Ein paar Sätze sind uns, die wir im christlichen Abendland sozialisiert wurden, in die Herzen und Hirne eingewachsen und haben uns geprägt, ob unsere Erziehung religiös war oder nicht. Auch wenn wir sie heute zumindest teilweise nicht mehr für bare Münze nehmen, sind sie nicht leicht loszuwerden – in unseren Hinterköpfen tragen wir sie weiter mit uns herum:
Die Welt ist von einem Gott erschaffen worden. Für schuldhaftes Handeln bestraft er uns, vielleicht auch noch nach dem Tod, den wir fürchten. Der Mensch hat eine unsterbliche Seele, er ist die Krone der Schöpfung und damit wertvoller als andere Lebewesen. Er soll sich die Erde untertan machen, und das am besten schnell. Dafür muss er sich von anderen Menschen abgrenzen und in Konkurrenz zu ihnen treten. Persönlicher Besitz gibt Sicherheit, je mehr, desto besser. Sinnenfreude und sorgenfreie Lust sind verdächtig.
Es gibt in der europäischen Geistesgeschichte eine starke Minderheit von Denkern, die all das – immer entsprechend den gesellschaftlichen Bedingungen der Zeit, in der sie lebten – in Frage gestellt haben. Einer dieser Männer war der römische Dichter und Philosoph Titus Lucretius Carus, der im ersten Jahrhundert v.u.Z. lebte. Er hat ein einziges Werk hinterlassen: Das Lehrgedicht De rerum natura – Über die Natur der Dinge 1.
Es beginnt mit einem hochgestimmten Loblied auf die Schönheit und Fruchtbarkeit der Erde. Im folgenden lehrt Lukrez:
Einen Schöpfergott gibt es nicht, nur Körper und Leere, sonst nichts. Materie besteht aus Atomen, die sich in unendlicher Zahl im leeren Raum bewegen. Durch die immer wiederkehrende Veränderung ihrer Stellung zueinander mit kleinen zufälligen Abweichungen entstehen die Dinge und die Lebewesen: die Natur experimentiert unaufhörlich. Wenn Vorhandenes stirbt, entsteht daraus Neues. Das Universum ist nicht geschaffen worden, schon gar nicht für oder wegen der Menschen – diese sind vergänglich wie alle anderen Lebewesen und ihnen nicht überlegen. Die Seele ist sterblich wie der Körper, weil sie von ihm nicht zu trennen ist. Es gibt kein Leben nach dem Tod, aber dieser berührt uns auch nicht, weil unser Empfinden dann ausgelöscht sein wird. Es gibt einen Kreislauf des Lebens, das wie bei einem Fackellauf in immer neuer Form weitergegeben wird. Ein gutes Leben zu führen bedeutet, alles maßvoll zu genießen, was die Sinne bieten, darunter auch Sexualität, obgleich dabei immer ein Rest Sehnsucht bleibt, weil Verschmelzung für zwei Menschen nicht möglich ist. Genuss ist erstrebenswert, Luxus aber sinnlos und überflüssig. Glück kann nicht auf Kosten anderer erreicht werden. Gemütsruhe ist höchstes Ziel, die größten Hindernisse dafür sind übermäßiges Begehren und die Angst vor dem Tod – beides kann durch Vernunft ausgeräumt werden. Dabei dürfen die Gedanken nie dem sinnlichen Empfinden widersprechen. Religionen sind abergläubische Täuschungen, entstanden aus der Angst der Menschen vor Naturphänomenen wie Blitz und Donner und dem Unwissen über deren Ursachen. So haben die Menschen sich Götter erfunden und sie im Himmel angesiedelt; diese sind aber ganz entrückt und kümmern sich nicht um das, was auf der Welt geschieht. Götterglaube hat den Menschen viel Leid gebracht. Ehrfurcht liegt nicht in Götzenverehrung, sondern nur darin, allem und allen mit ruhigem Geist zu begegnen.
