Carpe Diem

horaz Tu ne quaesieris, scire nefas, quem mihi, quem tibi, finem di dederint, Leuconoe, nec Babylonios temptaris numeros. ut melius, quidquid erit, pati. seu pluris hiemes seu tribuit Juppiter ultimam, quae nunc oppositis debilitat pumicibus mare Tyrrhenum: sapias, vina liques, et spatio brevi spem longam reseces. dum loquimur, fugerit invida aetas: carpe diem quam minimum credula postero.

Horaz1

Welches Ende das Schicksal dir und mir bringen wird,

sollst du nicht erforschen, und nicht Orakel darüber befragen.

Das zu wissen steht dir nicht zu.
Besser ist es, hinzunehmen, was immer auch kommen wird
sei es, dass uns noch mehr Winter zugeteilt sind,
sei es, dass dieser als unser letzter das Meer an die Felsen stürmen lässt:
Lebe bewusst, kläre den Wein,
und beschränk‘ deine auf Dauer gerichtete Hoffnung auf eine kurze Frist
Leider schwindet Lebenszeit, noch während wir sprechen:
Nutze den Tag und verlass‘ dich so wenig wie möglich auf den nächsten.
 frei übersetzt von Evamaria Glatz
  1. der römische Dichter Quintus Horatius Flaccus lebte im 1. Jahrhundert v.u.Z, dieses berühmte Gedicht steht im ersten Buch seiner Oden

Über berechnende und meditative Haltung:
von Stephen Batchelor

faith to doubtFragen 1 Es ist höchst ungewöhnlich, dass wir imstande sind, Fragen zu stellen. Zu fragen bedeutet ja einzugestehen, dass wir etwas nicht wissen. Und es ist mehr als ein Eingeständnis: es bedeutet, dass einen danach verlangt, sich etwas Unbekanntem zu stellen und es durch Verstehen zu erhellen. Fragen zu stellen bedeutet, nach etwas zu streben. Es macht einen ersten Schritt ins Dunkle und fährt dann fort, sich einen Weg vom Unwissen in Richtung Klarheit zu bahnen, von Verwirrung zum Wiedererkennen, von Fremdheit zur Vertrautheit. Es erzeugt den ersten Riss im Schleier des Unbekannten. Fragen zu stellen schafft eine Öffnung, durch die das Licht der Weisheit scheinen und eindringen kann. Es offenbart gleichzeitig unsere Beschränkungen und unseren Drang, sie zu überwinden. Berechnende Haltung Es gibt zwei unterschiedliche Weisen des Fragens. Die gebräuchliche Art ist jene, die die Probleme löst, die uns im Alltagsleben begegnen. Wenn etwas nicht so funktioniert, wie wir das erwarten, fragen wir uns, warum und beginnen, die Ursachen für den Misserfolg zu suchen. Wenn wir auf etwas stoßen, dem wir noch nie begegnet sind, sind wir verwirrt und fragen uns, was los ist. Diese Art von Fragen entsteht aus Neugier. Normalerweise vertrauen wir darauf, dass eine Antwort in unserer Reichweite liegt; es geht nur darum, das herauszufinden. Wir können alle praktischen Fähigkeiten anwenden, die wir erlernt haben, dazu auch die Kräfte unserer Vernunft und unserer Erinnerung, und uns auf die stetig wachsende Menge von Wissen verlassen, die durch andere gesammelt und gespeichert worden ist. Diese Art des Fragens führt auf einen bestimmten Weg. Wir bestimmen, welche Möglichkeiten vor uns liegen, wir schließen auf größere Wahrscheinlichkeiten. Wir eliminieren bestimmte Wahlmöglichkeiten durch Versuch und Irrtum oder durch einfaches Schlussfolgern. Nach jedem Schritt, den wir erledigt haben, berechnen wir unseren nächsten Zug, bis das Problem schließlich gelöst und unsere Neugier durch die Befriedigung, zu wissen, ersetzt ist. Dieser berechnende Zugang ist in unserer Gegenwart immer dominanter geworden. Die Fortschritte wissenschaftlicher Forschung und Technologie sind dadurch möglich geworden, dass die Möglichkeiten von Berechnung und deren Anwendungen perfektioniert worden sind. Da unsere Welt immer stärker von technischen Errungenschaften dominiert wird und wir zunehmend abhängig von ihnen werden, wird die Rolle, die eine berechnende Haltung in unserem Leben einnimmt, immer bedeutender. heideggerAber es gibt eine andere Art, zu fragen und zu denken. In einer 1955 gehaltenen Rede hat Martin Heidegger das klar zusammengefasst 2:

Berechnendes Denken kalkuliert. Es berechnet immer neuere, immer vielversprechendere und gleichzeitig ökonomischere Möglichkeiten, es hetzt von einer Perspektive zur nächsten. Berechnendes Denken hält niemals inne, sammelt sich nie. Berechnendes Denken ist nicht meditatives Denken, das den Sinn all dessen beherrscht, was ist.

Heidegger hält berechnendes Denken für insofern gefährlich, als es

…eines Tages als die einzige Art des Denkens akzeptiert und praktiziert werden könnte…dann hätte der Mensch seine eigene Natur als meditatives Wesen geleugnet und weggeworfen…Es geht also darum, die eigentliche Natur des Menschen zu retten, also darum, meditatives Denken am Leben zu erhalten.

Viele Leute halten einen meditativen Zugang zum Leben für weltfern und realitätsfremd. Er gehöre in die Provinz der Mystik und der Philosophen. Unabhängig davon, wie tiefsinnig er auch zu sein scheine, habe er keinen Einfluss auf den Verlauf aktueller Ereignisse. Die Tatsache, dass Meditation oft kritisch oder gar zynisch gesehen wird, zeigt nur noch mehr, in welchem Maße sich heute berechnende Haltung in den Köpfen der Menschen durchsetzt und ihre Bewertungsstandards prägt. Diese unsere Welt, zur Zeit wie wahnsinnig vom Dämon der Berechnung getrieben, entledigt sich spiritueller Werte und rast in eine gefahrvolle Zukunft. Wäre es da nicht an der Zeit, genauer zu erwägen, wie unsere Haltungen sich darauf auswirken, wie unser Leben sich entfaltet? Berechnende Haltung neigt dazu, manipulativ zu sein. Sie geht mit dem Leben so um, als wäre es aus einer so gut wie unendlichen Anzahl voneinander getrennter Teile zusammengesetzt. Diese Einstellung wirkt nicht nur im Bereich des Materiellen; sie betrifft unsere Sicht auf andere Leute und auch auf uns selbst. coque iphone Sie fragmentiert und trennt, sie macht lebende Wesen zu Dingen. Um effektiv berechnen zu können, müssen wir unsere Objekte mit jener Präzision vermessen, die für das endgültige Ziel, sie erfolgreich zu manipulieren, erforderlich ist. Um die verschiedenartigen Elemente der Wirklichkeit zu kontrollieren, müssen wir sie als getrennte Einheiten sehen, die zerlegt und angehäuft, verworfen und erlangt werden können. Die Fähigkeit, genau zu berechnen, ist an sich nicht schädlich. Sie verzerrt und verblendet nur dann, wenn ihre Bedeutung so übertrieben wird, dass sie nicht als eine Möglichkeit unter anderen gesehen wird, sondern ihren Schatten über fast alle Bereiche menschlicher Aktivität wirft. Solange Berechnung nicht überschätzt wird, kann sie als hilfreiches Werkzeug dienen, mit dem viele praktische Aufgaben bewältigt werden können. Aber sie ist eindeutig gefährlich, wenn sie zu unserer vorherrschenden Haltung dem Leben als Ganzem gegenüber wird. Wenn unsere Sicht auf die Zukunft und unsere moralischen Entscheidungen nur von berechnender Haltung bestimmt sind, dann sind wir ernsthaft in Gefahr, unsere unsichere Position bei der Suche nach gelassenerem, kontemplativerem Umgang mit dem Leben ganz zu verlieren. Berechnende Haltung kann unsere Probleme lösen, ist aber ohnmächtig wenn es darum geht, unsere Geheimnisse zu durchdringen. Dem Geheimnisvollen gegenüber können wir uns nicht auf logische oder technische Mittel verlassen, um Einsicht zu erlangen. Denn wenn wir versuchen, ein Geheimnis zu durchdenken, verliert es seine Natur und wird zu einem einfachen Problem. Je allgegenwärtiger Berechnung in unserem Leben wird, desto mehr wird das Geheimnisvolle verdrängt. Und wenn das Gefühl für das Geheimnis des Lebens matt und vage wird, nimmt unsere Fähigkeit zu meditieren ab, bis zu dem Punkt, an dem Meditation in die Randbereiche der Existenz verbannt wird. Aber das Geheimnisvolle liegt im Herzen unseres Lebens, nicht an der Peripherie. Und seine Gegenwart können wir nur spüren, wenn eine meditative Haltung in uns noch lebendig ist. Anders als ein Problem kann ein Geheimnis nie gelöst, sondern nur durchdrungen werden. Ein Problem, das einmal gelöst ist, hört auf, ein Problem zu sein; aber die Durchdringung eines Geheimnisses macht es um nichts weniger geheimnisvoll. Je vertrauter man mit einem Geheimnis ist, desto stärker strahlt die Aura seines Mysteriums. Die Steigerung eines Geheimnisses führt nicht zu Frustration (wie das bei einem Problem der Fall ist), sondern zu Befreiung. Meditative Haltung

Meditation wird weithin als eine Art spezialisierter Tätigkeit wahrgenommen. Sie wird als ein Mittel zur Beruhigung und Konzentration des Geistes angesehen, als Allheilmittel für Angst, Unruhe und Spannung. In der herrschenden Obsession für Berechenbarkeit wird sie bezeichnenderweise als eine Technik betrachtet, als eine systematische Anwendung einer Reihe vorgefasster Konzepte. Aber obwohl Richtlinien genannt werden können, gibt es schließlich kein „Wie“ für die Meditation. Bestimmte Übungen und Fähigkeiten können förderlicher für die Meditation sein als andere, aber am Ende ist eine meditative Haltung nicht etwas, was wir jemals erwerben können.

Meditative Haltung ist nichts Neues oder Fremdes. Sie wohnt tief in uns allen; nur ist sie heute ein Gebiet, das zunehmend brach liegt und ignoriert wird. Sie ist nicht etwas, das wir von irgendwo her bringen und in unser Leben einführen müssen. In einer embryonalen und sporadischen Weise ist sie bereits gegenwärtig. Sie kann in Bildern und Hinweisen unerwartet zu uns kommen. Sie wird vage als eine ferne, kaum bekannte Möglichkeit wahrgenommen, wie die Fragmente eines Traums, an den wir uns nicht erinnern können, der uns aber auch nicht in Ruhe lässt. Wir müssen ihre Fragilität erkennen und dann für sie sorgen und sie pflegen, wie wir es bei einem Kind oder einem Keimling tun würden.

