halbwegs gesicherte Nachrichten über Buddhas Lehre nach Europa kamen. Seine Philosophie hat er eigenständig aus der Geistesgeschichte seiner Zeit entwickelt 1.

Das Bild nebenan ist über 100 Jahre alt und stammt aus dem Tempel der Philosophen in Tokyo. Es belegt, wie sehr Kant auch außerhalb Europas seit langem geschätzt wird; es zeigt ihn gemeinsam mit Sokrates und Konfuzius neben Buddha als einen der vier Weltweisen.die vier Weltweisen

Ich bin ihm vor kurzem zufällig über den Weg gelaufen und war überrascht, wie nahe er in Teilen seines Denkens und seiner Lehre buddhistischem Gedankengut steht. Ich möchte das an ein paar Zitaten deutlich machen.

Selbstdenken heisst, den obersten Probierstein der Wahrheit in sich selbst, das heißt, der eigenen Vernunft zu suchen.

Kalama-Sutta in der Sprache des 18. Jahrhunderts, nicht? Und so äußert sich Kant über das „Selbst“:

Nun haben wir aber in der inneren Anschauung gar nichts Beharrendes, denn das Ich ist nur das Bewußtsein meines Denkens.

Und das kennen wir bis in die wörtliche Formulierung:

Es ist nichts beständig als die Unbeständigkeit.

Hier können wir an das Bild vom kundigen Handwerker denken, das Buddha oft gebraucht, wenn er davon spricht, wie wir uns selbst erziehen sollen:

Zur inneren Freiheit werden zwei Stücke erfordert: seiner selbst in einem gegebenen Falle Meister und über sich selbst Herr zu sein, d. seine Affekte zu zähmen und seine Leidenschaften zu beherrschen.

Was in buddhistischer Terminologie Verblendung heißt, nennt Kant Hochmut:

Der Hochmut […] ist eine Art von Ehrbegierde, nach welcher wir anderen Menschen ansinnen, sich selbst in Vergleichung mit uns gering zu schätzen, und ist also ein der Achtung, worauf jeder Mensch gesetzmäßigen Anspruch machen kann, widerstreitendes Laster.

Dazu passt dieser schöne Satz:

Kein Mensch ist so wichtig, wie er sich nimmt.

Über den Umgang mit anderen Menschen schreibt Kant:

Der Mensch kann nicht gut genug über den Menschen denken.

Und an zwei anderen Stellen:

Ohne Achtung gibt es keine wahre Liebe…Denn das Wohlwollen bleibt immer Pflicht, auch gegen den Menschenhasser, den man freilich nicht lieben, aber ihm doch Gutes erweisen kann.

Auch in der Methodik des Lehrens gibt es Gemeinsamkeiten, vor allem die Technik des mäeutischen Fragens, die Buddha wie auch Sokrates meisterlich angewendet haben. Kant schreibt:

Ich kann einen anderen niemals überzeugen als durch seine eigenen Gedanken.

Dass Kant nicht der knochentrockene Pedant war, als der er heute gewöhnlich dargestellt wird, klingt für mich in diesen Zitaten an:

Das fröhliche Herz allein ist fähig, Wohlgefallen am Guten zu empfinden. Wir dürfen nicht einander lästig werden. Die Welt ist groß genug für uns alle.

Zum Abschluss seine poetische Beschreibung der conditio humana:

Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden.

__Seit langem faszinieren mich Querverbindungen und Weiterentwicklungen bei großen Denkern in Ost und West. Dabei geht es mir nicht darum, ob einer von einem anderem „abhängig“ war oder ist, aber Verwandtschaften, Parallelen, das Sickern von Gedanken auch über große zeitliche und räumliche Abstände hinweg – das ermutigt mich auf der Suche nach meinen eigenen Gedanken. Buddhas Worte, früh in der Menschheitsgeschichte gesprochen und tradiert, nehmen da eine Sonderstellung ein, weil sie bei aller Prägnanz so allgemeingültig sind, dass sie in allen Ländern, wo sie verbreitet wurden, mit der vorhandenen Kultur in Einklang kamen. In einem älteren Artikel2 hat Stephen Batchelor geschrieben:

Westliche Fürsprecher des Buddhismus, beginnend mit Schopenhauer, waren alle beeindruckt von der Vereinbarkeit seiner Lehren mit ihrer eigenen Weltsicht.

