Heute möchte ich über den Begriff care sprechen – vor allem als Bezugsrahmen für unsere Praxis. Sorgfalt und Fürsorglichkeit können uns einen Kontext bieten für alles, was unsere Praxis umfasst.
Bevor wir damit beginnen, möchte ich einige Gedanken über das Wesen von Säkularität präsentieren. Die traditionellen Formen von Religiosität scheinen auch im Buddhismus nicht mehr recht zu passen. Wir finden uns in einer Welt, in der Religion – zumindest in ihren äußeren Ausdrucksformen – sich unangebracht oder verfehlt anfühlt. Die Bewegung des säkularen Buddhismus ist ein Versuch, eine Sprache und eine Form zu finden, uns der Praxis zu verpflichten, und zwar in einem Setting, das nicht von dogmatischen Glaubenssätzen, von einem Machtgefälle zwischen Priestern und Laien und ähnlichem beeinflusst ist. Säkularität mag sich ansprechend anhören, aber wenn wir den Begriff genauer untersuchen, wird es – leider, oder zum Glück? – ein wenig kompliziert.
Charles Taylor, ein kanadischer Philosoph, hat viel über die Bedeutung von Säkularität nachgedacht. Vor ein paar Jahren hat er das Buch A secular age veröffentlicht. Darin versucht er, den Begriff säkular zu klären. Er streicht etwas heraus, was ich sehr hilfreich finde: Säkularität hat damit zu tun, wie wir heute über Zeit denken. Das Wort säkular kommt vom lateinischen saeculum mit der Grundbedeutung dieses Zeitalter – der Begriff ist also verbunden mit unserer gegenwärtigen Zeit. Taylor unterscheidet zwischen säkularer Zeit und höherer Zeit. Die höhere Zeit ist in verschiedenen Formen diejenige Zeit, in der Dinge sich nicht wesentlich verändern. Ein Beispiel: in Korea geht man am Vollmondtag oder am Halbmondtag zum Tempel. Was dort geschieht, ist mehr oder weniger seit hunderten Jahren dasselbe: das gibt es ein vergoldetes Bild des Buddha, wohlbekannte Darstellungen religiöser Geschichten, und die Gesänge werden seit hunderten Jahren in gleicher Weise rezitiert. Jahrestage wie Buddhas Geburtstag oder der Tag seiner Erleuchtung beziehen sich auf eine Zeit, die sich nicht wirklich ändert – es ist ein ewiges Jetzt. Traditionell religiöse Menschen gehen wöchentlich oder monatlich zu einem geweihten Platz, um wieder mit etwas Ewigem, das sich nicht ändert, in Verbindung zu treten und auf diese Weise Zugang zu etwas zu bekommen, das man „höhere Werte“ nennen könnte. Das könnte Rahmenbedingungen schaffen für Inspiration oder Fühlungnahme mit dem, was wirklich wichtig ist; und wenn man ins Alltagsleben zurückkehrt, dann tut man es unter der Perspektive dieser höheren Werte. Im Zuge der globalen Säkularisierung halten Menschen zunehmend diese Art von höherer Zeit für irrelevant oder wenig bedeutungsvoll; sie haben den Kontakt mit ihr verloren und leben ihr Leben in einer Zeit, die einfach nur eine endlose Aufeinanderfolge von Momenten ist. Sehr lebendig sieht man das in Romanen – in heutigen Romanen haben Menschen keinen Zugang zu solch einer höheren Zeit; man wird zum Zeugen und Teilnehmer ihres Leben, wie sie durch säkulare Zeiten gehen.