Meditation fügt dem Leben nichts hinzu; sie stellt wieder her, was verloren gegangen ist. Sie bedeutet wachsende Aufmerksamkeit dafür, was unsere Existenz aussagt und von uns verlangt. Sie ist etwas Grundlegendes, das durch unsere Verblendung über ein gesondertes Ego und durch unsere endlosen Berechnungen und Melodramen vernebelt wurde. Die Praxis der Meditation liegt darin, diese Haltung durchscheinen zu lassen und uns langsam, oder auch abrupt, damit vertraut zu machen, was sowohl unser Ursprung als auch unser Höhepunkt ist.

Meditation und Geheimnis sind untrennbar. Ebenso wie das Geheimnisvolle nicht durch Berechnung enträtselt werden kann, kann eine meditative Haltung nicht erworben werden, als ob sie eine technische Fähigkeit wäre. Meditation findet statt, wenn unsere innerste Aufmerksamkeit auf die schockierende Nähe und dennoch schwer fassbare Distanz dessen, was vorhanden ist, gerichtet wird.

Die Praxis der Meditation ist ein Prozess der Zermürbung. Der Geist hat eine anscheinend unendliche Kapazität für Geschwätz. Und es gibt kein schnelles oder einfaches Heilmittel für diese Wucherungen von Gedanken und Emotionen. Nur die geduldige Kontinuität der Meditation kann sie schließlich zur Ruhe bringen. Wasser, das geduldig, ohne Eile, aber andauernd fließt, kann den beständigsten und hartnäckigsten Felsen abtragen.

Meditation ist den Tälern näher als den Gipfeln. Meditative Haltung haftet nicht an den Spitzenerfahrungen, diesen berauschenden Höhen der spirituellen Erfahrung, die die Täler und Ebenen weit unter sich lassen. Die dünne und blendende Atmosphäre der Gipfel kann uns erheben und inspirieren, aber wir können dort nicht lange leben. Lebewesen wachsen nicht auf den Gipfeln; sie brauchen den fruchtbaren Boden des Tales. Damit Meditation fruchtbar ist, muss sie nahe am Boden bleiben, um inmitten der unzähligen Details des täglichen Lebens den bescheidenen Wegen die Täler entlang zu folgen.

Meditative Haltung ist eine kreative Haltung. Lediglich die Techniken der Malerei zu meistern reicht nicht aus, um ein Kunstwerk zu schaffen. Das Kunstwerk, sei es ein Gemälde, ein Gedicht oder ein Musikstück, braucht mehr als nur technische Meisterschaft. Ebenso reicht das Beherrschen der Techniken der Meditation allein nicht aus, Einsicht zu schaffen. Einsicht, Weisheit, Mitgefühl und Liebe kommen alle aus einer anderen Quelle als der technischen Meisterschaft. Der Meditierende ist vergleichbar mit einem Künstler, der sein Handwerk beherrscht: ein Könner, der Liebe und Weisheit schafft.

Nicht-Wissen, Abwarten und Zuhören

Der Kern meditativer Haltung besteht darin, sich selbst in Frage zu stellen. Solche Befragung hat allerdings nichts mit der Neugier der Berechnung zu tun. Meditative Befragung fragt nach keinem unterscheidbaren individuellen Detail des Lebens, sondern nach dem Ganzen. Das Geheimnis des Lebens ist etwas, in das wir untrennbar eingebunden sind. Im Gegensatz zu einer berechnenden Frage, wo die Frage vom Problem getrennt ist, kann zwischen dem Meditierenden und dem Geheimnis nur eine begriffliche Unterscheidung gemacht werden. Meditatives Fragen nimmt an der Natur des Geheimnisses selbst teil. Es ist eine Art von grundlegendem Erstaunen oder von Verblüffung, die das reflektiert, was sich gleichzeitig zeigt und entzieht. Der französische Philosoph und Künstler Gabriel Marcel bemerkt 3:

Ein Problem ist etwas, auf das ich treffe, das ich vollständig vor mir vorfinde, das ich daher belagern und reduzieren kann. Aber ein Geheimnis ist etwas, in das ich eingebunden bin, und es kann daher nur als eine Sphäre gedacht werden, in der die Unterscheidung zwischen dem, was in mir ist und was vor mir ist, ihre Bedeutung und ursprüngliche Gültigkeit verliert. Ein bloßes Problem braucht eine geeignete Technik, durch deren Anwendung es definiert ist: dem gegenüber transzendiert ein Geheimnis definitionsgemäß alle vorstellbare Technik.

Die Konsequenz dieser Unterscheidung wird in dieser Zen-Maxime bestätigt:

Große Zweifel : großes Erwachen. Wenig Zweifel : kleines Erwachen. Kein Zweifel : kein Erwachen

Diese knappen Zeilen drücken aus, wie die Durchdringung des Geheimnisvollen direkt mit dem Ausmaß und der Intensität des Fragens zusammenhängt. Zweifel oder In-Frage-Stellen werden als unverzichtbare Schlüssel zum Erwachen gesehen. Die treibende Lebenskraft einer meditativen Haltung erhöht den Sinn für das Geheimnisvolle bis zu dem Punkt, an dem sich unerwartet offenbart, was bis dahin nicht vorhergesehen und unvermutet geblieben war.

Es gibt eine Art von Nicht-Wissen im meditativen Fragen, die sich sehr von der buddhistischen Vorstellung von Unwissenheit unterscheidet. Der Begriff der Unwissenheit umfasst nicht nur die Abwesenheit von Wissen über etwas, sondern auch dessen Verzerrung. In Unwissenheit erscheinen die Dinge in einer Weise, in der sie nicht existieren. Es ist auch ein Festhalten und Anhaften dabei, das die Verzerrung verstärkt und sie als etwas Reales und Sicheres darstellt. Meditatives Nicht-Wissen ist frei von dieser Art von Festhalten und Verzerrung. Statt festzuhalten, lässt es los. Statt darauf zu bestehen, dass die Dinge in einer bestimmten Weise existieren, akzeptiert es ihre Rätselhaftigkeit. Solches Nicht-Wissen lockert unser Festhalten daran, dass das Vertraute unveränderlich sei. Es ist einfach und entspannt; es behält eine naive, kindliche Offenheit.

In diesen Zustand des Nicht-Wissens können wir auf verschiedene Arten gelangen. Für manche entsteht er als endgültige Akzeptanz der Unzuständigkeit von Logik und Vernunft beim Umgang mit bestimmten überwältigenden Fragen. Es ist wie die spürbare Stille nach dem Zusammenbruch eines Apparats, der bis an seine Grenzen belastet wurde. Die Anerkennung des „Ich weiß nicht“ bedeutet am Ende nicht Versagen oder Schande, sondern Befreiung. Mitten in der Ruhe dieses neu entdeckten Nicht-Wissens gibt es die Andeutung einer tieferen und umfassenderen Weisheit. Dieses Nicht-Wissen ist in der Lage – zuerst vielleicht nur schwach – ,die Regungen des meditativen Bewusstseins zu spüren.

Berechnung, auf der anderen Seite, weigert sich, sich dem Nicht-Wissen zu stellen. Das Nicht-Wissen, das eine solche Fragehaltung in Gang setzt, wird als Herausforderung empfunden, die es zu überwinden und zu beseitigen gilt. Berechnung ist stolz auf Wissen. Um erfolgreich zu sein, muss man sich auf das, was bekannt ist, verlassen, um das, was in einem Problem unbekannt ist, zu beseitigen. Was nicht bekannt ist, wird als eine unangenehme Lücke im Bereich des Wissens sowie als unverzichtbarer Impuls für weiteres Verständnis betrachtet. Nicht-Wissen ist der Feind berechnender Haltung, auch wenn es gleichzeitig das ist, was ihr Fortschritte möglich macht. Berechnung, als Anstrengung gegen das Nicht-Wissen, ist nie einfach oder locker; sie ist nicht in der Lage das, was sie in Bewegung gesetzt hat, wieder zur Ruhe zu bringen.

Meditative Haltung ist bereit, ewig zu warten. Von jedem Anspruch auf Wissen befreit, wird nicht erwartet, dass irgendetwas besonderes geschieht. Solches Warten begnügt sich damit, die Dinge sein zu lassen und gleichzeitig anzuerkennen, dass es, im Geheimnis verborgen, etwas Unbekanntes gibt. Das, was verhüllt ist, kann nicht hervor gelockt werden. Es hat seine eigene Zeit jenseits der Zeit des Erinnern und Antizipierens. Warten wartet; es ist in jedem Moment wachsam, hat aber keine Erwartungen.

Erwartung ist charakteristisch für Berechnung. Unsere Berechnungen sind nur in der Lage, Fortschritte zu machen, so lange wir ein bestimmtes Ergebnis vorhersehen können. Wenn wir von einem solchen Verfahren nichts erwarten könnten (auch wenn es nur der Beweis ist, dass unsere Hypothese fehlerhaft ist), dann hätten wir keinen Anreiz, es anzuwenden. Berechnung ist zielorientiert; jeder Schritt, den sie tut, wird in Erwartung irgendeines Ergebnisses gemacht. Erwartung bezieht ihre Nahrung aus der Vergangenheit. Aus all unseren Erinnerungen setzt sie Stücke zu einem Bild des Erwünschten zusammen und projiziert es dann in die Zukunft als vorweggenommenes Ziel. Indem wir etwas erwarten, entwerfen wir eine Brücke zwischen der Vergangenheit und der Zukunft, die nur in unseren Gedanken existiert.

Es ist verhängnisvoll, in der Meditation Erwartungen zu nähren. Sobald wir in unserem Geist ein Bild dessen festlegen, was wir anstreben, beschränken wir uns auf das, was innerhalb bekannter Bereiche liegt. Die einzigen Einsichten, die wir je hervorbringen können, sind dann dem Pool von Eindrücken, Ideen, Symbolen und Erfahrungen entnommen, die wir in unserem Gedächtnis gespeichert haben. Auch edle Ideen wie „Erwachen“ und „Buddha“ sind schließlich nichts anderes als Collagen vergangener Eindrücke, von Logik und Phantasie zusammengeklebt. Solche Bilder können uns als hilfreiche Wegweiser auf dem Pfad leiten, es sollte ihnen aber nie erlaubt werden, bei unserer meditativen Durchdringung des Geheimnisvollen dazwischen zu treten. Wenn sie – oder irgend ein anderes Bild von einem Ziel – das Unvorhersehbare und Unbekannte ahnen lassen wollen, wird Meditation in die Falle von Denken, Gedächtnis und Vorstellungskraft geraten und von ihrem Geheimnis getrennt werden.