Gegen Ende des Textes beschreibt Lukrez Naturphänomene wie Gewitter, Wolken, Regen und Regenbogen und erklärt sie; so wirkt er abergläubischen Vorstellungen entgegen. Das Gedicht umfasst circa 7400 Verse in geschliffenem, poetischen Latein von großer sprachlicher Schönheit. Es ist eine umfassende Darstellung der Philosophie von Epikur 2, dem verehrten Vorgänger des Lukrez. Epikurs Lehre war mehrere Jahrhunderte lang in der antiken Welt unter einer großen Schar von Anhängern weit verbreitet. Seine Philosophie ist in keinem anderen Text so ausführlich überliefert wie hier. Lukrez würdigt Epikur mehrmals bewundernd als seinen Lehrer – sich selbst nennt er eine Schwalbe neben diesem Schwan. Einiges erinnert an Gotama Siddhartas Lehre. Ohne in Details zu gehen: Heutige Forscher sind sich einig, dass es zwischen den Ideenwelten des frühen Buddhismus und altgriechischer Philosophie Parallelen und Querverbindungen gibt, die mit großer Wahrscheinlichkeit nicht zufällig sind und auf Kontakte zwischen Indien und Griechenland zurückzuführen sein dürften 3. Und eine geistige Verwandtschaft klingt auch für uns Heutige an, wenn wir Lukrez lesen. So sehr De rerum natura von den Zeitgenossen geschätzt und eifrig gelesen wurde: das nahm ein Ende. Der Staat machte sich daran, die Traditionen eigenständig-kritischen Denkens und die selbstverständliche Koexistenz heidnischer Kulte zu zerstören. Es lag im Interesse der kaiserlichen Macht in Rom, die monotheistische Lehre aus dem Vorderen Orient, die nach den anfänglichen Christenverfolgungen viel Zulauf fand, institutionell zu verfestigen. Im 4. Jahrhundert machte Kaiser Theodosius das Christentum zur Staatsreligion; im Zuge der Durchsetzung dieses Schritts wurde der Zugang zu Büchern wie dem des Lukrez, die potentiell subversiv wirken konnten, erschwert, sie wurden öffentlich lächerlich gemacht oder einfach verboten. Das Bild von abgehobenen Göttern im Himmel, die an Menschenschicksalen nicht interessiert sind, passte nicht zu der Vorstellung vom strafenden Schöpfergott. Die Angst vor einer übermächtigen Instanz zu schüren erwies sich als eine gute Strategie, die Angepasstheit von Untertanen sicherzustellen – der Aufklärer Lukrez verfolgte diametral entgegengesetzte Ziele: eigenständiges Denken zu fördern, allem Aberglauben entgegenzuwirken und Angst zu verringern. Nur eine einzige Handschrift seines bis dahin weit verbreiteten Gedichts überlebte. Sie wurde im 15. Jahrhundert von einem italienischen Büchersammler in einem deutschen Kloster aufgespürt 4. Erst im Verlauf der Renaissance und mit dem Aufkommen des Buchdrucks wurde der Text wieder bekannter. Männer wie Michel de Montaigne, Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Nietzsche, Albert Einstein und Albert Camus haben ihn geschätzt und sich auf ihn berufen. Und warum erzähle ich euch das alles? Ich denke daran, wie anders persönliche Entwicklungsgeschichten verlaufen wären, wenn wir im Geiste von Texten wie diesem erzogen worden wären. Wir würden mit weniger Angst leben, meine ich, näher an der Realität, würden uns weniger mit Ideen vom Leben nach dem Tod herumschlagen und wären mit dem Hier und Jetzt besser vertraut. Nun, so ist es nicht gelaufen. Zum Glück haben wir die Kalama-Sutta 5.
- Der Text, in Hexametern verfasst, ist im lateinischen Original und in deutscher Übersetzung zumindest teilweise im Internet zugänglich, z.B. unter: http://www.gottwein.de/Lat/lucr001_inh.php. Eine neue Prosaübersetzung von Klaus Binder ist 2014 erschienen. Unter http://www.textlog.de/lukrez-natur-dinge.html gibt es eine informative Einführung dazu ↩
- Über diesen griechischen Philosophen und seine Lehre gibt es einen ausführlichen und informativen Eintrag in Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Epikur ↩
- Darum geht es in Thomas McEvilleys umfangreichem Werk: The Shape of Ancient Thought, 2002; s. auch der Beitrag: Alles hängt zusammen auf diesem Blog ↩
- Spannend und gut lesbar ist die Rezeptionsgeschichte von De rerum Natura erzählt in: Stephen Greenblatt, The Swerve, How the world became modern, 2011, dt.: Die Wende: Wie die Renaissance begann, 2012, auch als E-Book erhältlich ↩
- das ist die berühmte Lehrrede des Buddha, an Laien gerichtet, in der er ermutigt, sich eigene Meinungen zu bilden. Eine deutsche Übersetzung findet sich auf: http://www.buddhayana-ev.de/inhalte/kalama-deu.htm ↩