Was wir hier tun: wir haben zwar besonders intensiv religiöse Aspekte minimiert, aber wir haben ein Bild des Buddha hier, wir haben einen Tagesplan – wir gestalten ein religiöses Ritual in diesem Raum. Menschen fragen manchmal: warum gibt es hier nicht mehr Rituale? Kein Glockenläuten, keine Räucherstäbchen? Aber 45 Minuten bewegungslos auf einem Kissen zu sitzen und dabei bestimmten Vorgaben zu folgen, ist eine hoch ritualisierte Aktivität. Wir haben zwar Teile eliminiert, konzentrieren uns aber auf Hauptelemente von Praxis. Wenn wir sitzen, verlassen wir die säkulare Zeit und kehren zu einer höheren Zeit (in Taylors Sprache) zurück, wobei wir uns mit dem zu verbinden versuchen, was in einem endgültigen Sinn wirklich wichtig ist.
Das lässt sich gut illustrieren, wenn uns den weit verbreiteten Ausdruck säkulare Achtsamkeit ansehen. Die Frage ist: Was ist der Unterschied zwischen einer Person, die Achtsamkeit aus rein säkularen Gründen übt und einer Person, die Achtsamkeit als Teil eines existentiellen Anliegens praktiziert? Nehmen wir etwa einen Menschen, dem ein achtwöchiger Kurs in Achtsamkeit verschrieben worden ist, um einen Rückfall in Depression zu verhindern. Er würde genau dieselben Übungen machen wie wir hier, aber mit einem definierten Ziel, nämlich, einen Rückfall in Depression zu verhindern. Wenn aber dieses Ziel erreicht ist, hat die Meditation ihren Zweck erfüllt, nämlich mehr gesundheitliches Wohlbefinden. Ein Mensch, der genau dieselbe Art von Meditation in einem Retreat-Setting wie diesem macht, wird das tun, nicht um ein bestimmtes Kurzzeit-Ziel zu erreichen – auch wenn das ein Nebeneffekt sein könnte -, sondern um sich in irgendeiner Weise mit der eigenen Existenz zu beschäftigen, wie die Chinesen sagen: den großen Themen von Geburt und Tod. Ich zum Beispiel finde, wenn ich täglich meditiere: manchmal kann das wirklich hoffnungslos sein. Mein Geist ist völlig zerstreut, nicht recht fokussiert, ich fühle mich ruhelos – viele der Erfahrungen, die ihr vielleicht hier macht. Aber seltsamerweise macht das nichts aus. Ich meditiere ja nicht, um irgendein beschreibbares Ergebnis zu erreichen, einen Effekt zu erzielen. Ich tue es auf eine viel kompliziertere Art. Egal warum: ich habe das Vertrauen, oder den Glauben, dass diese Übung – in dieser höheren Zeit zu sitzen – mich irgendwie erneuert, oder mit vielen anderen Werten in Verbindung bringt, die ich hochhalte und nach denen ich leben möchte. In diesem Sinn wird Achtsamkeit etwas ganz anderes als bloß eine Technik zur Erreichung eines bestimmten Zieles.
Eines der Worte, die Buddha gebrauchte, um den Dharma zu beschreiben, ist akaliko. Buchstäblich bedeutet es: zeitlos. Auch das legt nahe, dass die Hauptlehren und die Praxis außerhalb der säkularen Zeit existieren. Sie wurden wiederholt, über Generationen weitergegeben, und was wir hier tun, unterscheidet sich vielleicht nicht allzu sehr von dem, was Leute vor 2000 Jahren getan haben. Mit anderen Worten: diese Anleitungen und Übungen transzendieren in bestimmter Weise unsere Alltagsanliegen und bringen uns mit etwas, was höheren Wert hat, in Verbindung. Gleichzeitig beschreibt Buddha den Dharma auch als sanditiko, und das bedeutet: klar sichtbar. Der Dharma ist also nicht etwas Höheres in dem Sinn, dass er außerhalb unserer temporären Erfahrung läge, sondern er liegt in der Nähe, ist verfügbar und zugänglich. Jedes Mal, wenn unsere gewohnheitsmäßige Reaktivität zur Ruhe zu kommen beginnt, und sei es nur für einige Momente, und wir uns in einem klaren, vielleicht leeren Geisteszustand befinden, in diesem Augenblick erfahren wir den zeitlosen Dharma. Der Dharma existiert nicht außerhalb der säkularen Zeit, sondern wohnt jedem vergehenden Augenblick als eine gegenwärtige Möglichkeit inne. Es gibt also eine gewisse Spannung zwischen unserem säkularen Leben und jenen Momenten in unserem säkularen Leben, in denen wir uns sammeln, auf einem Kissen oder in einem Tempel, oder wo auch immer, und uns mit etwas, was unsere Alltagsgeschäfte übersteigt, wieder in Verbindung setzen. In diesem Sinn ist unsere Praxis eine Art von Gespräch, oder von Auseinandersetzung, zwischen dem, was wir am höchsten wertschätzen, und unserer Anwendung dessen in der Unordnung der Alltagsexistenz. Das ist es eigentlich, was wir unter Praxis verstehen.