Eine der größten Gefahren von allen liegt in der Erinnerung an unsere eigenen Erfahrungen in der Meditation. Es ist nicht so ungewöhnlich, während der Meditation zu etwas Außergewöhnlichem und Beispiellosem zu erwachen. Aber je ungewöhnlicher und mystischer die Erfahrung ist, desto größer wird die Gefahr. Denn sobald die unmittelbare Erfahrung verblasst ist, werden wir versucht sein, uns ein Bild von ihr zu schaffen und uns dann bemühen, es wieder einzufangen. Sobald dies geschieht und wir getrost unter der Illusion weitermachen, dass das Unberechenbare von jetzt an unseren gut begründeten Erwartungen entsprechen wird, geht die eigentliche meditative Fragehaltung verloren. Anfängerinnen und Anfänger haben hier einen großen Vorteil gegenüber erfahrenen Meditierenden.

Wir sollten einfach warten, ohne Idee oder Bild von dem, was passieren könnte. Auch noch so viel Erfahrung kann die Art, in der das Geheimnisvolle sich entfaltet, nicht vorhersagen. Beim Warten, wie auch beim Nicht-Wissen, können wir nicht auf unsere Speicher angesammelten Wissen zurückgreifen. Aber indem wir sie hinter uns lassen, treten wir nicht in einen Zustand blanker Indifferenz ein, sondern in eine lebendige, unvoreingenommene Fragehaltung.

Wenn man eine Analogie zu sinnlichem Bewusstsein heranzieht: eine meditative Haltung hört mehr, als sie sieht. Zuhören ist empfänglicher als Sehen. Indem wir unsere Ohren einstimmen, schärfen wir unsere Aufmerksamkeit, so dass sie sich für die unermessliche und subtile Menge von Tönen öffnet, die uns ständig umgeben und bestürmen. Selbst wenn wir auswählen und uns auf einen bestimmten Klang konzentrieren, tun wir dies so, dass dem Klang leichterer Zugang zu uns ermöglicht wird. Sehen hingegen ist oft durch Verengung der Aufmerksamkeit und eine fast zielorientierte Fokussierung auf das Objekt gekennzeichnet. Es ist nicht so, dass der Form des Objekts erlaubt wird in das Bewusstsein einzudringen; eher ist es so, dass wir es ergreifen und durchdringen.

Meditatives Bewusstsein hört. Es ist offen für alles mögliche, da unsere Ohren empfindsam sind für die allgegenwärtige Symphonie aus Klang und Stille, die uns umgibt. Warum sollten wir in der Einfachheit des Wartens nicht eher auf den Tritt des Geheimnisvollen hören als nach einem visionären Zeichen Ausschau halten?

The_Bodhisattva_AvalokiteshvaraDem Hören wird in vielen Traditionen zugesprochen, Symbol für Weisheit zu sein. In der sumerischen Sprache zum Beispiel wird dasselbe Wort für Ohr und Weisheit verwendet. An einem Punkt in der Shurangama Sutra 4 bittet der Buddha die anwesenden Bodhisattvas und Arhats 5 über die wirkungsvollste Methode zur Realisierung von Erwachen zu sprechen. Avalokiteshvara antwortet:

Da Buddha nun nach dem besten Mittel zur Vollkommenheit fragt: meine Methode ist, durch die Regulierung des Gehörorgans den Geist für den Einstieg in den Strom der Meditation zu beruhigen, was zum Zustand des Samadhi und dem Erreichen der Erleuchtung führt: sie ist die beste.

In einer späteren Passage aus der selben Lehrrede erklärt der Bodhisattva Manjushri, was gemeint ist:

Wenn man in der Stille wohnt, hört man das Rühren von Trommeln aus zehn Richtungen gleichzeitig. Hören ist also vollkommen und perfekt. Die Augen können ein Bild nicht durchdringen, auch Mund oder Nase können das nicht. Der Körper fühlt nur, wenn er berührt wird, die Gedanken des Geistes sind verwirrt und unverbunden. Aber der Ton, ob nah oder fern, ist zu allen Zeiten zu hören. Die fünf anderen Organe sind nicht perfekt, aber das Hören ist wirklich allgegenwärtig.

  1. Das Buch „The Faith to doubt“, von dem es keine deutsche Übersetzung gibt, ist Ergebnis von Stephen Batchelors intensiver Auseinandersetzung mit dem koreanischen Zen-Buddhismus, wie er von Kusan Sunim gelehrt wurde. In der Meditation spielt dabei die Haltung des Fragens eine zentrale Rolle. Das Buch, das schon vor längerer Zeit veröffentlicht wurde, hat nichts an Aktualität verloren. Konrad Mohrmann hat uns darauf aufmerksam gemacht und eine zentrale Passage, das 4. Kapitel „Questioning“, pp. 37-49, vorübersetzt. Leicht gekürzt und überarbeitet wurde der Text von Evamaria Glatz
  2. aus: Martin Heidegger: Gelassenheit, von Batchelor aus der englischen Übersetzung von John M. Anderson und E. Hans Freund zitiert, pp. 45ff.
  3. Gabriel Marcel, „Etre et avoir“, 1935, von Stephen Batchelor aus der englischen Übersetzung „Being and Having“, p.117, zitiert
  4. http://www.buddhanet.net/pdf_file/surangama.pdf, in englischer Sprache
  5. Bodhisattvas und Arhats sind, sehr vereinfacht gesprochen, weit fortgeschrittene Praktizierende, s.: http://de.wikipedia.org/wiki/Bodhisattva und http://de.wikipedia.org/wiki/Arhat

Der Ochse und sein Hirte
Ein buddhistischer Cartoon, mehr als 800 Jahre alt

Diese Bilderserie, die den spirituellen Weg des Übenden illustriert, entstand schon im 12. Jahrhundert in China; spätere Fassungen waren besonders in Japan beliebt 1. Mir scheint, sie passt gut beim Nachdenken über das Selbst 2.

Die Suche nach dem Ochsen

Die Suche nach dem Ochsen

Ich suche die nicht alternde, nicht krankende, todlose, kummerfreie, unbefleckte höchste Sicherheit vor dem Gefesseltsein, Nibbāna, weil ich selbst dem Altern, der Krankheit, dem Tode, dem Kummer und der Befleckung unterworfen bin und die Gefahr in dem, was dem Altern, der Krankheit, dem Tode, dem Kummer und der Befleckung unterworfen ist, erkannt habe.
Ariyapariyesanā Sutta, Majjhima Nikāya 26

Das Finden der Ochsenspur

Das Finden der Ochsenspur

Der einzige Weg, ihr Mönche, zur Läuterung der Wesen, zur Überwindung von Kummer und Klage, zum Schwinden von Schmerz und Trübsal, zur Gewinnung der rechten Methode, zur Verwirklichung des Nibbāna, sind die vier Grundlagen der Achtsamkeit. Welche sind das? Da weilt, o Mönche, einer beim Körper in Betrachtung des Körpers, eifrig, in klarem Bewusstsein und achtsam, nach Überwindung von Begierde und Trübsal der Welt gegenüber; er weilt bei den Gefühlen in Betrachtung der Gefühle, eifrig, in klarem Bewusstsein und achtsam, nach Überwindung von Begierde und Trübsal der Welt gegenüber; er weilt beim Geist in Betrachtung des Geistes, eifrig, in klarem Bewusstsein und achtsam, nach Überwindung von Begierde und Trübsal der Welt gegenüber; er weilt bei den Geistobjekten in Betrachtung der Geistobjekte, eifrig, in klarem Bewusstsein und achtsam, nach Überwindung von Begierde und Trübsal der Welt gegenüber.
Satipatthana Sutta, Majjhima Nikaya 10

Das Finden des Ochsen

Das Finden des Ochsen

Mönche, ich kenne nichts, das so schwer zu handhaben ist wie der ungezähmte Geist. Der ungezähmte Geist ist in der Tat sehr schwer zu handhaben. Mönche, ich kenne nichts, das so leicht zu handhaben ist, wie der gezähmte Geist. Der gezähmte Geist ist in der Tat sehr leicht zu handhaben. Mönche, ich kenne nichts, das zu so großem Verlust führt, wie der ungezähmte Geist.  Der ungezähmte Geist führt in der Tat sehr zu großem Verlust. Mönche, ich kenne nichts, das zu so großem Gewinn führt, wie der gezähmte Geist. Der gezähmte Geist führt in der Tat sehr zu großem Gewinn. Mönche, ich kenne nichts, das solches Leid bringt, wie der ungezähmte, unkontrollierte, ungehütete und unbeherrschte Geist. Solch ein Geist bringt in der Tat großes Leid.  Mönche, ich kenne nichts, das solches Glück bringt, wie der gezähmte, kontrollierte, gehütete und beherrschte Geist Solch ein Geist bringt in der Tat großes Glück.
Adanta Suttas, Anguttara Nikaya 1.31-1.40

Das Fangen des Ochsen

Das Fangen des Ochsen

Ein Übender sagt sich: Vielleicht lässt sich das Ende von Leiden und Stress erreichen. Nun, wenn ich dieselben Sinnesvergnügen suchen würde, die ich abgeworfen habe, als ich mich auf den Weg machte, oder gar noch schlimmere, wäre dies nicht passend für mich. So überlegt er: Meine Beharrlichkeit soll wach sein und nicht lässig; meine Achtsamkeit gefestigt und nicht verwirrt; mein Körper beruhigt und nicht aufgeregt; mein Geist zentriert und geeint. Er lässt sich von der Sorge für sich selbst leiten, legt still, was unangemessen ist, entwickelt, was angemessen ist, legt still, was des Tadels würdig, entwickelt, was tadellos ist und bemüht sich um sich selbst in einer reinen Art.
Adhipateyya Sutta— Anguttara Nikaya 3.40

Das Zähmen des Ochsen

Das Zähmen des Ochsen

Wie ein Bauer sein Feld bewässert, wie ein Pfeilmacher einen Pfeil formt, wie ein Tischler ein Stück Holz bearbeitet, so übt der Weise das Selbst.
Dhammapada 80

Die Heimkehr auf dem Rücken des Ochsen

Die Heimkehr auf dem Rücken des Ochsen

Ich mache nichts den ganzen Tag lang ...   aber genieße Glück und Freude jenseits von Worten und jenseits von Vergleich. Doch keiner kann hier klagen, dieses besondere Glück wäre unerreichbar. Denn ich spreche lediglich von dem, was man gerade tut ...   Einer zu sein, der "den ganzen Tag lang nichts" macht, und damit den ganzen Tag lang gut durchzukommen, ist so wunderbar freudvoll ... Worauf es dabei alleine ankommt, ist, die innerste, naturgemäße Ruhe des Geistes in die Arbeit hineinzulegen, die man gerade tut, bis man dies und die Arbeit "vergisst" ... Zu diesem Zeitpunkt wirkt kein "Ich" mehr, das da noch etwas "tut". Zu diesem Zeitpunkt braut der Geist kein "Ich" mehr zusammen, das da gerade "arbeitet".
Ajahn Buddhadâsa, Theravâda-Meister