Um dieses Thema ein wenig näher zu beleuchten, folgt in einem nächsten Beitrag eine Übersetzung dieses Artikels.

  1. für eine erste Einführung in sein Werk dürfte sich dieses Taschenbuch eignen: Kant-Brevier. Hrsg. von Wilhelm Weischedel. Ein philosophisches Lesebuch für freie Minuten, 1974
  2. Der Artikel findet sich auf Stephens Website http://www.stephenbatchelor.org und trägt den Titel: Buddhism and PostModernity

Die Piazza von Cres

Cres_Main_PiazzaHier, auf der kroatischen Insel in der nördlichen Adria, kann man trefflich gar nichts tun, und darin übe ich mich gerade wieder. Vormittags und abends sind viele Menschen unterwegs. Fußgänger, Radlerinnen und die Fahrer der kleinen Elektrokarren, mit denen Waren geliefert werden, verständigen sich ohne Verkehrszeichen, indem sie einfach aufpassen und langsamer werden. Aus den vielen Stunden, die ich hier schon müßig bei Kaffee oder Eis gesessen bin, kann ich mich an freundliche kurze Grüße, laute Diskussionen oder auch längere, intensive Gespräche erinnern, an Kinder, die den Erwachsenen zwischen den Beinen herumlaufen oder mit Rädern im Kreis fahren, an viel Gelächter, aber an keinen einzigen Streit. Einmal habe ich die Aufführung einer Commedia dell’arte hier miterlebt. Gesprochen wird kroatisch, italienisch, deutsch, englisch und was weiß ich noch alles. Ein paar der vielen Cafes und Restaurants werden vorwiegend von Einheimischen besucht, und in einem Bereich treffen sich Frauen aus der Stadt, von den vielleicht die eine oder andere vorher an den Yogaübungen auf der Hafenmole teilgenommen hat. Es ist ein Wohnzimmer für alle. Was die Menschen tun oder vorhaben, ist leicht zu verstehen: Gemüse, Honig und Olivenöl kaufen oder verkaufen, den Fischfang des Tages ausladen, das Baby spazierenführen, Marktstände fotografieren, mit dem Fahrrad den Einkauf heimbringen, mit der Aktenmappe ins Rathaus gehen oder mit dem Rucksack in die Schule…hastig sind sie nicht, die Leute hier. Bevor ich ganz ins Schwärmen gerate, höre ich jetzt auf. Ich mag auch nicht ergründen, warum es hier bei aller Lebendigkeit so ruhig und freundlich zugeht – schließlich bin ich auf Urlaub. Ein paar Tage werde ich die Piazza von Cres noch genießen, und ausdrücken möchte ich: im Grund braucht es nicht so viel für ein gutes Leben miteinander.