Was also ist Praxis? Wir haben jetzt herausgearbeitet und zur Kenntnis genommen, dass wir bei einem Retreat eine Art von geistlichem Raum schaffen und eine Art zeitlich begrenzter Gemeinschaft; gleichzeitig bemühen wir uns um eine Praxis, die wir in unserem Alltagsleben zu hause anwenden wollen. Diese Spannung zu bewältigen wird für die meisten von uns eines der wichtigsten Themen unserer Praxis sein. Das, was es in einer höheren Zeit, in der Zeitlosigkeit gibt: wie setzen wir das um im säkularen Strudel des täglichen Lebens, dem wir auf unvorhersehbare Weise ausgesetzt sind, bei unseren Angelegenheiten, unserer Familie, unserem Job, unserem Innenleben?
Ich bin in Buddhas letzter Belehrung vor seinem Tod auf einen Begriff gestoßen, der uns da sehr hilfreich sein kann. Er sagte: die Dinge zerfallen, beschreitet den Pfad mit Sorgfalt und Fürsorglichkeit. Das ist sein letzter Rat an seine Anhänger. Einerseits anerkennt er die Fragilität des Lebens, dass wir verletzlich sind, dass Dinge nicht von Dauer, dass sie flüchtig sind. Und weil das so ist, sollen wir unseren Pfad im Leben apamadena, mit care, mit Sorgfalt und Fürsorglichkeit, beschreiten. Bei care denke ich hier nicht an ein spezielles Element unserer Praxis; der Begriff umfasst sie in gewisser Weise alle. Um das zu illustrieren, vergleicht Buddha apamada mit dem Fußabdruck eines Elefanten. So wie die Fußabdrücke aller gehenden Lebewesen in den Fußabdruck eines Elefanten passen, bewirkt care, Sorgfalt und Fürsorglichkeit, das Gute in all seinen Formen. Denkt an die Tugenden, die in der Praxis kultiviert werden sollen: Achtsamkeit, Mitgefühl, liebende Güte, Konzentration etc. – Buddha sagt, sie alle sind wie die Fußabdrücke von Tieren, die in den Fußabdruck des Elefanten passen. In weniger metaphorischer Sprache sagt er: alle heilsamen Zustände haben ihre Wurzeln in care und laufen in ihr zusammen. Sorgfalt und Fürsorglichkeit bilden den Raum, der die Gesamtheit all dieser Tugenden oder Fähigkeiten umfasst. Im Englischen hat das Wort care– glücklicherweise – eine hier sehr passende doppelte Bedeutung: we can be careful, and we can be caring – wir können sorgfältig sein, und wir können fürsorglich sein. Ich bin nicht sicher, ob das Pali-Wort all das ausdrückt, aber zumindest der Kontext legt nahe, dass die Praxis dazu da ist, zu üben, sorgfältiger, wachsamer, aufmerksamer zu sein, aber auch fürsorglicher. Es geht um care nicht nur für uns selbst und dafür, was unser Leben sein könnte, und wie wir es leben wollen, sondern auch um Sorge für andere und für die Welt, in der wir leben. Ich habe das Gefühl, dass der Begriff care all dies ausreichend umfasst.