Der Ochse ist vergessen, der Hirte bleibt

Der Ochse ist vergessen, der Hirte bleibt

Da ging der Wanderer Vacchagotta zum Befreiten, tauschte höfliche Grüße mit ihm aus und setzte sich an seine Seite. Als er dort saß, fragte er den Befreiten: 'Nun dann, Ehrwürdiger Gotama, ist da ein Selbst?' Als das gesagt war, blieb der Befreite still. 'Dann ist da kein Selbst?' Ein zweites Mal, blieb der Befreite still. Da erhob sich Vacchagotta, der Wanderer, von seinem Sitz und ging.
Ananda Sutta, Samyutta Nikaya 44.10

Die vollkommene Vergessenheit von Ochs und Hirte

Die vollkommene Vergessenheit von Ochs und Hirte

Mein Ort ist das Ortlose, eine Spur des Spurlosen.
Mevlana Dschelaluddin Rumi

Zurückgekehrt zu Grund und Ursprung

Zurückgekehrt in den Grund und Ursprung

Upasīva fragt: Wer das Ende erreicht hat: Existiert er nicht, oder ist er für alle Ewigkeit frei von Leiden? Bitte, du Weiser, du hast das erkannt – erkläre es mir. Buddha antwortet: Wer das Ende erreicht hat, für den gibt es keinen Maßstab für solche Aussagen. Wenn alle Erscheinungen beseitigt sind, dann sind mit ihnen auch alle Mittel beseitigt, sie zu beschreiben.
Upasiva-manava-puccha, Sutta Nipata 5.6

Ankommen auf dem Markt mit offenen Händen

Ankommen auf dem Markt mit offenen Händen

Wie eine Mutter mit ihrem Leben ihr einziges Kind beschützt und behütet, so möge man für alle Wesen und die ganze Welt ein unbegrenzt gütiges Gemüt erwecken, ohne Hass, ohne Feindschaft, ohne Beschränkung nach oben, nach unten und nach allen Seiten Im Gehen oder Stehen, im Sitzen oder Liegen entfalte man eifrig diese Gesinnung: so hält man an Erhabenem fest. 
  1. Näheres unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Ochse_und_sein_Hirte. Dort gibt es auch eine Interpretation dieser Parabel von Heinrich Dumoulins aus seiner „Geschichte des Zen-Buddhismus“ (1985). Die Bilderserie ist unter https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Ox-herding_pictures frei verfügbar
  2. Die beigefügten Zitate habe ich ausgewählt E.G.

Wie man das Leben ohne Überzeugungen lebt
von Stephen Batchelor

Im Jahr 2013 hat sich Stephen Batchelor in vier Vorträgen mit poetischen Texten aus dem Atthaka Vagga beschäftigt. Das ist das „Kapitel der Acht“ aus dem Sutta Nipata des Pali-Kanon, das Gedichte über das Nicht-Anhaften enthält. In buddhistischer Tradition und auch nach Meinung von Fachleuten sind dies sehr frühe, teilweise radikale Reden des Buddha, deren Bedeutung in späteren Jahrhunderten in den Hintergrund geraten ist. Einer dieser Texte ist die Paramatthaka Sutta. Den mittelbaren Anlass für diese Rede des Buddha boten die beständigen Dispute verschiedener Lehrer in Savatthi. Als König Pasenadi davon erfuhr, ließ er blind geborene Männer kommen und befahl, einen Elefanten in ihre Nähe führen. Dann sollten die Männer berühren und benennen, was vor ihnen stand. Jeder beschrieb den Teil, den er berührt hatte: wer den Fuß des Elefanten berührt hatte, behauptete, ein Elefant sei ein Pfeiler, wer das Schwanzende berührt hatte, hielt den Elefanten für einen Besen usw. Die Blinden begannen, zu streiten und handgreiflich zu werden. Da sagte der König zu den Lehrern, ihre unterschiedlichen Überzeugungen seien genauso unzuverlässig wie die Bescheibungen der Blinden. Als Siddharta Gotama davon erfuhr, hielt er eine Rede, in der er den König in seiner Sichtweise bestärkte: die Paramatthaka Sutta. Diesen Text hat Stephen Batchelor in einem Vortrag während eines Retreats in Gaia House, England, im Juli 2013 präsentiert und kommentiert. 1

der Elefant und die Blinden

Der Vortrag beginnt mit dem Text der Sutta 2:

Wer sich auf endgültige Überzeugungen versteift und sie als unumstößlich präsentiert, erklärt damit alle anderen Sichtweisen für unterlegen. Er hat das Debattieren nicht überwunden und übt es für seinen eigenen Vorteil. Unter diesem Aspekt hält er an Sichtweisen, Worten, Richtlinien und Ideen fest, und alles andere hält er für niedrig. Kenner sind der Meinung, dass er andere schlecht macht, weil er sich selbst gefesselt hat.

Ein Bettelmönch verfängt sich nicht in Standpunkten, Worten, Ideen oder Richtlinien. Eine Überzeugung, die auf Wissen basiert, entwickelt er nicht. Weder beansprucht er, gleichwertig zu sein, noch hält er sich für überlegen oder unterlegen. Er lässt eine Position los, ohne eine andere einzunehmen.

Er ist nicht dadurch definiert, was er weiß, und er schließt sich auch nicht einer Gruppe von Sektierern an. Er nimmt überhaupt keinen Standpunkt ein. Er lässt sich nicht mit Worten wie: „Es ist“, und „Es ist nicht“, oder „diese Welt“ und „die nächste Welt“ in blinde Bündnisse locken. Das Engagement, das Menschen dazu bringt, abzuwägen und an Lehren festzuhalten, fehlt ihm. In seiner Wahrnehmung von Überzeugungen, Worten und Ideen gibt es keine Spuren von Sicherung. Wer kann einen Priester beurteilen, der nicht an Überzeugungen festhält? Mit welchem Maßstab könnte man ihn messen?

Er denkt sich nichts aus, und er schmeichelt nicht. Er hat keine Lehren übernommen. Diesen Priester kannst du nicht an seinen Richtlinien erkennen. Er hat Rahmen gesprengt, ohne irgendetwas, worauf er zurückgreifen könnte.

Batchelor zitiert danach aus der Sivaka Sutta 3 und begründet das mit der inhaltlichen Verwandtschaft der beiden Texte.

Der Lehrer hielt sich einmal an der Eichhörnchen-Futterstelle im Bambushain von Rajagaha auf. Da kam der Wandermönch Sivaka auf ihn zu und tauschte Grüße mit ihm aus…Schließlich fragte er: Herr Gotama, es gibt Wandermönche und Priester, die die Ansicht vertreten, was immer ein Mensch erfahre, sei es erfreulich, schmerzhaft, oder neutral, wäre durch frühere Taten verursacht. Was sagt Ihr dazu? Buddha antwortete: manche Erfahrungen haben ihre Ursache in der Funktion der Galle, manche in Schleim, manche in inneren Winden, manche in allen Dreien. Manche Erfahrungen werden verursacht durch den Wechsel der Jahreszeiten, manche durch unzureichende Fürsorge, manche durch einen plötzlichen Überfall, und manche sind Folgen eigener Taten. Ihr könnt selbst beurteilen, wie es zu solchen Erfahrungen kommt. Menschen in der Welt sind sich einig darüber, wie es zu solchen Erfahrungen kommt. Diejenigen, die glauben, alle Erfahrung werde durch frühere Taten verursacht, übergehen, was sie selbst wissen könnten, und was in der Welt für richtig gehalten wird. Daher sage ich: diese Wandermönche und Priester haben unrecht.

Batchelor schließt nun an: Ich halte das für einen sehr profunden Text, der im übrigen den meisten Buddhisten Schwierigkeiten macht. Ein erster Punkt scheint mir zu sein: ein Leben ohne Überzeugungen zu leben bedeutet nicht, sein Gehirn auszuschalten. Wir bekommen in dieser Sutta einen Hinweis, was es bedeuten könnte. Können wir ein Leben führen, das darauf basiert, was wir selber wissen – als erstes Kriterium – was wir vom allgemein akzeptierten Wissen unserer Kultur schöpfen – als zweites Kriterium – ohne etwas hinzuzufügen, das nicht durch diese beiden Formen von Wissen begründet werden kann? Versuchsweise könnten wir also jeden Standpunkt, der durch keines der beiden Kriterien: persönliche Erfahrung oder in der Welt allgemein akzeptiertes Wissen bestätigt werden kann, einen metaphysischen Glaubenssatz nennen. Das Beispiel im Text ist: es gibt Wandermönche und Priester, die die Meinung äußern (hier wird dieselbe Terminologie gebraucht wie in der Paramatthaka Sutta) : was immer ein Mensch für Erfahrungen macht – angenehm, schmerzhaft, oder neutral – hat seine Ursache in vergangenen Taten. Buddha nennt das als ein Beispiel für eine metaphysische Sichtweise oder Überzeugung. Mit anderen Worten: es ist eine verallgemeinernde Aussage über die Natur der Realität, die in allen Situationen, allen Kontexten, allen vorstellbaren Orten und Zeiten für zutreffend gehalten werden soll. Buddhas Reaktion darauf ist im Grund, an den Menschenverstand zu appellieren. Er sagt: Einen Moment. Wir haben Erfahrungen: wenn du dich krank fühlst, dann nicht wegen eines vergangenen Karma, sondern weil deine Körperfunktionen nicht richtig arbeiten. Oder: achte auf die äußeren Umstände: den Wechsel der Jahreszeiten, das Wetter, die Umgebung – das hat doch oft großen Einfluss auf unser Befinden. Das sagt uns der Menschenverstand. Oder: unzureichende Fürsorge – du kümmerst dich nicht ausreichend um dich selbst, oder du isst das Falsche, oder du isst nicht genug, trägst falsche Kleidung usw. Das bereitet dir Freude oder Schmerz. Oder: ein plötzlicher Überfall. Wenn du gerade friedlich deine Gehmeditation machst, und es springt dich jemand an und haut dich auf den Kopf, brauchst du nicht Taten aus der Vergangenheit zu bemühen – du bist einfach zur falschen Zeit am falschen Ort. Aber manche Erfahrungen, die wir machen, sind Folgen unserer eigenen Taten. Das wissen wir sowieso, da brauchen wir uns auf keine metaphysische Karma-Theorie zu beziehen. Buddha versteht Karma hier als absichtsvolle Tat. Manche Dinge widerfahren uns als Ergebnisse unserer Absichten, etwas zu sagen oder zu tun. Wenn du beschließt, in den Pub zu gehen, dort zu viele Whiskys trinkst und am nächsten Morgen eine furchtbaren Kater hast, dann brauchst du nicht Karma und vergangene Lebenszeiten zu bemühen; du brauchst nur die Folge von Entscheidungen nachzuvollziehen, die damit begonnen hat, dass du daran gedacht hast, in den Pub zu gehen. Dieses Beispiel weist darauf hin, dass im frühen Buddhismus Misstrauen herrschte gegenüber großartigen Vorstellungen, die alles erklären. Viele religiöse Glaubenssätze sind von dieser Art: Gott ist die Liebe, Leben ist Leiden – solche verallgemeinernde Feststellungen, an die Menschen glauben oder nicht glauben. Sie lassen sich nicht verifizieren, und gleichzeitig – und das macht sie so verführerisch – kannst du sie nicht widerlegen. Den Satz: „alle meine Erfahrungen sind das Ergebnis meines Karmas in der Vergangenheit“ kannst du nicht falsifizieren, genauso wenig wie du beweisen kannst, dass Gott nicht existiert. Erinnert euch an Karl Poppers berühmten Satz über Wissenschaftlichkeit: jeder Anspruch muss falsifiziert werden können. Wir schreiten in unserer Erkenntnis voran, indem wir gegenwärtige Ansichten falsifizieren. In diesem Text liegt ein ähnlicher Gedankengang vor. Ein anderes Beispiel 4: Buddha sagt:

