Die Welt besteht aus Geschichten
von David Loy

StoriesWenn wir glauben, dass wir religiöse Mythen hinter uns gelassen haben, erliegen wir dem Irrtum, diese neueste Version von Kulturgeschichte würde die Welt in sich fassen. 1

Die amerikanische Dichterin Muriel Rukeyser prägte den berühmten Satz: „Das Universum besteht aus Geschichten, nicht aus Atomen“. Wir sind nicht nur Tiere, die Sprache gebrauchen, wir sind Lebewesen, die Geschichten erzählen, denn das ist in allen Kulturen eine elementare menschliche Aktivität. Geschichten sind mehr als nur Geschichten. Mit unseren Geschichten geben wir der Welt Sinn. Es ist nicht so, dass wir die Welt erfahren und uns danach Geschichten ausdenken, um sie zu verstehen. Geschichten lehren uns, was real, was wahr und was möglich ist. Sie sind nicht Abstraktionen vom Leben (obwohl sie das auch sein können); sie sind notwendig, damit das Leben für uns verbindlich wird. Wir machen uns nicht bewusst, dass unsere Geschichten Geschichten sind und nehmen sie üblicherweise wahr, als wären sie die Welt. Wie Fische, die das Wasser nicht sehen, in dem sie schwimmen, nehmen wir normalerweise das Medium, in dem wir schwimmen, nicht zur Kenntnis. Wir halten es für selbstverständlich, dass die Welt, wie wir sie erfahren, mit dem Wesen der Dinge identisch ist. Aber genauso wie die Geschichten, deren Teil sie sind, beeinflussen unsere Konzepte und Ideen über die Welt unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit stark. In der buddhistischen Praxis lernt man früh und immer wieder die Wahrheit auf meinem Lieblingssticker: „Glaub nicht alles, was du denkst“. Diese Erkenntnis mag zu dem Wunsch führen, alle Beschreibungen der Welt abzulehnen und zur Wirklichkeit, die hinter ihnen liegt „zurückzukehren“, zu den nackten Fakten der Erfahrung. Aber auch das bedeutet, eine Geschichte zu inszenieren, die Geschichte über das Loslassen von Geschichten. Es geht hier darum, nicht zu leugnen, dass es eine Welt unabhängig von unseren Geschichten gibt, sondern sich klarzumachen, dass wir Menschen die Welt durch das Geschichtenerzählen verstehen. Im Gegensatz zu dem erwähnten Fisch können wir jedenfalls das Wasser wechseln, in dem wir schwimmen. Unsere Beziehung zu Geschichten kann verändert werden. Geschichten sind Konstrukte, die re-konstruiert werden können, aber sie sind nicht freischwebend. Mit anderen Worten: wir sind Mit-Schöpfer der Welt, in der wir leben. Wir brauchen Geschichten, die den Klimawandel erklären und uns befähigen, über ihn zu sprechen. Wir können die Erderwärmung nicht einfach von den Geschichten darüber trennen – auch wenn einige Erdölkonzerne das versucht haben. Gemäß bestimmter Arten von Geschichten zu leben, führt zu Steigerung von Leiden, und gemäß anderer Geschichten zu leben, kann Leiden verringern. Die zentrale Figur in der grundlegenden Geschichte, zu der wir immer und immer wieder zurückkehren ist das „Selbst“, das „Ich“ für individuell und wirklich halte, das aber in Wirklichkeit aus den Geschichten zusammengesetzt ist, mit denen ich mich identifiziere und nach denen ich zu leben versuche. Geschichten geben meinem Leben die Handlung, die ihm Bedeutung verleiht. Seine Geschichten auszuleben hat Konsequenzen, ein Prozess, der im Buddhismus „Karma“ genannt wird. Aus dieser Perspektive ist Karma nicht etwas, was das Selbst „hat“, sondern das, was zur Empfindung von Selbst wird, während es sich in seinen Rollen verwurzelt. Gewohnheitsmäßige Tendenzen verdichten sich zum Charakter eines Menschen – und das endet damit, dass man ohne Seil gebunden ist. Unser Problem liegt nicht bei den Geschichten selbst sondern darin, wie wir uns mit ihnen identifizieren. Eine Bedeutung von Freiheit ist: die Möglichkeit, die Geschichte zu leben, mit der man sich identifiziert. Eine andere Art von Freiheit ist die Fähigkeit, Geschichten und meine Rolle in ihnen zu wechseln: ich bewege mich vom Charakter, der im Drehbuch festgeschrieben ist, zum Koautor meines eigenen Lebens. Eine dritte Art von Freiheit ergibt sich daraus, verstehen zu lernen, wie Geschichten meine Möglichkeiten erzeugen und beschränken. Der englische Kognitionswissenschafter Guy Claxton nennt das Bewusstsein „…einen Mechanismus zur Herstellung zweifelhafter Geschichten mit dem Zweck, eine überflüssige und ungenaue Empfindung von Selbst zu verteidigen“. Die Haupthandlung solcher Geschichten kreist meist um Furcht und Angst, denn die Hauptfigur „Ich“ kann nie die