Wir sollten auch festhalten, dass a-pamada, dieses Wort, das ich als care übersetze, in Pali eine negative Bedeutung hat. Pamada bedeutet nachlässig, träge, und oft bedeutet es betrunken. A-pamada ist das Gegenteil davon.
Wie fühlt sich pamada an? Als eine Lebensform außer Kontrolle, als wäre man nicht zuständig für das, was geschieht. Und hier liegt eine fast unvermeidliche Erfahrung, wenn man beginnt, Meditation zu üben. Du bekommst eine sehr einfache Anweisung, zum Beispiel, den Atem zu beobachten. Nichts könnte viel einfacher sein, gleichzeitig könnte nichts viel schwieriger sein, weil wir es mit einem Geist zu tun bekommen, der lieber alles andere täte als sich auf den Atem zu konzentrieren. Und das ist einer der aufschlussreichsten Aspekte von Meditation: dass wir erfahren, wie wenig wir uns unter Kontrolle haben, trotz unserer tief aufrichtigen Motivation. Wir sitzen auf dem Kissen und der Geist dreht durch. Er geht in die Zukunft, in die Vergangenheit; er hat da kein besonderes Anliegen – er wandert einfach herum.
Ein Ausdruck, der in den frühen Texten häufig auftritt, ist asava. Es gibt viele Übersetzungen dafür; buchstäblich bedeutet es Leck, Ausfließen. Das wird recht deutlich, wenn wir in Meditation sitzen und versuchen, unsere Aufmerksamkeit zusammen zu halten, aber anstatt dessen fließt der Geist einfach aus. Buddha spricht davon, wie sinnliche Begierde, oder auch Ansichten und Meinungen, Gedanken und Ideen aus dem Geist ausfließen. Unser Geist ist in gewisser Weise inkontinent. Überprüft das – stimmt es? Ich kann damit etwas anfangen. Shantideva sagt: obwohl ich frei von Leiden sein wollte, laufe ich ihm entgegen als ob es mein liebster Freund wäre. Das ist asava, und damit müssen wir zurechtkommen, wenn wir einfach still sitzen und darauf achten, was geschieht.
Ein besonders gutes Beispiel beschreibt der französische Essayist Michel de Montaigne aus dem 16. Jahrhundert, der sich im Alter von 40 Jahren aus den Geschäften der Welt in einen Turm zurückzog, um dort seinen Geist völligem Müßiggang zu überlassen, gelassen nur mit sich selbst beschäftigt. Soweit seine Phantasie. Was wirklich geschah, beschreibt er so: Mein Geist sauste davon wie ein durchgegangenes Pferd, und machte sich viel mehr Mühe mit sich selbst als jemals zuvor mit irgendetwas anderem. Er produzierte Unmengen von eingebildeten und fantastischen Monstrositäten, eine nach der anderen, ohne jede Ordnung oder Plan. Montaigne ist ein ehrlicher Mann, er kommt immer wieder darauf zurück, wie er da die Unkontrollierbarkeit seines Geistes beobachtet hat. In einem späteren Essay, in dem er sich selbst zum Gegenstand der Beobachtung macht, schreibt er: Ich kann mein Thema nicht ruhig halten. Es taumelt verwirrt herum in natürlicher Trunkenheit. Er bringt auf den Punkt, was geschieht, wenn man versucht, still zu sitzen. Blaise Pascal sagt Ähnliches: Die größte Quelle menschlichen Leides ist, dass wir unfähig sind, still in einem Raum zu sitzen. Das ist ein ernüchternder Gedanke, aber wir, die wir das eine Weile versucht haben, wissen vielleicht, was er meint.