Ich diskutiere nicht mit der Welt, es ist eher so, dass die Welt mit mir diskutiert. Wer den Dhamma lehrt, führt mit niemandem auf der Welt Streitgespräche. Von einer Sache, bei der die Weisen der Welt übereinstimmen, dass es sie nicht gibt, sage auch ich, dass es sie nicht gibt, und bei etwas, wovon sie der Meinung sind, dass es existiert, sage auch ich, dass es existiert.

Diese Passage eines frühbuddhistischen Textes zeigt: Buddha war nicht daran interessiert, die Welt korrekt zu beschreiben, sondern daran, vorzuschlagen, wie wir in dieser Welt leben könnten. Ich halte das für wirklich entscheidend. Er war nicht interessiert an der Natur des Bewusstseins, nicht an der Natur des Geistes, oder des Körpers, oder der Umgebung – wo immer er über solche Dinge Bescheid hätte wissen wollen, wäre er zu Experten gegangen und hätte sie um ihre Meinung gefragt und diese akzeptiert. Die heutige Diskussion über Buddhismus und Wissenschaft (z.B. Wissenschaft vom Bewusstsein) geht also an der Kernfrage vorbei. Buddhismus wird in diese Diskussion hineingezogen, wo doch das Projekt als eine Anzahl praktischer Ratschläge begonnen hat, wie man in der Welt leben soll. Buddhismus ist pragmatisch, nicht dogmatisch. Ja, es stimmt, in der indischen Geistesgeschichte haben Buddhisten entscheidende Beiträge zur Logik, Erkenntnistheorie, Psychologie, etc. geleistet. Aber hier lag nicht Buddhas ursprüngliche Intention. Diese können wir in der Aussage zusammenfassen: der Dharma ist verordnend, nicht beschreibend 5. Und davon ausgehend bin ich dazu gekommen, „die Vier“ als vier Aufgaben und nicht als vier Wahrheiten zu sehen. Vorstellungen wie „es ist“ oder „es ist nicht“ stehen da im Hintergrund. Ich halte es aber für sehr schwierig, diese Denkweise abzulegen. Ich habe sehr viel Zeit damit verbracht, Vieles von dem zu verlernen, was ich gelehrt worden war. Wenn ich jetzt eine Sutta lese, versuche ich nicht mehr zu denken: stimmt das? sondern statt dessen: klappt das?

Werkzeugkasten

Versucht, den Dharma als einen Werkzeugkasten zu sehen, mit Äquivalenten von Schraubenschlüsseln und Sägen und Bohrern und Hämmern und Meißeln, von denen jedes für eine bestimmte Aufgabe gedacht ist – es gibt hier kein Universalwerkzeug, keine einzelne Praxis, die der Buddha gelehrt hat – das wäre eine enge Sichtweise. Buddha stellt uns eine Anzahl von Praktiken zur Verfügung, wie das auch andere, spätere Traditionen tun. Und die Frage ist: Hilft das? Und nicht: Ich muss das tun, weil es in ununterbrochener Reihenfolge überliefert ist, und wenn es für mich nicht hilft, dann ist mit mir etwas falsch. Das mag stimmen – aber diese Art zu denken ist nicht hilfreich. Einer der üblichen Einwände gegen einen säkularen, historisch-kritischen Zugang zu diesen Texten ist, darauf hinzuweisen, dass Buddhismus eine sich entwickelnde Tradition ist: ja, Buddhismus begann natürlich mit diesen ersten Texten, aber ihre Aufnahme und ihre Umsetzung in die Praxis in bestimmten kulturellen Umgebungen regte weitere Entwicklung und Verfeinerung der Philosophie an. Man sieht hier also Entwicklung, nicht Niedergang. Die Argumentation läuft so: einfach zu den ältesten Texten zurückzugehen und diese als die authentischsten zu bezeichnen, ist ein Trugschluss im Sinn von: das Früheste muss das Beste sein. Mit diesem Einwand bin ich häufig konfrontiert. Wie wir vor allem von den Mahayana-Traditionen wissen, spielt bei diesen die Rhetorik von Hinayana und Mahayana 6 eine zentrale Rolle. Hinayana sei zu seiner Zeit wichtig gewesen, aber für eine weniger erleuchtete Truppe als wir, die wir Bodhisattvas 7 sind. Dies ist bis heute sehr stark im Buddhismus verankert, und ich halte das für eine echte Tragödie. Hina bedeutet: unterlegen, es ist ein Ausdruck von Geringschätzung. Was ich bemerkenswert finde – seht den ersten Vers unseres Textes 8 an:

Wer sich auf endgültige Überzeugungen versteift und sie als unumstößlich präsentiert, erklärt damit alle anderen Sichtweisen für unterlegen.

Dieser Text wurde Jahrhunderte vor der Zeit, in der Buddhisten von Hinayana und Mahayana zu sprechen begannen, geschrieben. Der Ausdruck, der hier für unterlegen gebraucht wird, ist Hina – dasselbe Wort. Es klingt eigenartig prophetisch, als ob der Autor sich genau der Fallen bewusst gewesen wäre, in die die Tradition wahrscheinlich tappen würde, als ob er verstanden hätte, wie Menschenwesen sich zu verhalten pflegen. Hier haben wir den alten Text, der vor dem Gebrauch von Worten wie Hina warnt – und dann wird das ein Schlüsselwort der eigentlichen buddhistischen Tradition. Ich sehe das nicht als ein Beispiel dafür, wie sich die Tradition entwickelt hat, sondern als Versagen beim Anerkennen der Ursprünge dessen, was man zu vertreten beansprucht. Diese Texte sind in Vergessenheit geraten, vielleicht wurden sie unterdrückt. Wir haben hier also nicht „Entwicklungen“, die die frühen Texte verbessern oder verfeinern, sondern genau das tun, wovor die früheren Texte gewarnt haben. Wir kehren zu der Passage aus der Sivaka-Sutta zurück:

…Es gibt Wandermönche und Priester, die die Ansicht vertreten, was immer ein Mensch erfahre, sei es erfreulich, schmerzhaft, oder neutral, wäre durch frühere Taten verursacht.