erwünschte Stabilität und Autarkie erreichen. Solche Narrative versuchen ein Ego abzusichern und zu vergrößern, das sich als vom Rest der Welt getrennt erlebt. Diese Bemühungen haben einen Bumerang-Effekt, denn – wie im Buddhismus hervorgehoben wird: ein solches getrenntes Ich ist Illusion. Zum Erwachen gehört die Erkenntnis, dass meine Geschichte Teil einer viel umfassendere Geschichte ist, die auch die Geschichten anderer Menschen umfasst. Unsere Geschichten haben keine scharfen Ränder, sie hängen miteinander zusammen. Im Aufwachsen akzeptiere ich manche der Geschichten, die die Gesellschaft anbietet und ich bestätige sie durch mein Handeln. Geschichten lehren mich, was es heißt, Bub oder Mädchen zu sein, Amerikaner oder Chinese, Christ oder Buddhist, und wie, in welcher Form und wie weit Erziehung, Religion, Geld usw. wichtig sind. Die Geschichten, die dieser Welt Sinn verleihen, sind Teil dieser Welt. Verändert werden wir nicht, indem wir diese Welt transzendieren, sondern indem wir Geschichten auf neuartige Weise erzählen. Was Religion betrifft, bedeutet das: wir verändern die Metaphern, nach denen wir leben. Religiöse Metaphern und Symbole buchstäblich zu verstehen, geht meist am Kern der Sache vorbei. Die metaphorische Natur religiöser Sprache bedeutet, dass ihre Behauptungen nicht bestätigt werden können. Mythen – wie Metaphern im allgemeinen – vermeiden dieses Problem, da ihre Bedeutung woanders liegt. Zu religiösen Lehren gehören wie zu anderen Ideologien behauptete Aussagen, die man akzeptieren oder ablehnen kann. Mythen bieten Geschichten zum Interagieren. Den buddhistischen Mythos über Siddhartas schicksalhaftes Zusammentreffen mit einem alten Mann, einem Kranken, einem Leichnam und einBuddha trifft auf Alter, Krankeit und Todem Asketen kann man als historisches Faktum verstehen, als eine bildhafte Art der Darstellung, warum Siddharta sein Zuhause verließ, oder als ein Stilmittel, das mit dem tatsächlichen Leben des Buddha vielleicht nichts zu tun hat. Jedenfalls ist der Mythos eine wirkungsvolle Art, seine Lehre zu untermalen. Wenn man ihn als symbolisch versteht, ist diese Mehrdeutigkeit kein Problem – Mythen wirken so; das ist keine Frage von buchstäblicher Wahrheit oder Falschheit. Eine bessere Methode, einen Mythos – eine symbolische Geschichte – einzuschätzen, wäre, zu überlegen, was geschieht, wenn wir ihm gemäß leben. Das wichtigste Kriterium für den Buddhismus liegt darin, ob eine Geschichte das Erwachen fördert. Ein Mythos, der für mich interpretiert worden ist, muss erst noch durch mich interpretiert werden – durch das, was ich aus ihm mache und was er mit mir macht. Eine Geschichte über das Leiden durch Alter, Krankheit und Tod steht quer zu den Geschichten, mit denen wir unsere Sterblichkeit zu ignorieren versuchen: die Bedeutung von Geld, Besitztümern, Ruhm und Macht. Die Sorgen um diese Güter loszulassen eröffnet andere Möglichkeiten, und vielleicht eine andere Beziehung zu Geschichten. Mythen sind nicht einfach schlechte Geschichten, die durch rationale und wissenschaftliche Darstellungen, die die empirische Welt besser erfassen, ersetzt werden müssen. Aus der Perspektive von Geschichten ist einer der gefährlichsten Mythen der von einem Leben ohne Mythen, die Geschichte von einem Realisten, der sich von all dem Unsinn befreit hat. Die Idee, Wissenschaft und systematische Vernunft könnten uns von der angeblichen Unvernunft von Mythen befreien, ist heutzutage eine besonders beliebte Fiktion. Geschichten haben sowohl soziale als auch individuelle Funktionen. Manche Geschichten rechtfertigen zum Beispiel soziale Unterschiede. Mittelalterliche Könige herrschten durch göttliches Recht. Ein indischer Mythos über die verschiedenen Teile des kosmischen Körpers rationalisiert das Kastensystem der Hindus. Wir stellen ein soziales Arrangement in Frage, in dem wir die Geschichte bezweifeln, die sie bestätigt.  