Wie alle Wesen verbunden sind

index…du wirst deutlich sehen, dass in diesem Blatt Papier eine Wolke schwebt. Ohne Wolke gibt es keinen Regen; ohne Regen können die Bäume nicht wachsen, und ohne Bäume können wir kein Papier machen. Für das Papier ist die Wolke unverzichtbar. Wenn die Wolke nicht da ist, kann auch das Blatt Papier nicht da sein… Wenn wir in das Blatt Papier noch tiefer hineinsehen, können wir den Sonnenschein darin sehen. Wenn es keinen Sonnenschein gibt, kann der Baum nicht wachsen. Tatsächlich kann dann nichts wachsen. Auch wir können ohne Sonnenschein nicht wachsen. Wir wissen also, dass auch in diesem Blatt Papier Sonnenschein ist. Das Papier und der Sonnenschein sind untrennbar. Und wenn wir weiter schauen, können wir den Holzarbeiter sehen, der den Baum umgeschnitten und ihn zum Sägewerk gebracht hat, damit er in Papier verwandelt wird. Und wir sehen den Weizen. Der Holzarbeiter kann ohne sein tägliches Brot nicht leben, und daher ist der Weizen, der zu seinem Brot geworden ist, auch in diesem Blatt Papier. Und Vater und Mutter des Holzarbeiters sind auch darin… Du kannst kein einziges Ding herausnehmen, das nicht drinnen ist – Zeit, Raum, die Erde, der Regen, die Minerale in der Erde, der Sonnenschein, die Wolke, der Fluss, die Hitze.

Unsere Projekte

In unserer Wiener säkular-buddhistischen Sangha, die langsam, aber stetig wächst, hat sich in den letzten Monaten ein Rhythmus entwickelt, der sich zu bewähren scheint. Wir treffen uns jede Woche zu gemeinsamer Meditation, die die meisten von uns nur ungern versäumen, wenn sie verhindert sind. Danach sprechen wir im Sinn von Jason Siffs Recollective Awareness über unsere Erfahrungen während des Sitzens und versuchen dabei, unsere Fragen an uns selbst und aneinander laufend zu verfeinern. Ein Fragenkatalog, auf den wir vor kurzem aufmerksam gemacht worden sind, soll uns dabei helfen. Er kann auf der Seite „Meditation“ unter „Recollectice Awareness in der Praxis“ nachgelesen werden. Wir haben begonnen, uns mit Praktizierenden aus anderen Ländern via Skype auszutauschen. Jede zweite Woche lesen wir Texte, die wir reihum nach eigenem Interesse und Gutdünken auswählen; es kommt auch vor, dass Themen dafür im Gespräch auftauchen. Einiges kommt aus dem Pali-Kanon, aber auch aus anderen buddhistischen oder nicht-buddhistischen Quellen; darüber sprechen wir dann in der Gruppe. Diese Texte veröffentlichen wir hier laufend auf der Seite „Was wir lesen“. sangha Wir versuchen, ein entspanntes und dabei konzentriertes Verhältnis zu Lehrerinnen und Lehrern zu pflegen. Lernen ist uns wichtiger als jemandem zu folgen. Laien sind wir alle, und außerdem Dilettantinnen oder auch Amateure im wörtlichen Sinn – die Freude an der gemeinsamen Sache trägt uns.

Wegskizze oder Landkarte
Wie meditieren wir? Und wozu?

Auf diese naheliegenden Fragen, von denen vor allem die zweite schwer zu beantworten ist, sind wir kürzlich – nicht zum ersten Mal – beim Gespräch in unserer Sangha gestoßen. Im Versuch, Nägel mit Köpfen zu machen, wollen wir uns mit der Satipatthana Sutta, der Mutter aller Meditationsanleitungen, beschäftigen. Eine neue deutsche Übersetzung findet ihr auf der Seite „Was wir lesen“. Unser bekannter Gewährsmann Winton Higgins hat sich intensiv mit der Lehrrede auseinandergesetzt; auch damit, wie sie gemeint war und wie sich diese Intention möglicherweise nach Buddhas Lebenszeit verändert hat. Das Ergebnis steht auf der Seite „Meditation“, unter „Der direkte Weg“, ich finde es lesenswert.