Es sieht wie eine Sinnestäuschung aus, dass das in vielen buddhistischen Schulen heute die offizielle Position ist. Das hat man mich in meiner Ausbildung zum tibetischen Mönch gelehrt. Was immer ich für Erfahrungen mache: angenehm, unangenehm oder neutral, kommt von Handlungen in der Vergangenheit, während Umweltfaktoren etc. als akzidentiell betrachtet werden. Auch das ist ein Beispiel für eine frühe Lehre, die vollkommen in Vergessenheit geraten ist, und Buddhisten wiederholen genau das, was Buddha hier für falsch erklärt. Das macht diesen Text so problematisch: er steht in Widerspruch zu einem großen Teil der buddhistischen Orthodoxie. George Santayana, der spanisch-amerikanische Philosoph, hat gesagt: Wer nicht aus der Geschichte lernt, muss ihre Fehler wiederholen. Historisches Bewusstsein – das in der Entwicklung des traditionellen Buddhismus weitgehend gefehlt hat – stellt uns hier ein sehr wertvolles Werkzeug zur Verfügung: diese frühen Lehren wurden nicht nur vergessen, sondern bewusst als unterlegen verleumdet. Das, was als überlegen angesehen wird, ist genau das, wovor Buddha gewarnt hat. Ein anderes gutes Beispiel hierfür sind die Begriffe Endgültigkeit und Wahrheit. In dem erwähnten Gedicht und anderen aus dieser Phase werden diese Begriffe wiederholt mit großem Misstrauen behandelt. Menschen, die den Anspruch erheben, die Wahrheit zu vertreten, werden derselben Kategorie zugeordnet wie solche, die falsche Meinungen vertreten – das sei nur eine andere Variante von fixer Idee. In vielen späteren Traditionen – auch im Theravada 9, nicht nur in Mahayana-Traditionen – wird Erleuchtung verstanden als: Einsicht in endgültige Wahrheit zu gewinnen. In Kontrast dazu wird alltägliche oder relative Wahrheit gesetzt. Wie in aller Welt konnte das geschehen? Wie konnte eine Tradition, die voller Misstrauen endgültigen Wahrheiten gegenüber war, sich dorthin entwickeln, dass ihr ganzes Denken darauf basiert, endgültige Wahrheit alltäglicher Wahrheit gegenüber zu stellen? Bust_of_MenanderDiese Unterscheidung zwischen endgültiger und alltäglicher Wahrheit wurde zum ersten Mal in den Fragen des König Milinda gemacht. Milinda ist die Pali-Form des griechischen Wortes Menander. Der indisch-griechische König Menander lebte in Indien im 2. vorchristlichen Jahrhundert in der Nachfolge der Eroberungen von Alexander dem Großen. Er errichtete ein Königreich im Punjab, im heutigen Pakistan. In seiner Zeit war die Macht Griechenlands zurückgegangen, die hellenistische Welt in Europa zerbrach und Rom stieg zur Großmacht auf. Die griechischen Kolonien wurden gewissermaßen führungslos, und als Teil dieses Prozesses wandten sich die Griechen, die an diesen Orten lebten, mit Fragen zu ihrer Identität und ihrem spirituellen und religiösen Wohlergehen den regionalen Traditionen zu. Dieser König Menander war sehr an Buddhismus interessiert. Ein Dialog zwischen ihm und dem buddhistischen Mönch Nagasena ist auf Pali erhalten. coque iphone Und dort führt Nagasena den Gedanken von den zwei Wahrheiten ein – also etwa 200 Jahre nach Buddhas Lebenszeit. Im Pali-Kanon werden die Worte endgültige Wahrheit und alltägliche Wahrheit nirgends erwähnt. Die Art, in Gegensätzen zu denken: „ist“ – „ist nicht“, „wahr“ – „falsch“, „endgültig“-„alltäglich“ ist eine Falle, in die hier zum ersten Mal gegangen wird. Nun, dass Nagasena diese Ausdrücke gebrauchte, erklärt noch nicht, warum sie so wichtig geworden sind. Es gibt möglicherweise zwei Gründe dafür: zum ersten war der Buddhismus, indem er das Modell der beiden Wahrheiten übernahm, als Religion in Indien viel besser geeignet als vorher, und zwar wahrscheinlich im Zusammenhang mit dem wachsenden Einfluss des Brahmanismus, heute Hinduismus genannt. In den Upanishaden 10 – auch wenn dort die Ausdrücke endgültige und alltägliche Wahrheit nicht gebraucht werden – ist viel die Rede von Brahma, der endgültigen Wirklichkeit, von Gott, von der unteilbaren Einheit des Seins, und zwar manchmal im Zusammenhang mit göttlichem Bewusstsein, nämlich der endgültigen Wirklichkeit, von der wir entfremdet und abgeschnitten sind, weil wir von den Illusionen der Ausdifferenzierung und Vielfalt verführt worden sind. Als Buddhisten begannen, von zwei Wahrheiten zu sprechen, haben sie genau diese Art des Denkens übernommen: Es gibt eine endgültige Wahrheit, wir könnten sie Leere nennen, oder Geist – Buddhisten gebrauchen das Wort „Gott“ eher nicht, aber sie führten zahlreiche Ersatzbegriffe ein: Nicht-Dualität usw. Jedenfalls wird dieser Erfahrung ein besonderer ontologischer Status zugesprochen, sie wird als wahrer und wirklicher angesehen als die Welt der Illusionen, die wir mit unseren Sinnen wahrnehmen. Da gibt es dann also eine Sprache – endgültige Wahrheit vs. alltägliche Wahrheit – die sehr gut zur normativen Art religiösen Denkens passt. Das ist möglicherweise ein Grund für diese Änderung der Begriffe, durch die Buddhismus zu einer weiteren indischen Religion umgeformt wurde. Ich meine, es könnte noch einen anderen Grund geben, nämlich: sobald ein gedankliches Modell von zwei Wahrheiten entwickelt ist, sind theoretische Grundlagen für eine Struktur von Autorität und Macht geschaffen. Es legitimiert bestimmte Leute – nämlich die, die Zugang zu dieser endgültigen Wahrheit gefunden haben, die Erleuchteten, im Gegensatz zu jenen, die wie wir in alltäglicher Wahrheit stecken geblieben sind und nicht wissen, worum es wirklich geht. Ich vermute, dass es zwischen der Entwicklung religiösen Denkens und der Entwicklung machtvoller religiöser Institutionen Parallelen gibt. Wer die Macht hat, ist zufällig auch der, der die Wahrheit kennt. Wer keine Macht hat, kennt die Wahrheit nicht und muss sich nach jenen richten, die Macht haben, um möglicherweise Zugang zur Wahrheit zu erlangen. Das ist eine Situation, typischerweise vergleichbar mit dem Christentum vor der Reformation: der Priester oder die buddhistischen Lehrer sind die Vermittler, die die tiefe Wahrheit uns Durchschnittsgläubigen zugänglich machen. Dieser Zugang erreicht im tibetischen Buddhismus seinen Höhepunkt. Ein Lama wird als Buddha betrachtet; an einem Lama kann es nichts Falsches geben, er lebt direkt und ständig in der endgültigen Wirklichkeit von shunyata, der Leere, und wenn wir denselben Zustand erreichen wollen, müssen wir uns der Autorität dieser Person unterwerfen. Ich glaube, die Entwicklung von Macht lässt sich von der Entwicklung von Dogmen nicht trennen, die beiden gehen Hand in Hand. Bemerkenswert an den frühbuddhistischen Texten ist, dass sie keine ontologischen Theorien als Basis für hierarchische Macht anbieten, sondern ein völlig egalitäres System. Die Sangha besteht aus Mönchen, Nonnen und männlichen und weiblichen Laien. inebkonfSie alle sind fähig, Erwachen zu erreichen und die vier Aufgaben zu praktizieren. Buddha hat vor seinem Tod keinen Nachfolger bestimmt, sondern sagt anstatt dessen: der Dharma wird euer Lehrer sein. Er stellt sich eine Gemeinschaft vor, die von der Autorität einer nicht persönlichen Menge von Gesetzen geführt wird – Dharma bedeutet Gesetz, oder Prinzip, oder Wert, oder Praxis. Dieses Bild unterscheidet sich sehr davon, wie der Buddhismus sich als Institution entwickelt hat. In manchen Traditionen bedeutet Sangha: Mönche und Nonnen, aber das findet sich in den frühen Texten nirgends. So wird die Gemeinschaft von einer professionellen Elite bestimmt. Haltet mich jetzt bitte nicht für einen Kritiker von Mönchen und Nonnen; viele bewundere ich sehr. Hier geht es um die allgemeinen historischen Strukturen. Wenn wir uns also diesen frühen Texten zuwenden, kommt es mir vor, dass wir Perspektiven kennenlernen, die der Buddhismus irgendwie vergessen, vielleicht auch unterdrückt, vielleicht zu heikel gefunden hat, um damit umzugehen. Mir ist natürlich klar, dass jede religiöse Tradition, die in der Welt überleben will, unvermeidlich Kompromisse machen muss. Dafür brauchen wir nicht weit zu gehen: denkt an den Sohn eines Zimmermanns, der mit ein paar Freunden am See Genesareth lebte, und dann an den Vatikan. Das heißt nicht, dass da alles schief gelaufen ist, aber es zeigt, dass es hier einen fast unvermeidlichen Konflikt zwischen dem Gelübde der Armut und dem Leben in einem goldenen Palast gibt. Ich halte Papst Franziskus und auch Ratzinger für gute Leute, aber sie sind in einem System gefangen, das es ihnen sehr schwer macht, viel zu bewirken. Institutionalisierung ist paradoxerweise eine enorme Einschränkung für alle Arten von Veränderung. Buddhismus ist in genau derselben Lage: er neigt zu Konservativismus und dem Festhalten an Macht und Autorität. Was heißt das nun? Es könnte sein, dass wir einen Punkt erreicht haben, an dem wir einfach die ganze Geschichte der Traditionen mit ihren Doktrinen und Philosophien und Institutionen und Machtstrukturen beiseite stellen und komplett neu anfangen müssen. Es gibt da die wichtige Frage, wie wir uns dabei organisieren, und auch, wie sehr wir bereit sind, Vieles los zu lassen, was Tradition uns gelehrt hat, und Elemente, die in Vergessenheit geraten sind, wiederherzustellen. Und mit diesen frühen Texten, die mir so wichtig sind, geraten wir an etwas sehr Ursprüngliches. Eigenartig daran ist: je weiter man zurückgeht, desto radikaler werden die Lehren. Und das bedeutet: es geht an die Wurzeln, aber auch im konventionellen Sinn von Provokation, Herausforderung und Verunsicherung. Da gibt es auch einen Aspekt, der mich ein wenig unangenehm berührt, ich zitiere den poetischen Text :

…er lässt eine Position los, ohne eine andere einzunehmen. Er ist nicht dadurch definiert, was er weiß, und er schließt sich auch nicht einer Gruppe von Sektierern an.

Das ist natürlich die andere Versuchung, dass wir zu Rebellen werden, dass säkularer Buddhismus eine Gruppe von Sektierern wird. Ich denke, bei der Entwicklung von Gemeinschaften des Dissens ist viel Vorsicht nötig – wir werden nicht automatisch von der Denkweise derer befreit, deren Ansichten wir zurückweisen. Das ist die Geschichte des Widerspruchs: wenn der Widersprechende erfolgreich ist, wird er zum nächsten Establishment, und das löst dann eine andere Art von Dissens aus…das ist möglicherweise unvermeidlich in der Dialektik der Geschichte, wenn wir diesen überholten Ausdruck noch gebrauchen können . Aber wie können wir leben, ohne eine Haltung einzunehmen? Das ist die Frage, zu der ich immer wieder zurückkomme und für die ich keine fertige Antwort parat habe. Wie hören wir solche poetischen Texte und wie setzen wir sie in die Praxis um? Sie selbst geben uns überhaupt keine Anweisungen. Keine Meditationsanleitungen, keine Ratschläge, keine Moral, keine Ethik…Diese Begriffe kommen überhaupt nur vor, wenn vor ihnen gewarnt wird:

Der Weise ist nicht verstrickt in Regeln, Einstellungen, Ideen…

Das ist ziemlich verunsichernd, finde ich, es gibt nicht mehr viel, woran man sich festhalten kann. Aber genau das suchen wir: etwas zum Festhalten, einen sicheren Ort. Der Begriff Verlangen, der sich meist auf gefühlsmäßiges Verlangen bezieht, bedeutet auch: Verlangen nach Standpunkten; die Sehnsucht nach etwas, woran man glauben kann, nach etwas, worauf man sich immer wieder als wahr beziehen kann. Buddhismus, zum Beispiel. Aber das scheint nicht der Weg zu sein.

Ich denke, dass diese Texte mehr Poesie sind als didaktische Prosa. Sie wollen uns etwas zeigen, nicht etwas erzählen, während in der Entwicklung religiöser Traditionen das Zeigen oft durch Erzählen ersetzt wird, mit anderen Worten: der Tradition von Kommentaren, die dir erzählen, was gemeint ist. Denkt an die frühen Zen-Koans: sie sind wunderbare Beispiele des Zeigens: Lehrer und Schüler tauschen etwas aus, und es wird etwas gezeigt. In Kommentaren geht es darum, die Deutungsmacht zu haben.

Was wir beim Lesen dieser Texte tun können, ist uns einfach in der radikalen Offenheit, die sich hier zeigt, niederzulassen und uns gleichzeitig zu fragen, wie wir unter einer solchen Perspektive leben könnten – ein Leben ohne Überzeugungen. Ich lese den Text – über den ich hier nicht viel gesagt habe – einfach noch einmal:

Wer sich auf endgültige Überzeugungen versteift und sie als unumstößlich präsentiert, erklärt damit alle anderen Sichtweisen für unterlegen. Er hat das Debattieren nicht überwunden und übt es für seinen eigenen Vorteil. Unter diesem Aspekt hält er an Sichtweisen, Worten, Richtlinien und Ideen fest, und alles andere hält er für niedrig. Kenner sind der Meinung, dass er andere schlecht macht, weil er sich selbst gefesselt hat.

