Die Sicht des Dharma und die Sicht der Tragödie

von Winton Higgins

Meine Ausgangspunkte sind zum einen die erste der vier großen Aufgaben des Dharmas, nämlich dukkha: die schwierigen Erfahrungen in unserem Leben voll zu verstehen und sie zu umarmen und zum zweiten der erste Faktor im achtfachen Pfad, nämlich die angemessene Sichtweise (sammā diṭṭhi). Im konventionellen Sprachgebrauch wird das genannt: Das Leben bedeutet Leiden bzw. die richtige Sichtweise.

Der Buddha hat in seiner ersten Lehrrede den Begriff dukkha eingeführt und erklärt, was er damit meint: Geburt, Tod, den Prozess des Alterns, Krankheit, getrennt zu sein von dem was wir lieben, mit dem konfrontiert zu sein, was was wir verabscheuen, Frustration und insgesamt unsere psychosoziale Verletzlichkeit. Kein menschliches Wesen wird erwachsen, ohne dass es von diesen Erfahrungen berührt wird – man kann also sagen, dass sie zusammen die entscheidenden Aspekte der conditio humana ausmachen. In einer schonungslosen Zusammenfassung rät uns der Buddha: akzeptiere das voll und ganz und geh’ weise damit um.

Die angemessene Sichtweise bezieht sich auf die Arbeitshypothesen (besonders auf Dukkha), die wir in unserer Dharmapraxis einbringen– dazu gehört auch, wie wir unsere meditativen Erfahrungen analysieren. Unangemessene Sichtweise hindert uns und führt uns in die Irre. Indem wir unsere Praxis auf geeignete Art entfalten und aus unseren Erfahrungen lernen, verfeinern wir sie und können unsere Sichtweise weiterentwickeln.

Ähnlichkeiten im Westen

Ich habe zwei Themen, die miteinander verknüpft sind. Einerseits: Wie konnte der Dharma auf kulturell verfügbare Weise im Westen Fuß fassen? Andererseits möchte ich Ähnlichkeiten im Westen herausarbeiten.

Das Beispiel der Ähnlichkeiten im Westen, das ich beleuchten möchte, ist die Tradition der Tragödie von deren Anfängen im alten Athen über Shakespeare und bis zum heutigen Tag.

Es war oft unübersehbar für mich, wie stark diese Tradition eine dominante Geisteshaltung in der westlichen Kultur genauso in Frage stellt, wie der Dharma das tut. Nach dieser Geisteshaltung sollten wir ein ruhiges, sicheres, befriedigendes Leben leben, das sich langsam zu einem vagen, fernen Horizont entfaltet, bis wir schließlich sanft entschlafen. Wenn jemand Erfahrungen macht, wie sie in Buddhas Liste von Mühen aufgezählt sind, dann ist das eine Anomalie, ein „Problem“. Wir suchen dann nach einer schnellen „Lösung“ – eine Operation, eine Scheidung, ein Medikament, eine Impfung – sodass wir zu dem Leben zurückkehren können von wir meinen, es stünde uns zu. Wenn wir für unser „Problem“ keine Lösung zur Hand haben, versinken wir in Depression; wir sagen Nein zum Leben. Wir fühlen uns beraubt.

Die heroischen Erlöser des westlichen Mythos unterstützen diese Geisteshaltung. Dazu gehören Sir Galahad, Jeanne dArc, John Wayne, Jesus oder Wonder Woman, sie alle setzen unseren Problemen ein Ende, sodass wir zu unserem gottgegebenen friedvollen Leben zurückkehren können. Wir sind nur Zuschauer (und dankbaren Nutznießer) der Heroen.

Der Buddha und die westlichen Autoren von Tragödien schienen mir immer eine deutliche Alternative zu dieser Weltsicht zu bieten. Sie unterstützen zwar alles, was das Leiden erleichtert und den Konflikt dämpft, aber sie sehen unsere Schwierigkeiten als einen wesentlichen Teil und das A und O jedes menschlichen Lebens. Was die Bedingungen betrifft, unter denen sie entstanden sind, haben wir begrenzte Möglichkeiten. Gemäß dem Dharma und und der Tradition der Tragödie fordern uns diese Schwierigkeiten dazu heraus, sie zu umarmen, so gut wir das können, auf sie zu antworten, um unser menschliches Leben zu behaupten, die Initiative zu ergreifen, immer Ja zum Leben zu sagen, egal wie hart unsere missliche Lage ist. Wir sollten niemals in eine Opferrolle verfallen.