Wenn Menschen aufhören, an die Geschichten zu glauben, die die soziale Ordnung rechtfertigen, beginnt der Wandel. Als das Volk Frankreichs das göttliche Recht seines Königs nicht mehr akzeptierte, folgte die Französische Revolution. Eine der vorherrschenden Geschichten unserer Tage ist: wir leben in einer Welt, die von unpersönlichen physischen Gesetzen beherrscht wird, die uns und unserem Schicksal indifferent gegenüberstehen. Menschenwesen haben keine Funktion im gewaltigen Entwurf der Dinge. Wir haben keine entscheidende Rolle zu spielen, außer vielleicht unser Leben zu genießen, so sehr wir können und so lange wir können – wenn uns das möglich ist. Diese Geschichte von einem Universum, das sich ausschließlich auf physische Gesetze und Prozesse reduzieren läßt, wird auch im Sozialen angewendet. Der Gedanke von Entwicklung durch natürliche Selektion hat untergraben, was von der alten religiösen Geschichte des Westens übriggeblieben war: Zur Erklärung der Schöpfung wird Gott nicht mehr benötigt. on the origin of speciesBald nachdem Charles Darwin „The Origin of Species“ veröffentlicht hatte, wurde seine Theorie verwendet, um die Entwicklung eines neuen Typs industrieller Ökonomie zu rechtfertigen. Herbert Spencer prägte den Begriff: „survival of the fittest“ und wandte ihn auf die menschliche Gesellschaft an. Du musst über den Kerl, der dir auf dem Weg nach oben der nächste ist, drübersteigen oder er wird über dich steigen. Wert und Bedeutung von Leben wurden weitgehend aus der Sicht von Überleben und Erfolg verstanden, die Maßzahl dafür war hauptsächlich Geld, nicht Fruchtbarkeit. Laut dieser Geschichte geht es im Leben darum, was du kriegen und womit du durchkommen kannst, bis du stirbst. Du bist entweder ein Gewinner oder ein Verlierer, und wenn du nicht erfolgreich bist, gib niemand anderem die Schuld. Es war kein Zufall, dass Spencers Geschichte vom Sozialdarwinismus die Mächtigsten am meisten ansprach. Industriebonzen wie Andrew Carnegie und John D. Rockefeller begrüßten seine Philosophie. Offensichtlich blüht und gedeiht die Hauptaussage des Sozialdarwinismus – dass man seine eigenen wirtschaftlichen Interessen auch auf die Kosten des Wohlbefindens anderer verfolgen soll – noch immer. Aus buddhistischer Perspektive scheint es ebenso offenkundig, dass diese Geschichte das Abstoßende ihrer Motive leugnet, vor allem der „drei Gifte“ Gier, Hass und Ichsucht. Der verblendete Glaube, dass ein Mensch vom anderen getrennt sei, gestattet es, seine eigenen Interessen unabhängig davon zu verfolgen, was diesem anderen geschieht. Soziologen haben darauf hingewiesen, dass eine Anwendung des Darwinismus auf soziale Zustände unpersönliche biologische Vorgänge mit menschlichen Einrichtungen, die reformierbar sind, vermischt. Aber wenn genügend Leute diese Geschichte glauben und dementsprechend handeln, wird sie zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung. Dann konstruieren wir die soziale Welt nach diesen Prinzipien und die Gesellschaft wird tatsächlich in eine Art von darwinistischem Dschungel verwandelt. Während ich das schreibe, wird in einem neuen Oxfam Bericht 2 festgestellt, dass im Jahr 2014 das reichste Prozent der Weltbevölkerung 48 Prozent des Reichtums der Welt zu eigen hatte, während die 80 Prozent am unteren Ende der Reichtumsskala etwa 5 Prozent besaß. Wenn das mit grundlegenden sozioökonomischen Gesetzen in Übereinstimmung stünde, würden wir eine solche Entwicklung ablehnen und irgendwie versuchen, sie zu hemmen, müssten uns aber nicht prinzipiell an derart große Mißverhältnisse anpassen. Die sozialdarwinistische Geschichte trägt also dazu bei, eine solche Ungleichheit zu „normalisieren“ und legt nahe, sie zu akzeptieren. Es gibt aber Alternativen. Statt eine solche Geschichte zu akzeptieren, die nur dazu dient, den wachsenden Reichtum und die steigende Macht einer privilegierten Elite zu rationalisieren, können wir nach besseren Geschichten Ausschau halten, besser, weil ein ihnen gemäßes Leben soziales Dukkha verringern würde. Sowohl kollektiv als auch persönlich können unsere Geschichten geändert werden, und in diesem Fall müssen sie sich ändern, damit wir auf die ökonomischen und ökologischen Herausforderungen, mit denen wir jetzt konfrontiert sind, besser reagieren können. Im pluralistischen Klima unserer Gegenwart können wir die grundlegenden religiösen und säkularen Narrative, die uns in der Vergangenheit gedient haben, nicht länger in gleicher Weise verstehen. Wir können uns in einen beschränkten Rahmen zurückziehen, in dem nur eine einzige Weltsicht gilt, oder wir können die Vielfalt von Geschichten und Perspektiven im Geist spielerischen Nicht-Anhaftens annehmen.

  1. „The World is made of Stories“ von David Loy wurde im Sommer 2015 im buddhistischen Magazin „Tricycle“ veröffentlicht und mit Zustimmung des Autors für unsere Website übersetzt
  2. Oxfam ist eine internationale Entwicklungsorganisation, E.G.

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