Montaigne? Das ist doch so ein altehrwürdiger französischer Denker, dessen Texte ziemlich verstaubt und heutzutage schwer lesbar sind? Das stimmt so nicht, wie ich finde. Für mich ist er einer der originellsten Köpfe der neuzeitlichen europäischen Geistesgeschichte, und sein Werk, die Essais, ist durch neue Übersetzungen und Kommentare leicht zugänglich geworden. Hier soll kurz beschrieben werden, wer er war, worum es ihm ging und was sein Name in einem Blog über säkularen Buddhismus zu suchen hat. Michel de Montaigne lebte im 16. Jahrhundert in Südfrankreich. Er stammte aus einer Familie geadelter Kaufleute, sein Vater war durch Handel reich geworden. Als Kind wurde er sorgfältig und unorthodox erzogen: nach ersten Lebensjahren bei einer Amme in einfachen Verhältnissen gab ihm sein Vater einen Hauslehrer, der wie die ganze Familie nur lateinisch mit ihm redete, sodass ihm diese Sprache zeitlebens besonders geläufig blieb; er war von klein auf vertraut mit Schriftstellern und Philosophen der Antike. Er studierte Recht in Bordeaux und Toulouse und übernahm noch sehr jung ein öffentliches Amt bei Gericht. Im Alter von 38 Jahren gab er es auf, wohl unter dem Eindruck des Todes eines geliebten Freundes und einer kleinen Tochter. Der Rückzug ins Privatleben dürfte auch damit zu tun gehabt haben, dass er sich von den grausamen Religionskriegen zwischen Katholiken und Protestanten, die jahrzehntelang anhielten, möglichst fernhalten wollte. Montaigne verbrachte nun einen großen Teil seiner Zeit lesend und schreibend in einem Turm seines Schlosses. Ausgehend von der Lektüre antiker Autoren begann er, über alles zu schreiben, was ihm in den Sinn kam: über Kindererziehung, Philosophie, Literatur, und vor allem anderen offen und ungeniert über sich selbst: seine Freude am Leben und seine Unberechenbarkeit, seinen Umgang mit Bediensteten, seine Liebesverhältnisse und seine Ehe, seine Nierensteine, seinen Speisezettel, seine Trinkgewohnheiten und seine Reiseerlebnisse. Aus all dem entstanden im Lauf von Jahrzehnten die Essais , unsystematisch aneinandergereihte „Versuche“ über so ziemlich alles, was ihren Autor im Leben bewegte. Er schreibt im Vorwort:
Dies hier ist ein aufrichtiges Buch, Leser. Es warnt dich schon beim Eintritt, dass ich mir darin kein anderes Ende vorgesetzt habe als ein häusliches und privates. Ich habe darin gar keine Achtung auf deinen Nutzen noch auf meinen Ruhm genommen…Ich will, dass man mich darin in meiner schlichten, natürlichen und gewöhnlichen Art sehe, ohne Gesuchtheit und Geziertheit: denn ich bin es, den ich darstelle. Meine Fehler wird man hier finden, so wie sie sind, und mein unbefangenes Wesen, soweit es nur die öffentliche Schicklichkeit erlaubt hat…so bin ich selber, Leser, der einzige Inhalt meines Buches…
Das Blättern in dem umfangreichen Werk führt die Leserin zu Themen, bei denen der Autor deutliche Ablehnung äußert: er stellt sich gegen jede Form von eingebildeter Größe und zur Schau getragener Überlegenheit, gegen Heuchelei, Fremdenfeindlichkeit, Intoleranz, Rassismus, und gegen die Vorstellung, der Mensch – beobachtet vor allem in seiner eigenen Person – hätte feststehende, unwandelbare Eigenschaften. Abgesehen davon geht ein zutiefst positiver Grundton durch seine Texte, wie sein Übersetzer Hans Stilett in einer Auswahl besonders prägnanter Textstellen hervorhebt : so sagt Montaigne Ja zum praxisbezogenen Philosophieren, denn: die Philosophie hält ihre Lehren für jeden Menschen bereit, vom KIndesalter bis zum Wiederkindischwerden, und: Philosophieren heißt Sterben lernen, Ja zu Freundschaft und Geselligkeit, denn: die Freundschaft bildet die Krönung der Gesellschaft, Ja zum Essen und Trinken, denn: sie gehören zu den wesentlichsten Verrichtungen unsres Lebens, Ja zur Fröhlichkeit, denn: Der sicherste Stempel der Weisheit ist ein ununterbrochener Frohsinn, Ja zum Lesen, denn: die Bücher bieten denen, die sie recht auszuwählen wissen, viele Annehmlichkeiten, Ja zum Schlafen und Träumen, denn: ich glaube, dass Träume unsere