Das Selbst ist kein Ding, eher ein Vorgang

Philosophie und Neurowissenschaften haben sich in den letzten Jahren intensiv mit dem „Selbst“ beschäftigt. Zwei Ansätze möchte ich als Beispiele nennen und die Positionen skizzieren.   Julian-Baggini-breaking-the-law-by-knowingly-evading-tax-is-always-immoral-Shrewsbury-AccountantsDer Engländer Julian Baggini bringt in seinem Buch „The Ego Trick“ 1 viele Beispiele dafür, wie sich das, was wir „Selbst“ zu nennen gewohnt sind, im Laufe des Lebens wandelt. Besonders deutlich macht er das anhand der Lebensgeschichten von Menschen, die sich einer Geschlechtsumwandlung unterzogen haben. Als Gewährsmann für die buddhistische Tradition des anatta, des „Nicht-Selbst“, hat er Stephen Batchelor befragt. Dieser beschreibt zuerst atman, einen Begriff, der die Philosophie der Brahmanen zu Buddhas Lebenszeit beherrscht hätte. Damit sei eine Art entpersönlichtes Selbst gemeint gewesen, das sich im Augenblick des Todes mit brahman, dem Göttlichen, vereinige. Und dagegen hätte Buddha sich gewandt; er hätte sich mit der Welt der wahrnehmbaren Erscheinungen beschäftigt und nichts „Absolutes“ über diese hinaus angenommen, sagt Batchelor. Buddha hätte also diese eingeschränkte Sichtweise von „Selbst“ abgelehnt, den Begriff aber im alltäglichen Sinn von dem, wofür wir uns halten, durchaus gebraucht. Batchelor erwähnt in diesem Zusammenhang Vers 80 aus dem Dhammapada 2, in dem der Buddha die Arbeit des Weisen am Selbst mit der Tätigkeit eines kundigen Handwerkers vergleicht – es ist also etwas, das wir schaffen 3. Baggini stellt fest, dass die Vorstellung von „Selbst“, wie sie in den meisten buddhistischen Schulen entwickelt wurde, mit den neuesten Erkenntnissen der Neurowissenschaften übereinstimme. Er vertritt die Position, dass das Selbst keine Illusion sei, wohl aber die Vorstellung von seiner unveränderlichen, unsterblichen Essenz. Was ohne dieses übrigbleibe, seien – in buddhistischer Terminologie – die fünf Daseinsfaktoren oder Skandhas: Körper, Gefühle, Wahrnehmungen, Geistesformationen 4 und Bewusstsein. wolkeBaggini vergleicht das Selbst mit einer Wolke: von weitem gesehen sehe es wie ein Objekt mit ziemlich klaren Konturen aus, doch je näher man komme, desto unschärfer werde es, bis man schließlich wahrnehme, dass es eine Ansammlung von Wassertropfen sei. Diese Realität zu kennen bedeute nicht, dass es deshalb anders aussehe oder sich anders anfühle. coque iphone 8 Mechanismen in unserem Bewusstsein ließen uns glauben, wir wären beständiger, als wir tatsächlich sind. Wir machten uns Illusionen darüber, was wir in Wirklichkeit sind.

thomas metzingerAuch der deutsche Philosoph und Bewusstseinsforscher Thomas Metzinger beschäftigt sich seit Jahren mit dem Begriff des „Selbst“ und hat dazu zahlreiche Veröffentlichungen vorgelegt. 5

Metzinger sagt: es gibt kein Ding, das „das“ Selbst ist. Was wir früher „das“ Selbst genannt haben, ist ein undurchschaubares und vergängliches Gewirr von Vorgängen, und nichts anderes macht uns Menschen eigentlich aus.

Er spricht von einem „Selbstmodell“ im menschlichen Gehirn, einer begrifflichen Hilfskonstuktion, die wir aber nicht als solche erfahren könnten. Daher hielten wir Menschen daran fest, so etwas wie einen „harten Kern“ zu haben. Wir hätten das Gefühl eines Selbst, aber das gehöre nur zu einem vom Gehirn erzeugten Modell. Zu uns gehöre der Körper, ein Volumen im Raum und eine Abgrenzung nach außen. Das Grundgefühl, das uns das Gehirn manchmal vermittle, sei: jemand zu sein. Da sei aber nichts Dauerhaftes, keine Seele oder Ähnliches, wie wir es uns immer vorstellten. Es sei eher eine Art vorübergehende Simulation. Im traumlosen Tiefschlaf zum Beispiel gebe es das nicht.