Die Tragödie und die realen Gegebenheiten

Kürzlich ist mir ein neues Buch in die Hände gefallen, das die Weltsicht der Tragödie in einer rezenten Studie darlegt: Simon Critchley, Tragedy, the Greeks and us.[1]. Im Folgenden beziehe mich auf sein Werk. Obwohl es nicht seiner Absicht lag, bereichert es meinen Sinn für die Ähnlichkeiten zum Dharma, um die mir es geht. Es beginnt mit der erstaunlichen Tatsache, dass die Lebensspannen des Buddha im Nordosten Indiens und die Tradition der Tragödien in Athen exakt zum selbem Zeitpunkt der Geschichte angefangen haben. Die Lebensspannen der drei bekanntesten klassischen Tragödienschreiber Aischylos, Sophokles und Euripides überschneiden sich mit der von Buddha (480-400 v. Chr.). Moderne Wissenschaftler meinen, dass Buddha und Euripides möglicherweise sogar in demselben Jahr geboren sind.

In beiden Fällen haben die Gründer von Traditionen in turbulenten Zeiten gelebt. Nebenher erzählt der Palikanon Geschichten über ständige Konflikte zwischen fünf staatsähnlichen Verwaltungsbereichen. Dazu gehörte Krieg, Völkermord, Königsmord, Vatermord – all das ging im Umfeld vor sich, während Buddha lehrte. In der gleichen Periode haben die Athener Kriege gegen die Perser und dann gegen die Spartaner geführt (das waren die Peloponnesischen Kriege, über die Thukydides berichtet hat).

Manche Autoren ziehen den Schluss, dass griechische Denker Kontakt mit ihren indischen Gegenüber gehabt hätten. Ich würde eher die Quelle der Ähnlichkeiten in gleichen historischen Umständen untersuchen. Alle waren sie Kinder der agrikulturellen Revolution, die in mehreren Regionen der Welt zur gleichen Zeit vor sich ging. Dieser Prozess sah den Beginn des Handels, der Geldökonomie und heftige Rivalitäten um die Gewinne. Er sah Urbanisation, eine gewisse Freizügigkeit und die Befreiung der der Städter von den rigiden sozial und kulturell/religiösen Strukturen des Lebens auf dem Lande.

Die neue Städte brachten Gruppen von Leuten hervor (gewöhnlich Männer), die sich treffen und ihre neue existenzielle Situation diskutieren konnten, in der sie weit mehr Lebensoptionen hatten und dadurch viel mehr Enttäuschungen, wenn sie sich, oft durch sehr menschlichen Zank und Hader, in ihren Bestrebungen gebremst sahen. Der Dharma und die griechische Tragödie nehmen genau hier ihren Anfang.

Es wäre schwierig gewesen, die high school abzuschließen ohne die Namen von prominenten tragischen Helden aus dieser Zeit gehört zu haben – Ödipus, Elektra, Hekuba, Antigone und andere – Namen, die immer noch die moderne Literatur und psychoanalytische Schriften inspirieren. Wir wurden vertraut gemacht mit dem tragischen Ethos selbst durch Shakespeare’s Beiträge zur Tradition in der frühen Moderne, besonders in seinen vier zentralen Tragödien, die nach ihren Helden benannt sind: Hamlet, Othello, König Lear und Macbeth.

Diese Figuren sind keine erlösenden, rettenden, problemlösenden Helden; in jedem Fall ist der Held das Problem. Sie verkörpern die conditio humana. Sie sind in ihre akuten Dilemmata hineingeraten und sind desorientiert– sie wissen nicht, wie sie handeln sollen. Nicht, weil sie dumm wären, sondern weil ihre misslichen Lagen elementar zwiespältig sind. Sie sind zerrissen zwischen widersprüchlichenAnforderungen, von denen jede die Gerechtigkeit auf ihrer Seite zu haben scheint. Dieses Netz, in dem sie gefangen sind, ist teilweise durch Schicksal geknüpft – vergangene Ereignisse oder andere Umstände außerhalb ihrer Kontrolle. Diese Umstände entstehen durch die Nähe zu früheren Geschichten und dem Werk missgünstiger Götter. (Wir, die den Dharma praktizieren, würden das eher als bedingtes Entstehen bezeichnen).

Aber doch: diese tragischen Figuren haben insgeheim mit ihrem Schicksal in einem wesentlichen Umfang zusammengewirkt. Indem sie gleichzeitig wussten und nicht wussten, was los ist, besiegelten sie ihr eigenes Schicksal. Am Chaos, das sie entfesselten, haben sie sich mitschuldig gemacht. Hamlet weiß genau, dass sein Onkel seinen Vater ermordet hat, aber er gibt vor, dass er mehr Beweise bräuchte, um seine eigene Unentschlossenheit zu zu verschleiern.

Die Eltern von Ödipus, Laios und Jocaste, haben ihn bei der Geburt ausgesetzt und er weiß nicht, wer sie sind. Aber er weiß, dass der alte Mann, den er in seiner Wut bei einem Unfall getötet hat, sehr wohl sein Vater sein könnte und dass die Frau, die er im folgenden heiratet, sehr wohl seine Mutter sein könnte.

Agamemnon, der Anführer der Griechen bei der Expedition nach Troja, hat seine Tochter Iphigenie der Göttin Artemis geopfert, um günstige Winde für die Reise zu garantieren. Er kann sich kaum beschweren, dass er, als er Jahre später nach der siegreichen Rückkehr in seinem eigenen Heim sein erstes Bad nimmt, Klytemnestra, die Mutter von Iphigenie, hereinkommt und ihn mit einem Messer erdolcht. In all diesen Fällen ist der Held Komplize seines Schicksals.