Neigungen zutreffend interpretieren, Ja zur Krankheit, denn: wehzuklagen, weil einem etwas zustieß, das allen zustoßen kann, ist unangebracht, und schließlich auch Ja zu einer gelassenen Haltung gegenüber dem Tod, denn: da es gute Todesarten für Narren gibt und gute für Weise, machen wir doch solche ausfindig, die gut sind für die Menschen dazwischen. Montaigne war Katholik und hat sich, als er in den Zeiten der Religionskriege dazu gezwungen war, auch dazu bekannt. Aber das Christentum interessierte ihn wenig, über Jesus, Himmel und Hölle, die Dogmen der Kirche und Ähnliches hat er nicht geschrieben. Sein Welt- und Menschenbild war geprägt von Philosophen der griechischen Antike, von Vertretern der Stoa, des Skeptizismus sowie von Epikur und seinen Anhängern. Gemeinsam war ihnen das Streben nach Glück (griechisch: Έυδαιμωνία), womit sie gutes Leben in konkreter Praxis meinten. Den besten Weg dazu sahen sie in Gelassenheit (griech.: Άταραξία), dem Erreichen von innerem Gleichgewicht und Seelenruhe. Den Epikuräern ging es darum, heftige Affekte steuern zu lernen und so weit wie möglich im gegenwärtigen Augenblick zu leben. In Montaignes Essais gibt es viele Beispiele dafür, wie er diesem Vorbild zu folgen versuchte. Sein Wahlspruch lautete: Que sais-je? (dt.: Was weiß ich?), die kürzest mögliche Zusammenfassung skeptischen Denkens. Montaigne hatte dieses durch die Lektüre von Sextus Empiricus, einem Schüler des Pyrrho von Elis kennengelernt. Pyrrho reiste im 3. vorchristlichen Jahrhundert im Zuge der Eroberungs- und Kolonialisierungszüge Alexanders des Großen nach Indien und hat dort eine Zeitlang gelebt. In der aktuelle Forschung wird als wahrscheinlich angenommen, dass er – wie auch Epikur – von frühbuddhistischem Gedankengut beeinflusst war und es nach Europa brachte . Pyrrho schlägt vor, sich des Urteilens so weit wie möglich zu enthalten und zu keiner Sache wertend Stellung zu nehmen. Die Dinge seien unstabil, ihre Eigenschaften änderten sich je nach Blickwinkel und Konvention des Betrachters, daher könnten unsere Meinungen nichts Wahres oder Falsches über sie aussagen. Montaigne hat sich intensiv mit Pyrrho beschäftigt; dessen Einstellung der Epoché (griech.: ,Έπoχή), des Sich-Enthaltens von Urteilen, zieht sich durch das ganze Werk der Essais. Epoché zu üben, soll vor allem zu Gleichmut verhelfen; dass dieser durch Festhalten am Besitz einer vermeintlichen Wahrheit unmöglich wird, hat Montaigne als Zeitgenosse der jahrzehntelang wütenden Religionskriege zwischen Katholiken und Protestanten miterlebt. Maßhalten ist ihm Richtschnur für alles Denken und Handeln, er schreibt:
Man sieht gewöhnlich, dass gute Absichten, wenn sie ohne Mäßigung durchgesetzt werden, die Menschen zu sehr fehlerhaften Handlungen verleiten…Ich liebe die gemäßigten Naturen, die die Mittelstraße halten.
Dabei ist er kein Asket; er spricht sich dafür aus, die Freuden des Lebens zu genießen, ohne in Abhängigkeiten zu geraten. Man müsse sich quasi ein Hinterstübchen reservieren, in dem der Geist unabhängig von Äußerlichkeiten sich selbst genug sei.
Mäßigung und Mißtrauen gegen vermeintlich unverrückbare Wahrheiten sind die Hauptmotive im Denken Montaignes. Beides sind Eckpfeiler buddhistischer Lehre. Vom „Mittleren Weg“ zwischen den Extremen der Zügellosigkeit und übertriebener Askese sprach Siddharta Gotama bereits in der ersten Lehrrede nach seinem „Erwachen“; sein „Prinzip der Bedingtheit“, der dauernden Veränderung aller Phänomene, stellt alle unveränderlichen Glaubenssätzen in Frage. Gedanken, die Buddha hinterlassen hat, haben ihren Weg über seine frühen Nachfolger in Indien in die griechische Philosophie der Antike und weiter durch die europäische Geistesgeschichte gemacht; Montaigne hat sie aufgenommen und brillant damit gearbeitet und gespielt .
Seine Essais waren von Anfang an ein Bestseller, sie werden bis heute geschätzt, viel gelesen und oft zitiert. Philosophen haben seine Gedanken weiterentwickelt, Schriftsteller ihn kommentiert und seinen Einfluss auf ihr Leben geschildert.