Metzinger nennt seine Grundidee einfach, bescheiden und ziemlich konservativ: Im philosophischen Denken sei die Annahme einer eigenständigen Einheit „Selbst“ verzichtbar, und das werde durch neue Forschungen der Neuro- und Kognitionswissenschaften bestätigt, wie er mit experimentellen Beispielen belegt. Sein Anliegen sei, auf begrifflicher Ebene die notwendigen und hinreichenden Bedingungen dafür herauszuarbeiten, dass in einem informationsverarbeitenden System – unserem Gehirn – ein Ich-Gefühl entsteht.

Er nennt das „Selbstmodell“ ein faszinierendes und hochkomplexes Gebilde, das in vielen wichtigen Schichten erst von außen erzeugt werde. Unsere Ich-Erfahrung werde intensiv beeinflusst von Gesellschaft und Kultur, in der wir leben. Deren Einflüsse nähmen wir in unsere gedachte Persönlichkeit auf, in unser Bild von uns selbst. Auf die Frage eines Interviewers, welchem Zweck diese Hilfskonstruktion „Selbstmodell“ diene, antwortet Metzinger:

…Offenbar hat uns ein Hang zum Wahn in der Evolution erfolgreicher gemacht. Selbsttäuschung lässt uns besser bluffen und vergangene Niederlagen vergessen, sie erhöht Motivation und Selbstvertrauen. Genauso scheint es vorteilhaft zu sein, unbeirrbar an die eigene Unsterblichkeit zu glauben – oder eben das Selbst als Ding und nicht als Vorgang anzusehen.

Es gebe dabei jedoch einen großen Nachteil:

…dass wir unter diesem Selbstmodell oft sehr leiden. Eigentlich ist es eine ziemlich perfide Erfindung von Mutter Natur. Denken Sie nur daran, wie verletzlich wir doch sind. Ständig versuchen wir, unser Selbstwertgefühl hochzuhalten, etwa in dem wir anderen die Anerkennung verweigern. Und es nutzt wenig, sich mit dem Verstand davon zu distanzieren: Sobald wir glauben, dass ein anderer Mensch uns missachtet, sind wir verletzt, wir verteidigen uns fast automatisch…

Für mein alltägliches Leben sehe ich keinen Anlass, mich zwischen der Einsicht relativer oder absoluter Überschätzung meines Selbst entscheiden zu müssen. Wichtiger scheint mir: wie lässt sich dieser Fiktion vom „harten Kern“, der irgendwo in mir verborgen sei, beikommen zugunsten des Bilds von Vorgängen in diesem Körper, der sich unaufhörlich verändert? Ein paar Anregungen dazu folgen im nächsten Eintrag.

  1. Die Originalausgabe erschien 2012. Auf https://www.youtube.com/watch?v=Q80MfH7xPPE steht ein kurzer, informativer Talk von Baggini darüber – mit deutschen Untertiteln
  2. Das Dhammapada ist eine Sammlung von Aussprüchen des Buddha, in denen Wichtiges aus seiner Lehre zusammengefasst ist
  3. s. den Blog-Eintrag „Stephen Batchelor über das Selbst“ auf dieser Website
  4. damit sind, vereinfacht gesagt, positive und negative Willensäußerungen wie Interessen, Sehnsüchte und Absichten gemeint
  5. Auch unter Nicht-Philosophen bekannt geworden ist sein Buch: Der Ego-Tunnel. Eine neue Philosophie des Selbst: Von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik. coque iphone Zusammenfassungen seiner Thesen finden sich in Interviews, z. B. in: http://www.zeit.de/campus/2012/02/sprechstunde-thomas-metzinger, in: http://www.heise.de/tp/artikel/36/36357/1.html und in diesem Video auf YouTube: https://www.youtube.com/watch?v=xLXhPgSKS3U.