Ein Bettelmönch verfängt sich nicht in Standpunkten, Worten, Ideen oder Richtlinien. Eine Überzeugung, die auf Wissen basiert, entwickelt er nicht. Weder beansprucht er, gleichwertig zu sein, noch hält er sich für überlegen oder unterlegen. Er lässt eine Position los, ohne eine andere einzunehmen.

Er ist nicht dadurch definiert, was er weiß, und er schließt sich auch nicht einer Gruppe von Sektierern an. Er nimmt überhaupt keinen Standpunkt ein. Er lässt sich nicht mit Worten wie: „Es ist“, und „Es ist nicht“, oder „diese Welt“ und „die nächste Welt“ in blinde Bündnisse locken. Das Engagement, das Menschen dazu bringt, abzuwägen und an Lehren festzuhalten, fehlt ihm. In seiner Wahrnehmung von Sichtweisen, Worten und Ideen gibt es keine Spuren von Sicherung. Wer kann einen Priester beurteilen, der nicht an Überzeugungen festhält? Mit welchem Maßstab könnte man ihn messen?

Er denkt sich nichts aus, und er schmeichelt nicht. Er hat keine Lehren übernommen. Diesen Priester kannst du nicht an seinen Richtlinien erkennen. Er hat Rahmen gesprengt, ohne irgendetwas zu haben, worauf er zurückgreifen könnte.

  1. s.: www.dharmaseed.org/teacher/169/talk/20098/
  2. die Verse sind nach der Übersetzung Stephen Batchelors in Prosa aus dem Englischen übertragen
  3. Pali-Kanon, Samyutta Nikaya 36.21
  4. aus Samyutta Nikaya 22
  5. Im englischen Original: prescriptive, not descriptive, E.G.
  6. über die inhaltlichen Unterschiede dieser beiden buddhistischen Schulen s. http://www.berzinarchives.com/web/en/archives/study/comparison_buddhist_traditions/theravada_hinayana_mahayana/intro_comparison_hinayana_mahayana.html, über die die zeitliche Abfolge und regionale Verbreitung s.: http://en.wikipedia.org/wiki/Timeline_of_Buddhism
  7. Im Mahayana-Buddhismus werden Bodhisattvas als nach höchster Erkenntnis strebende Wesen angesehen, die Buddhaschaft anstreben bzw. in sich selbst realisieren, um sie zum Heil aller lebenden Wesen einzusetzen. E.G.
  8. aus der Paramatthaka Sutta
  9. ein anderer Ausdruck für das pejorative „Hinayana“
  10. Sammlung philosophischer Texte des Hinduismus

Stephen Batchelor: Über das Selbst

Wann immer mir bisher während eines Retreats oder beim Lesen der Begriff des „leeren Selbst“ untergekommen ist, blieb er mir fremd – ich konnte damit nichts anfangen. Okay, anatta ist neben anicca, der Unbeständigkeit, und dukkha eines der drei „Daseinsmerkmale“ im Buddhismus, das wusste ich. In der Praxis habe ich um das „leere Selbst“ ein wenig ehrfürchtig, aber doch eher verständnislos einen Bogen gemacht. David Loy schreibt, dass wir Menschen uns aus Geschichten zusammensetzen, und dass wir dabei immer wieder um unser „Selbst“ kreisen – so erschaffen wir unsere Identität 1. Das hat mich nun zum Nachdenken gebracht und ich habe begonnen, darüber nachzulesen und nachzudenken. Worauf ich dabei gestoßen bin, möchte ich in einer kleinen Serie von Beiträgen hier zusammenfassen. Beginnen werde ich mit der teilweisen Übersetzung eines Talks von Stephen Batchelor über das Selbst, bei dem er von Buddhas Lehre vom Mittleren Weg ausgeht 2: stephen batchelor2

Buddhas Lehre vermeidet Sätze wie „Das ist“ und genauso „Das ist nicht“, Zustimmung genauso wie Negation. Wenn wir bewusst wahrnehmen: Dinge entstehen, können wir nicht sagen: „Da ist nichts“, und wenn wir wahrnehmen, dass Dinge vergehen, können wir nicht sagen: „Da ist etwas“. Es geht hier darum, dass die Kategorien von Sprache die fließende, sich verändernde Natur unserer unmittelbaren Erfahrungen nicht fassen können. Die Grammatik unserer Sprachen basiert auf Aussagen wie: „ist“ oder „ist nicht“, sie kann den Rhythmus des Entstehens und Vergehens des Lebens nicht adäquat wiedergeben. Der Mittlere Weg liegt also nicht nur zwischen Genusssucht und Askese, sondern es geht auch um einen Mittleren Weg zwischen „Ist“ und „Ist nicht“. Wenn man auf einer Weltsicht besteht, die auf einem Satz basiert wie: „Das ist die Natur dessen, was ist“, oder aber auf einer Weltsicht: „Grundsätzlich gibt es gar nichts“ endet man in einer Sackgasse. Der Mittlere Weg bedeutet also nicht nur, Extreme zu vermeiden, sondern eigentlich ist es der einzig mögliche Weg – wenn du ihn verpasst, landest du in einer Sackgasse. Der Mittlere Weg ist Ausdruck für die beständige, fließende Lebenserfahrung selbst. Hier liegt die Quelle für den Begriff der Leere. Der Ausdruck Leere als solcher schafft oft mehr Probleme, als er löst. Buddha gebraucht ihn selten. Der Philosoph Nagarjuna, der dieses Konzept weiterentwickelt hat, sagt: Leere ist das Loslassen von Meinungen. Menschen, die an Leere glauben, sind unheilbar. Leere ist eigentlich ein Leeren. Die Idee des Seins loslassen, die Idee des Nichtseins loslassen und sich dem zu überlassen, wie das Leben selbst sich entfaltet. In diesem Prozess gibt es nichts, worauf man sich berufen kann und sagen: Das bin ich wirklich. Das heißt aber nicht, dass ich nicht existiere. Der Mittlere Weg liegt genau dazwischen. Für Buddha ist das Selbst ein Projekt, das zu verwirklichen ist und nicht ein Zustand, der nach Bestätigung oder Ablehnung verlangt. Als der Buddhismus zu einer Religion wurde, entwickelte er orthodoxe Metaphysik. In manchen Schulen wurde es zum Ziel von Meditation, einen Zustand zu erreichen, in dem der Geist mit der Wahrheit der Dinge in Einklang ist. Wenn du dorthin kommst – und die Wahrheit ist dann, was orthodoxe Schulen als solche entwickeln – dann bist du erleuchtet. Ich halte das für einen großen Fehler. Ich glaube nicht, dass Buddha daran interessiert ist, die Natur von Wahrheit herauszuarbeiten. Er ist daran interessiert, eine Lebensform zu entwickeln, die jeden Wahrheitsanspruch vermeidet. Er will uns dazu verhelfen, unsere Erfahrungswelt durch Handeln zu öffnen. Von daher können wir viel besser verstehen, was er mit „Selbst“ meint. Buddha illustriert dieses Verständnis sehr schön in Vers 80 des Dhammapada:

Wie ein Bauer sein Feld bewässert, wie ein Pfeilmacher einen Pfeil formt, wie ein Tischler ein Stück Holz bearbeitet, so zähmt der Weise das Selbst.

Wir sind wie ein Feld, wie ein Pfeil, wie ein Holzstück, und unsere Aufgabe mit dem Selbst ist, es zu bewässern, es zu formen, es zu bearbeiten.

  1. s. der Blog-Eintrag darüber: Die Welt besteht aus Geschichten
  2. http://www.dharmaseed.org/teacher/169/?search=self . Übersetzung mit Zustimmung des Autors: Evamaria Glatz

Säkulare Geschwister I: Lloyd Geering

Immer wieder spricht Stephen Batchelor davon, wie viel säkularer Buddhismus christlichen Theologen verdanke, die schon vor Jahrzehnten neue Zugänge zu ihrer Religion eröffnet haben. Die Lektüre von Paul Tillich und Dietrich Bonhoeffer habe ihn angeregt; unter unseren Zeitgenossen schätzt er Lloyd Geering sehr.Lloyd Geering Bei uns kaum bekannt, ist Geering, heute 97 Jahre alt, in seiner Heimat Neuseeland eine Art Ikone. Nach seiner Ausbildung zum presbyterianischen Geistlichen hat er mehrere Jahre lang diesen Beruf ausgeübt. In seinen Predigten versuchte er, das Leben Jesu, wie es in der Bibel erzählt wird, als Basis für ein christliches Leben zu präsentieren. „Gott“ war und blieb für ihn vor allem der symbolische Begriff für das ultimative Mysterium des Leben, wie er sagt 1. Er wurde später akademischer Lehrer; anfangs untersuchte er vor allem die Texte des Alten Testaments und interpretierte Entstehung und Inhalte aus dem historischen Kontext ihrer Entstehungszeit – das war bereits in den 1950er Jahren. Er begann, diese Sichtweise auch auf die Evangelien des Neuen Testaments anzuwenden und die Bibel nicht als unveränderliches Gotteswort, als nicht frei von Fehlern und in ihrer Entstehungszeit verwurzelt zu sehen. Er ging an die Texte aus unserer gegenwärtigen Weltsicht und mit gesundem Menschenverstand heran und gelangte bald zu der Frage: in welchen Himmel ist Jesus denn aufgestiegen? Geering begann, die Buchstäblichkeit der körperlichen Auferstehung in Frage zu stellen, und bald darauf die Unsterblichkeit der menschlichen Seele, wobei er darauf hinwies, dass diese Idee nicht aus der Bibel, sondern von griechischen Philosophen, vor allem von Platon stamme, während im Neuen Testament zu lesen sei: nur Gott ist unsterblich. Geering bedient sich einer leicht verständlichen Sprache und so wurden seine Texte auch über akademische Kreise hinaus rezipiert. In Neuseeland und darüber hinaus im englischen Sprachraum brachen in der Folge Stürme kirchlicher und öffentlicher Entrüstung los. Im Jahr 1967 strengten Hardliner ein kirchenrechtliches Verfahren wegen Häresie gegen ihn an, das allerdings schnell niedergeschlagen wurde. Da seine als ketzerisch angefeindete Aussagen zwar im Widerspruch zu kirchlichen Dogmen, aber nicht zum Stand theologischer Forschung standen, konnte er seine akademische Laufbahn als Universitätsprofessor für (inter)religiöse Studien fortsetzen. Dabei hat er nichts gelehrt, was unter Wissenschaftern nicht schon längst Allgemeingut gewesen wäre. Der Himmel ist für ihn kein Ort, sondern ein Zustand. Auferstehung bedeutet für ihn das Fortleben der Lehre Jesus. Maria ist für ihn keine Jungfrau und Jesus nicht buchstäblich der Sohn Gottes. Mit dem Begriff „Gott“ hat er sich viel beschäftigt. In dem oben erwähnten Interview sagt er:

Im Gespräch über Gott geht es um die tiefste Wirklichkeit, mit der wir uns konfrontieren können. Es geht darum, was uns am meisten betrifft – und wir wissen nicht, was das ist. Der bekannte Gott ist ein Idol. Der Gott, der definiert werden kann, ist kein Gott.

