Vor kurzem habe ich Toni Innauer im Radio zugehört, einem erfolgreichen ehemaligen österreichischen Skispringer und Trainer:
Ich glaube, dass das im Menschen drinnen liegt, sich entwickeln zu wollen, dazulernen zu wollen, zu wachsen, sich zu verfeinern, sich zu verbessern, nicht nur bankkontomäßig, sondern als wahrnehmendes Wesen, das das Leben bewundert, das Dinge differenzierter zu sehen lernt – das ist ja quasi unlimited.
Er setzt heute als Autor und Berater auch auf die Kraft der Meditation. Dinge differenzierter sehen zu lernen – ist das nicht eine vereinfachte Kurzformel, eine Art Überschrift für das, worum es in der Satipatthana Sutta geht1? In unserer Wiener Sangha stützen wir uns schon seit geraumer Zeit beim Meditieren auf „Recollective Awareness“2 als wirkungsvolles Hilfsmittel bei der meditativen Übung, die Dinge differenzierter sehen zu lernen. Wir haben es mit und ohne Jason Siffs Unterstützung angewandt3. Ein Thema, das dabei immer wieder auftaucht und vor allem mich beschäftigt, seit ich zu meditieren begonnen habe, ist: brauchen wir für diesen Prozess innerer Verfeinerung einen Lehrer, eine Lehrerin? Geprägt von Erfahrungen mit hochgestellten Personen, die uns in religiösen Fragen erklärten, wo es langgeht, und die wir oft auch noch als persönlich wenig überzeugend erlebten, sind viele von uns gebrannte Kinder. Gautama hat uns als drei Juwelen für unsere Zuflucht sich selbst, den Dharma und die Sangha ans Herz gelegt – von anderen Lehrern ist da nicht die Rede. Und da fällt mir auch gleich wieder die Kalama Sutta ein mit ihrem klaren Bekenntnis zum Vertrauen auf die Kraft des eigenen Urteils, das höher einzuschätzen sei als die Lehren aller Weisen. Erfahrungen bei der schriftlichen und mündlichen Auseinandersetzung mit Meditationsinhalten und vor allem im Austausch darüber haben mich in den letzten Jahren in der Praxis bestärkt, vor allem von und in unserer Sangha und von mir selbst zu lernen und mir Anregungen durch Lesen und den Besuch von Retreats zu holen, ohne mich der Führung durch eine Person anzuvertrauen. Das ist fast zu einer Überzeugung geworden, die ich nicht selten mir selbst und anderen präsentiert habe. Na ja, mit Überzeugungen ist es so eine Sache, wie wir mittlerweile wissen. Gespräche mit einer Dharmafreundin haben mich zum Nachdenken gebracht. Gerade jetzt nimmt sie an einem Retreat teil, das von einem bekannten Schüler des noch bekannteren Lehrers der Theravadaschule, U Pandita, geleitet wird.
Mit U Pandita und seiner Arbeitsweise habe ich mich in meinem recht kompromisslosen Streben nach Unabhängigkeit schon vor Jahren beschäftigt4. Mehrere Gespräche mit einer anderen Dharmafreundin, die monatelang durch seine strenge Schule gegangen ist, boten mir die Möglichkeit dazu. Er – der vor kurzem verstorben ist – stand im Ruf, in dem von ihm geleiteten Kloster in Myanmar vor allem Praktizierende aus dem Westen schnell zu Erfahrungen des Erwachens zu führen. Das hat mich zu Widerspruch gereizt, weil ich mir sagte, dass mein Ziel nicht darin bestünde, sondern in der Verfeinerung aller Aspekte meiner Wahrnehmungen im Alltag. Es gibt im Internet einen Text zur Anleitung für Übende, wie sie sich beim Interview mit diesem Lehrer verhalten sollten5. Für mich spricht daraus viel Erfahrung und echtes Engagement. Ich möchte ihn hier als Beispiel für die Frage, die mich umtreibt, zitieren, und zwar eine Schlüsselstelle, über die ich nicht nur einmal gestolpert bin: Ich würde heute immer noch sagen: das steht im Gegensatz zu Jason Siffs Ansatz der Recollective Awareness. Jason würde vielleicht sagen: wenn du während der Meditation mit dir selbst zufrieden bist, nimm das in allen Aspekten wahr, und wenn du faul bist, ebenso. Halt es fest, wenn möglich schriftlich, und geh ihm bis in die Einzelheiten deiner Empfindungen nach. Vielleicht bringt dich das nicht schnell zu Erlebnissen des Erwachens, aber möglicherweise lernst du dich auf diese Weise besser kennen. Das ist also so etwas wie eine Überzeugung – da bin ich wieder bei meinem alten Thema. Die Freundin, die sich gerade einem Retreat mit derart strengen Richtlinien stellt, hat mir den Satz hinterlassen: What you resist will persist. Wer sich nicht führen lassen will, muss sich lang und ausführlich mit dem Thema Führung auseinandersetzen. Also tue ich das. Ich bin auf die Erinnerungen der bekannten Vipassana-Lehrerin und Autorin Sharon Salzberg gestoßen, die auch U Panditas Schülerin war6. Sie beschreibt, wie sie, detailliert vorbereitet über ihre