Wir kennen die Bilder, die Zeitungsmeldungen, die Dokus und Kommentare zur politischen Situation in Europa und den angrenzenden Kontinenten Asien und Afrika. Die Meldungen werden im Tagesrhythmus verstörender und beängstigender. Die Regierenden Europas haben keinen gemeinsamen Plan für den Umgang mit der Tatsache, dass auf einmal nicht mehr nur das Geld frei fließt, sondern auch Menschen mobil geworden sind, weil sie ihre Lebensumstände in Krieg und Zerstörung, wegen Landraubs oder klimatischer Veränderungen nicht mehr ertragen können. Wir Durchschnittsbürgerinnen und -bürger nehmen all das wahr und haben auch keinen Plan. Wenn ich mir selber zusehe und nachspüre: da ist Mitgefühl mit durchnässten, erschöpften Frauen, Männern und Kindern in Schlauchbooten und gleichzeitig mit den Menschen auf Lampedusa oder Lesbos, die, viele von ihnen selber arm, in jeder Hinsicht überfordert sind. Ich sehe mir Bilder von Kriegsschauplätzen in Syrien und Afghanistan an, Dokumentarfilme über Flüchtlingslager oder über Landraub, der den Menschen ihre Lebensgrundlagen entzieht. Dazu fühle ich mich einerseits „verpflichtet“, andererseits verstärkt es mein Gefühl, hilflos zu sein. Und Angst ist auch in mir: um die eingespielten Strukturen des geordneten alten Europa, wo ich mein bisheriges Leben abgesichert verbracht habe, und natürlich davor, dass mangels eines Plans der ganze Kontinent mit wachsender Beschleunigung den Bach runtergehen könnte. Vielleicht tut er das – die Wahrscheinlichkeit wächst, wie ich meine. Was können wir in naher Zukunft erwarten? Flüchtlinge werden weiterhin Wege nach Europa finden, sie werden nehmen, was sie kriegen können, viele von ihnen, traumatisiert, arm und ohne Ausbildung, auch mit Gewalt. Die Regierenden Europas werden in absehbarer Zeit nicht angemessen und vor allem nicht einheitlich reagieren können. Unser Kontinent wird instabiler werden; die Angst davor wird viele seiner Einwohner in Radikalität treiben. Bevor die Lage besser wird, wird sie wohl noch viel unübersichtlicher, polarisierter, bedrohlicher werden. Beim Nachdenken bin ich wieder auf die große alte Buddhistin, politische Denkerin und Umweltaktivistin Joanna Macy gestoßen 1. Unverblümt und direkt sagt sie uns mit ihren 86 Jahren noch immer: schaut hin. Die Welt ist wirklich in schlimmem Zustand, und sie ist das, weil Menschen so oft außerstande sind, sich dem zu stellen, was weh tut. Sie schreibt:
Die lebenserhaltenden Systeme für menschliche wie für nichtmenschliche Wesen werden zerstört. Die Angst, mit der viele Menschen darauf reagieren, macht sie unzugänglich. Wir glauben, so zerbrechlich und klein zu sein, dass es uns in Stücke reißt, wenn wir es uns erlauben, unsere Gefühle über den Zustand der Welt anzuschauen. Wir fürchten eine tiefe Depression oder Lähmung. Das Gegenteil ist der Fall. Wenn wir es aussprechen, merken wir, dass wir nicht isoliert sind, sondern dass dieser Schmerz weit hinausgeht über das kleine Ego und Konsequenzen hat, die jenseits unserer individuellen Bedürfnisse liegen.
Da sind wir Buddhistinnen und Buddhisten – säkular oder nicht – wieder beim Thema „Selbst“. Wenn wir ernst nehmen, dass jede Abgrenzung zwischen dir und mir eine Fiktion ist, weil wir gemeinsam Teile derselben sich laufend verändernden Welt sind, dann können wir nicht einfach nur hinnehmen, dass Politiker, von Angst getrieben, unseren Kontinent einzäunen. Gute Bekannte von mir wohnen in einem Eigenheim am Land. Sie haben, wie sie schon länger geplant hatten, ihr Auto verkauft und in ihrer Dorfgemeinschaft ein Car-Sharing-Projekt ins Leben gerufen. Ihre Garage haben sie zu einer kleinen Wohnung umgebaut, und dort ist vor ein paar Tagen eine vierköpfige Familie aus Afghanistan eingezogen. Keiner von ihnen spricht ein Wort deutsch, die Kinder im Volksschulalter werden gerade eingeschult. Es gab und gibt Ängste, wie das Zusammenleben laufen kann – es entwickelt sich gerade erst. Schmerz umarmen. Wenn wir Buddhas Wort ernst nehmen, bleibt uns nichts anderes übrig, als hinzuschauen, und zwar genau, und zu handeln, wo und wie es uns möglich ist.
- Über sie und ihre Arbeit gibt es zwei frühere Blog-Einträge auf dieser Website. Ein recht neues, sehr ermutigendes Video findet sich unter: https://www.youtube.com/watch?v=mrCPVtf0bWA. ↩