Diese Idee, Komplize unseres Schicksals zu sein, passt zusammen mit dem, wie der Buddha die Rolle des Karma in unserem Leben erklärt: als eine von verschiedenen Einflussgrößen in unserem Leben, aber als nicht die einzige, für die wir die Verantwortung tragen müssten. Auch die Tragödie lehrt Selbsterkenntnis genauso wie der Dharma, allerdings dramatischer. Und das ist der reale Kontrast zwischen den zwei Traditionen.

Die Tragödien in Athen wurden in großen und sehr spektakulären Veranstaltungen aufgeführt. Die Zuseher waren die ersten demokratischen Bürger. Die Vorstellungen hatten den Zweck, sie nachdenklich zu machen, ihnen Rätsel aufzugeben, die sie diskutieren mussten und sie die verwirrten– aber nicht, damit sie Antworten parat hätten, die sie nach Hause mitnehmen und ihre Kinder damit füttern konnten. Die öffentliche Vorstellung von Tragödien machte einen wesentlichen Teil des Stadtstaats und dessen Regierung aus. Die aliveness (ein Wort der Schauspielerin Isabelle Huppert) der Veranstaltungen brachte die demokratischen Bürger dazu, ihre zivilen Pflichten in allgemeinen Angelegenheiten zu tun.

Was ist also die tragische Sicht (oder die tragische Bewusstheit, wie er das nennt), die Critchley hervorhebt? Unordnung, Konflikt, moralische Ambivalenz, Trauma, Komplexität, und begrenzte persönliche Autonomie durchziehen die Erfahrungen unseres Lebens. Diese Welt ist nicht für uns gemacht und wir sind nicht für diese Welt gemacht – Eine Einsicht, die durch den Klimanotstand mehr als klar gemacht wird. Es gibt keinen allmächtigen Gott oder eine andere sinnvolle Autorität, die die Welt wieder in Ordnung brächte. Und keine großartige metaphysische Theorie, wie das alles zusammenhänge, kann uns am Ende helfen.

Dadurch geht es in den Tragödien realistisch zu was die Wichtigkeit und Beschränkungen unserer Selbstbestimmung angeht, und tief skeptisch gegenüber großartigen metaphysischen Theorien. Critchley beleuchtet den Konflikt zwischen den Autoren von Tragödien und den großen Philosophen in deren Zeit (Sokrates, Plato, Aristoteles). Die Tragödienschreiber hatten unter den Demokraten enormen Einfluss auf die Bürgerschaft – das ging so weit, dass Plato sie überhaupt aus dem Stadtstaat verbannen wollte. Er hätte es lieber gesehen, wenn er sich in ein totalitäres Regime verwandelt hätte, von emotional kalten Philosophen-Königen regiert (siehe seine Politeia).

Hier sind wir natürlich wieder bei Buddha; mit seiner konsequenten Weigerung, sich mit Metaphysik zu beschäftigen und wie er darauf bestand, dass wir uns an unseren aktuellen Gegebenheiten orientieren: siehe die Parabel von dem Mann, der mit einem vergifteten Pfeil schoss. Sein Bestehen auf Selbsterkenntnis und Selbstverantwortung macht das Herzstück seiner Lehren aus.

Während der letzten zwei Jahrhunderte hat sich die Weltsicht des Westens vom Monotheismus zu skeptischen und säkularen Weltanschauungen entwickelt.

Aus diesem Grund kann Critchley den erstaunlichen Anspruch erheben: In wichtigen Bereichen wären wir Menschen aus der Antike ähnlicher als andere Leute im Westen, die in der Zwischenzeit gelebt haben und deswegen können wir uns mit Fug und Recht als Zeitgenossen der Autoren von Tragödien betrachten. Aus ähnlichen Gründen meine ich, dass wir den skeptischen, realistischen Buddha des Palicanons als unseren Zeitgenossen betrachten könnten.

In seinem letzten Absatz erhebt Critchley noch einen anderen Anspruch, der mich stark an die meditative Erfahrung in Buddha’s Abstinenz erinnert: was passieren kann zwischen Aufführungen von Tragödien: dass wir uns den Intensivitäten des Lebens hingeben und unser Herz öffnen. Man schaut auf das Wesentliche des Lebendigseins und es schaut zurück. Gerade für einen Moment lang. Und dann geht man die Straße hinunter und die Welt nimmt ihr unerbittliches Summen wieder auf. Aber die Erinnerung an das Wesentliche bleibt uns.(p. 280).


[1] London: Profile Books, 2020

Winton Higgins ist ein australischer Universitätsprofessor, der mit seiner Familie in Sydney lebt. Er beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Buddhas Lehre.

Aus dem Englischen übersetzt von Eva-Maria Glatz

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