Geering hält es mit dem von ihm hochgeschätzten Pierre Teilhard de Chardin 2. In dem erwähnten Interview sagt Geering über Teilhards Gottesverständnis:

Gott sollte nicht so sehr als der Schöpfer der Welt gesehen werden, und auch nicht als die Ursache für den evolutionären Prozess. Dieser Prozess selbst, das sich entwickelnde Universum, ist (für Teilhard, E.G.) das letzte Mysterium, das Gott genannt werden kann.

Im Jahr 1980 veröffentlichte Geering das Buch„Faith’s New Age“, in dem er von der Feststellung ausgeht, dass die menschliche Kultur sich heute erheblich von jener unterscheidet, die vorherrschte, als die großen Religionen gegründet wurden. Dieser Veränderung geht er vom späten Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert nach und entwickelt dabei ein Modell dreier aufeinanderfolgender kultureller Perioden: Die erste Periode nennt er die „ethnische Phase“, während der sich viele voneinander unabhängige Kulturen aus ihrer ethnischen Identität entwickelten. Zwischen Religion und Kultur, zwischen Moral und Ritual wurde noch nicht unterschieden. Die Menschen lebten in einer von Göttern und Geistern kontrollierten Welt, die für sie Personifizierungen der Kräfte der Natur waren. Man musste ihnen gehorchen und sie gnädig stimmen. In der zweiten, der nach Geering „trans-ethnischen Phase“ trat die ethnische Identität in den Hintergrund. Religion und Kultur, Ritual und Moral wurden nun voneinander unterschieden. Drei religiöse Traditionen überschritten am erfolgreichsten kulturelle und ethnische Grenzen: Buddhismus, Christentum und Islam; bis zum Jahr 1900 war die Welt zwischen ihnen in den buddhistischen Orient, den islamischen Mittleren Osten und den christlichen Westen aufgeteilt. Aber schon vor 1900 war eine dritte Periode kultureller Evolution entstanden: Geering nennt sie die „globale und humanistische Phase“, die weder von Polytheismus noch von Theologie geprägt ist. Diese moderne Kultur verbreitet sich nun auf dem Globus – zum großen Verdruss der alten Religionen, deren traditionelle Formen sie untergräbt. Daher entstehen reaktionäre religiöse Bewegungen, die die Flut der dritten kulturellen Phase aufhalten wollen – wir kennen sie unter anderen als christlichen, muslimischen, hinduistischen Fundamentalismus. Während traditionelle religiöse Formen in der modernen Welt in Bedeutungslosigkeit versinken, eröffnen sich gleichzeitig neue Perspektiven dafür, was es heißt, religiös zu sein. Religiöses Denken und Handeln muss sich nun an dieser Welt ausrichten und nicht an einem späteren Jenseits. Daher kann Religion in dieser dritten Phase säkular genannt werden, so Geering. In diesem neuen kulturellen Zeitalter werden wir uns dessen bewusst, dass wir alle, unabhängig von Klasse, Rasse, Geschlecht, Religion oder Alter, Menschen sind. Wir entwickeln wachsendes Interesse an den Menschenrechten. Wir haben festgestellt, dass das, was für göttlich oder transzendent gehalten wurde, nichts anderes als menschliche Einschätzungen unserer Vorfahren in der Vergangenheit waren. In einem späteren Buch schreibt Geering darüber, dass das Königreich Gottes, von dem Jesus sprach, gekommen sei 3, ohne dass wir es bemerkt hätten: in der Sklavenbefreiung, der Emanzipation von Frauen aus männlicher Dominanz, der Anerkennung der Menschenrechte, der Akzeptanz der Rechte Homosexueller. Und für diese Entwicklung gäbe es ausreichend Material in den Worten Jesu, um uns zu helfen und für die Zukunft zu inspirieren. Während seines Lebens in einer sich laufend ändernden Welt habe er, Geering, herausgefunden, dass Vieles, was er aus der Geschichte des Christentums gelernt habe, ihm heute unerwarteterweise in neuem Licht erscheine. Und er zitiert dazu den christlichen Mystiker aus dem Mittelalter, Meister Eckhart:

Soll Gott gesehen werden, so muß es in einem Lichte geschehen, das Gott selbst ist.

  1. In einem informativen Radiointerview aus dem Jahr 2003 spricht er ausführlich über seine persönliche und akademische Entwicklungsgeschichte: http://www.abc.net.au/religion/stories/s1333339.htm. http://en.wikipedia.org/wiki/Lloyd_Geering gibt einen Überblick über sein Leben, seine Arbeiten und sein Wirken. Auf youTube gibt es zahlreiche Videos mit Geering in englischer Sprache.
  2. Näheres über diesen französischen Naturwissenschafter und katholischen Theologen unter: http://de.wikipedia.org/wiki/Pierre_Teilhard_de_Chardin
  3. Mir ist klar, dass dieser Satz angesichts des Zustands unserer Welt schwer zu verdauen ist. soldes coque iphone Ich würde Geering so interpretieren: Wir Menschen haben uns Handwerkszeug geschaffen, an diesem Königreich zu arbeiten. Dessen können und sollen wir uns bedienen. E.G.

Wie bin ich denn? So – oder doch vielleicht anders?
Wie unser Selbstbild unser Leben beeinflusst. 2. Teil
von Victor von der Heyde

Victor-smHier nun der zweiter Teil von Victor von der Heydes Vorschlägen unter dem Titel „Honouring our empty selves“1:

Wie kommen wir also zu einem genaueren Bild von uns selbst? Wie machen wir das? Wir können es beim Sitzen zum Thema machen, es geht aber auch in einer Art Betrachtung. Drei Vorschläge: Du kannst aufschreiben, wie du dich in bestimmten Bereichen siehst: als Kind deiner Eltern, als gesellschaftlich aktiver Mensch, in bezug auf dein Aussehen, in deinem Verhalten in Beziehungen…schreib möglichst unzensuriert auf, was dir da so in den Sinn kommt. Lass es Revue passieren, sodass du danach langsam in jedem einzelnen dieser Bereiche darüber reflektieren kannst – sei deine Sicht positiv oder negativ. Und wenn deine Sicht negativ ist, kannst du versuchen, sie dir in einfühlsamer Haltung nochmals deutlich zu machen. Auf diese Weise kannst du Bereiche deines Selbstbilds aufdecken, die dir normalerweise wenig zugänglich sind. Es geht dabei nicht nur darum, dich positiver zu sehen, sondern auch darum, wie sich deine Sichtweise von Situation zu Situation je nach deinem inneren Zugang ändert. Eine zweite Möglichkeit: die japanische Technik des Naikan 2. Das ist eine sehr ergiebige Praxis von drei Fragen, die auf unterschiedliche Weise geübt werden kann. Eine Möglichkeit wäre, dich zu fragen: Was habe ich in den letzten 24 Stunden von der Welt bekommen? Das kann alles mögliche sein: Elektrizität, Benzin, ein Fahrrad, Essen vom Markt, ein Lächeln, ein Gespräch mit einer Freundin…du kannst da durchaus ins Detail gehen. Zweite Frage: Was habe ich in diesem Zeitraum der Welt gegeben? Dritte Frage: Welche Probleme, welche Schwierigkeiten habe ich in den letzten 24 Stunden verursacht? Das ist oft nicht einfach, kann auch nur eine Kleinigkeit sein. Diese Praxis kann deinen Blick für deine Stellung in der Welt schärfen. Manche Leute stellen dann fest, wieviel sie bekommen im Vergleich mit dem, was sie geben – das kann zu mehr Wertschätzung der Umwelt führen. Und wiederum: die Wertschätzung ergibt sich aus einer bestimmten Art, sich selbst anzuschauen. Eine dritte Möglichkeit: Was kommt hoch, wenn du ohne Vorgaben über dich selbst nachdenkst? Vielleicht siehst du dich als eine normalerweise recht freundliche Person, oder als klug, oder zufrieden, oder gutaussehend, oder irgendetwas anderes. Es kann hilfreich sein, das niederzuschreiben. In einem späteren Schritt forschst du nach Situationen, in denen das Gegenteil zugetroffen hat. Du hast da also eine Geschichte über dich – das ist vielleicht eine gute Geschichte, aber ist es die ganze Geschichte? Gibt es eine andere Seite? Vielleicht verfeinert sich deine Sicht auf dich selbst ein wenig. Wenn wir uns selbst betrachten, nehmen wir vor allem das wahr, was in unser bisheriges Selbstbild passt. Mit dieser Technik suchen wir bewusst das Gegenteil. Vielleicht siehst du auch hier, dass das, was du siehst, davon abhängt, mit welcher Absicht du schaust. Wir haben Bilder von uns selbst, an denen wir festhalten, und wir tun das manchmal zu sehr. Es geht also darum, diesen Griff zu lockern. Diese Bilder hängen oft von unserer Sichtweise ab. Wenn es uns gelingt, Einfluss auf unsere Selbstbilder zu nehmen, können wir für sie vielleicht einen respektvolleren Bezugsrahmen schaffen und positive Qualitäten, Anstrengungen und Absichten in uns eher gelten lassen. a_Buddha-AusrittIhr kennt die Legende von Buddha. In einer westlichen Version hätte Buddha sagen können: mein Leben war schwierig. Ich hatte einen Vater, der mich massiv kontrollierte, mich nicht aus dem Haus ließ, hohe Erwartungen wurden an mich gestellt, ich hatte keine Mutter und wurde von einer Stiefmutter aufgezogen.Nachdem ich mein Heim verlassen hatte, fixierte ich mich auf Tod und Leiden und geriet an Freunde, mit denen ich mich fast zu Tode hungerte – das war alles wirklich schwierig. Buddha hat diesen Rahmen für sein Selbstbild nicht gebraucht. Sein positiv gefärbter Rahmen war: ich bin auf ernsthafter, edler Suche.

  1. nachzuhören unter www.dharma.org.au/v
  2. für eine erste Information: https://de.wikipedia.org/wiki/Naikan

Was es ist

Es ist Unsinn sagt die Vernunft

Es ist, was es ist sagt die Liebe

Es ist Unglück sagt die Berechnung

Es ist nichts als Schmerz sagt die Angst

Es ist aussichtslos sagt die Einsicht

Es ist, was es ist, sagt die Liebe

Es ist lächerlich sagt der Stolz

Es ist leichtsinnig sagt die Vorsicht

Es ist unmöglich sagt die Erfahrung

Es ist, was es ist, sagt die Liebe.

Erich Fried