Erfahrungen bei der Sitz- und Gehmeditation, zum Interview mit dem Meister gekommen sei. Der hätte gesagt: Lass das weg und erzähl mir, was du wahrgenommen hast, als du deine Schuhe angezogen hast. Sie hatte keine Ahnung. Beim nächsten Mal wusste sie es, aber er fragte nach den Erfahrungen beim Waschen ihres Gesichts. Und so ging es weiter – bei jedem Interview überraschte er sie mit anderen Fragen. Sie begann also, Achtsamkeit in all ihren Aktivitäten zu üben und entdeckte, dass sich ihr in dem Moment, da sie ihren Widerstand gegen diese Kontinuität von Achtsamkeit aufgab, ein tiefes und neues Verständnis von Meditation erschloss. U Panditas Präzision und Intensität hätten ihren Einsatz auf eine völlig neue Ebene gehoben, schreibt sie. Da hat wohl ein Lehrer eine Schülerin geführt, und es hat sie weitergebracht; langsam fange ich an, meine „Überzeugung“ zu relativieren und darüber nachzudenken, unter welchen Bedingungen es passen könnte, sich einer Lehrerin oder einem Lehrer anzuvertrauen. Für Menschen, die mit der Meditation beginnen, wird es ohne Anleitung und Struktur kaum gehen. In der zeitlich begrenzten Situation eines Retreats lässt sich ausprobieren, was es mit einem macht, sich auf einen Lehrer oder eine Lehrerin einzulassen – wieviel frau oder man stillschweigend annehmen kann, ohne mit dem eigenen wachen Geist in Konflikt zu geraten. Da kann tragfähiges Vertrauen entstehen. Meine große Vorsicht in diesem Punkt hat wohl auch damit zu tun, dass ich denke: es gibt nicht so viele gute Lehrer, sowohl in der buddhistischen Welt als auch überhaupt. Dazu braucht es wegen der großen Wirkung des persönlichen Vorbilds ein hohes Maß an Integrität und die uneigennützige Haltung, Menschen beim Lernen und Wachsen zu unterstützen. Sokrates hat das mit der Kunst von Hebammen verglichen: Neuem auf den Weg zu verhelfen, das bereits in Menschen gewachsen ist und ans Tageslicht geholt werden kann.
- Mit dieser grundlegenden Lehrrede des Buddha zur Meditation haben wir uns in den letzten Monaten ausführlich beschäftigt – s. die Zusammenfassung auf der Seite „Was wir lesen“ und Winton Higgins Text: Was hat Recollective Awareness mit der Satipatthana Sutta zu tun? in diesem Blog ↩
- „nachvollziehendes Bewusstmachen“ wäre vielleicht die treffendste Übersetzung ↩
- Wie hier schon mehrfach vorgestellt, liegt der Kern dieses von Jason Siff entwickelten Zugangs zur Meditation darin, ohne alle Vorgaben einfach zu beobachten, was innerlich geschieht und es sich währenddessen oder danach bewusst zu machen – s. den Beitrag „Das Meditieren entlernen“ unter „Meditation“ ↩
- ein Interview mit ihm, in dem er über seine Arbeitsweise spricht, findet sich unter: http://www.frankzechner.at/menu/download/texte_pdf/interviews/00_interview_zechner_u_pandita.pdf ↩
- http://www.mlausa.org/docs/pandita_retreat_guidelines.pdf ↩
- http://www.sharonsalzberg.com/influences/ ↩
Ich glaube, bezüglich des Bedürfnisses nach LehrerInnen spielt das jeweilige Temperament eine große Rolle, und auch das Alter.
Ich bin ein introvertierter, nicht geselliger Typ, für mich war es früher sehr wichtig, LehrerInnen in Workshops zu begegnen, sie zu idealisieren und aus ihren Schriften zu lernen. Aber ich hatte nie das Bedürfnis nach einer persönlichen Lehrer-Schüler-Beziehung.
Auch machte ich die Erfahrung, daß mir Einzelretreats sehr viel mehr bringen als Gruppenretreats.
Eine wichtige Erfahrung war es für mich, zu erleben, ent-täuscht zu werden, da ich bald von den Schwächen dieser in bestimmten Zeiten von mir idealisierten inneren Gurus erfuhr. Ich wandte mich zunächst desillusioniert von ihnen ab, doch schaffte es schließlich, anzuerkennen, daß sie trotz ihrer Schwächen sehr viele inspirieren und auf ihrem Weg fördern können, und konnte ihnen innerlich danken für das, was sie mir geben konnten und zum Teil immer noch geben. –
Auch das Alter spielt sicher eine Rolle. Ich bin nun in meiner letzten Lebensphase, lasse mich täglich durch andere inspirieren, erwarte aber nicht mehr, von anderen entscheidend Neues bezüglich des Fortschreitens auf meinem Weg zu erfahren.
Danke, Chrisja, für diesen persönlichen Kommentar! Was Alter und Temperament betrifft, stimme ich Dir zu, und auch dabei, dass Ent-täuschungen wichtige Erfahrungen sein können.
Auch ich habe viel von Lehrerinnen und Lehrern gelernt und das gilt auch für ihre sehr menschlichen Seiten. Ich wünsche mir das auch für die Zukunft, aber das Bedürfnis, mich einer oder einem anzuvertrauen, ist mit der Zeit geringer geworden.