Das gibt uns vielleicht ein wenig Gefühl dafür, wovon care, Sorgfalt und Fürsorglichkeit, das Gegenteil ist. Pamada, Herumtaumeln in natürlicher Trunkenheit, unfähig sein, still in einem Raum zu sitzen – was wäre das Gegenteil davon? Buddha, Montaigne, Pascal, all diese Leute bestätigen die enorme Herausforderung die es bedeutet, eine Lebensform zu finden, mit dieser natürlichen Trunkenheit umzugehen. Und ihr habt vielleicht die Erfahrung gemacht, dass es nicht viel einfacher wird, wenn man schon eine Anzahl von Jahren meditiert hat. Du kannst Experte in Meditation sein und dennoch durch Zeiten gehen, wo alles verrückt spielt. Es ist nicht etwas, was wir einfach abschalten können, es scheint Teil der menschlichen Natur zu sein. Und die Verfassung, die Buddha, oder auch Montaigne anstreben, ist eine nicht-trunkene, eine, in der wir dieses durchgehende Pferd irgendwie unter Kontrolle gebracht haben. Aber mit dem Wort Kontrolle haben viele von uns wahrscheinlich so ihre Probleme, weil es mit den Begriffen Unterdrückung, Anstrengung mit zusammengebissenen Zähnen, innerer Anspannung, vielleicht sogar einer Form von Selbsthass verwandt ist. Wir wissen, wie leicht religiöse Praxis in eine Art von Selbstbestrafung übergehen kann – davor warnte der Buddha sehr. Aber aus purer Frustration darüber, dass wir nicht imstande sind, still zu sitzen und unseren Geist ruhig zu halten, kann manchmal der Wunsch auftauchen, sich selbst zu bestrafen – ich kenne das. Das ist oft mit Formen intensiver Religiosität verbunden und führt in allen großen Religionen in Extremfällen zu Selbstgeißelung und ähnlichem.
Im Dhammapada heißt es: care ist der Weg zur Todlosigkeit, carelessness ist der Weg zum Tod. Die sorgfältigen und fürsorglichen Menschen sterben nicht, die, die nicht sorgfältig und fürsorglich sind, leben so, als wären sie schon tot. Beim Begriff von care oder dem Gegenteil davon geht es nicht um Bevorzugung einer Sache, die man hat oder nicht hat; für den Buddha scheint es ganz zentral dafür zu sein, was Leben eigentlich bedeutet, voll zu leben; auf eine Weise zu leben, bei der wir nicht durch die Gewalt des Todes eingeschränkt oder festgehalten werden. Das impliziert, dass ein ruheloser Geist nicht wirklich am Leben ist, dass in diesem Zustand die Macht von Mara uns hemmt und davon abhält, voll lebendig zu sein. Es ist also wirklich eine Sache von Leben und Tod. Wenn wir ein volles, gedeihliches Leben führen wollen, müssen wir uns mit dieser Art von innerem Tod auseinandersetzen: dass wir oft getrieben und gezogen werden vom Herumschweifen des Geistes, das uns einmal freudig erregt, ein andermal deprimiert. Es gibt da ein schönes Zitat von Shantideva: Es ist, als wäre ich von einem Bann hypnotisiert: Feinde wie Hass und Gier haben weder Arme noch Beine, sind weder mutig noch weise, wie konnte ich mich von ihnen zum Sklaven machen lassen? Anders gesagt: mit steigendem Bewusstsein realisieren wir, dass wir oft einfach versklavt sind, dass wir manipuliert werden durch Furcht, Hass, Begierde, Intoleranz, Eifersucht, Sorgen, Ängstlichkeit…Und auch wenn wir das Selbstbild eines verantwortungsbewussten Menschen haben – wenn wir innehalten, werden wir oft feststellen, dass wir uns nicht sehr unter Kontrolle haben. Hier sind wir wieder bei dieser Bedeutung von Kontrolle. Es geht da nicht um eine Art von bewusster Selbstbestrafung, sondern darum, den Raum, in dem wir uns befinden, mit dieser Qualität von Sorgfalt und Fürsorglichkeit zu besetzen. Es geht um die Absicht, mehr präsent zu sein, wacher zu sein, genauer zu sein, was unser eigenes inneres Leben betrifft. Es geht darum, einerseits mehr Stille zu entwickeln, indem wir üben, für immer längere Zeit bei einem einzigen Objekt zu bleiben – sei das der Atem, seien das Geräusche, sei das Metta, sei es ein Koan – all diese Praktiken befähigen uns mit der Zeit, eine Art von innerer Stille zu finden, und das ist wichtig. Aber Meditation ist mehr als nur das. Die innere Stille ist, wenn überhaupt, nur der erste Schritt. Wenn wir mehr und mehr Momente der Stille erfahren, erhebt sich die Frage: was tue ich als nächstes? An dieser Stelle bewegt sich die Praxis in Richtung Vipassana: intensives Schauen, Beobachten. Das ist wichtig, weil es uns sensibilisiert für die allerersten Zeichen von Furcht, oder Sorgen, oder was immer daherkommt. Und anstelle sie erstarken zu lassen, bis sie fast unwiderstehlich intensiv werden, lernen wir, sie wahrzunehmen und zu stellen, während sie entstehen. Es geht nicht darum, sie auszumerzen, das wäre nur wieder eine aversive Reaktion, sondern darum, fähig zu sein, zu sagen: okay, das geschieht jetzt. Wir müssen es dann nicht bekämpfen, wir müssen ihm nicht nachgeben, wir können das Spiel des Geistes einfach beobachten, das in diesem Moment z.B. Ängstlichkeit entstehen lässt. Die Praxis der Achtsamkeit besteht darin zu sagen: ja, das geschieht gerade, und es ist völlig okay. Es gibt hier keine Feinde und nichts was in sich selbst eine Ablenkung wäre. Wir können uns ablenken lassen, aber der Gedanke, die Emotion, das Gefühl ist einfach nur ein Gedanke, eine Emotion, ein Gefühl. Wir müssen daraus nicht mehr machen als das, wir müssen es nicht dämonisieren, und uns auch nicht verführen lassen.
Das, meine ich, ist ganz nahe beim Innersten dessen, was Buddha mit care meint. Es ist eine Einstellung von Sorgfalt und Fürsorglichkeit. Und man erreicht sie nicht, indem man Wut und Hass und Begierde los wird oder zerstört, sondern lernt, mit ihnen zu leben. Diese Praxis hat nichts mit Zerstörung zu tun. Sorgen und Begehren und Furcht sind einfach natürliche Reaktionen unseres Organismus mit seiner biologischen Vergangenheit, mit seinen psychologischen Gewohnheiten, seinen kulturellen Konditionierungen, die mit der Welt in Kontakt kommen. Das ist in keiner Weise falsch; es ist einfach, was unser Leben in diesem Augenblick tut. Die Herausforderung ist also nicht, in eine Art von Kriegszustand einzutreten, sondern vielmehr fähig zu sein, das, was geschieht, mit Verständnis, Intelligenz, Neugier, vielleicht einem Schuss Ironie anzunehmen. Es geht darum, sich umfassend bewusst zu sein, was vorgeht, voll zu akzeptieren, was sich abspielt, ohne sich darin zu verfangen. Eine Beobachterin zu werden, eine Teilnehmerin, aber nicht ein Opfer dessen, was in uns entsteht. Das klingt nach einer super Idee, ist aber außerordentlich herausfordernd. Diese Reaktionen entstehen sehr schnell – wir lassen uns so leicht von unseren Fantasien davontragen. Achtsamkeit, care, bedeutet, sich bewusst dem zu verpflichten, was immer gerade geschieht, sich weder heftig davon anziehen zu lassen noch es heftig zurück zu weisen, sondern einfach fähig zu sein, dazu zu sagen, ja, das geschieht gerade. Wenn wir uns in diesem Raum niederlassen, lassen wir uns im Raum des Dharma selbst nieder. Diese Qualität des Innehaltens erlaubt uns, eine neue Perspektive auf das Leben selbst zu entwickeln und zu kultivieren.