…und die Notwendigkeit, den Buddhismus neu zu denken
Stephen Batchelor leitete eine Meditation und hielt am 03. Oktober 2021 einen Dharma-Vortrag in New York City, USA. Stephen sprach über das „Gleichnis von der Schlange“, ein Sutta in der Sammlung mittellanger Diskurse (MN 22).
In dem Gleichnis verwendet Gotama, der historische Buddha, eine Schlange als Gleichnis für den Dharma und unterscheidet zwischen zwei Arten, eine giftige Schlange zu greifen. Der Schlüsselteil der Sutta ist der Folgende:
Angenommen, es gibt eine Person, die eine Schlange braucht. Und während sie auf der Suche nach einer Schlange wandert, sieht sie eine große Schlange und packt sie am Genick oder am Schwanz. Aber diese Schlange würde sich zurückdrehen und sie in die Hand oder den Arm oder anderes Glied beißen, was zum Tod oder tödlichen Schmerzen führte. Warum ist das so? Wegen ihres falschen Verständnisses der Schlange.
Auf die gleiche Weise merkt sich eine törichte Person die Lehren … und diese Lehren führen zu dauerhaftem Schaden und Leiden. Warum ist das so? Wegen ihres falschen Verständnisses der Lehren.
Angenommen, es gibt eine Person, die eine Schlange braucht. Und während sie auf der Suche nach einer Schlange wandert, sieht sie eine große Schlange und hält sie vorsichtig mit einem gespaltenen Stock fest. Erst dann würde sie sie richtig am Hals fassen. Und selbst wenn diese Schlange ihre Windungen um die Hand oder den Arm ein anderes Glied dieser Person oder wickeln könnte, würde dies nicht zum Tod oder tödlichen Schmerzen führen. Warum ist das so? Wegen ihres korrekten Greifens der Schlange.
Nimm nun einen Menschen, der die Lehren auswendig lernt – Aussagen, Lieder, Diskussionen, Verse, inspirierte Ausrufe, Legenden, Biogaphien vergangener Leben, erstaunliche Geschichten und Klassifikationen. Und sobald er sie auswendig gelernt hat, untersucht er ihre Bedeutung mit Weisheit und kommt zu einer wohlüberlegten Akzeptanz. Er lernt die Lehre nicht auswendig, um Fehler zu finden und Debatten zu gewinnen. Er erkennt das Ziel, für das er sie auswendig gelernt hat. Weil sie richtig verstanden werden, führen diese Lehren zu seinem dauerhaften Wohlergehen und Glück. Warum ist das so? Wegen seines korrekten Verständnisses der Lehren.
Auf die gleiche Weise merkt sich ein Menschen die Lehren … und diese Lehren führen zu seinem dauerhaften Wohlergehen und Glück. Warum ist das so? Wegen seines korrekten Verständnisses der Lehren.
Stephen wies darauf hin, dass eine Schlange wie der Dharma unser Leben retten kann (das Gift von Schlangen wurde im alten Indien bei einigen medizinischen Behandlungen verwendet) oder für unser Wohlbefinden gefährlich sein kann. Wie wir die Schlange/den Dharma erfassen, bestimmt das Ergebnis. Also, was sind die verschiedenen Wege, wie wir uns mit dem Dharma in Verbindung setzen können, was sind die verschiedenen Herangehensweisen dafür?
Wenn wir uns dem Dharma als eine Reihe von Wahrheiten nähern und dann behaupten, dass unser Besitz dieser Wahrheiten uns anderen überlegen macht, dann nähern wir uns dem Dharma auf die falsche Art und Weise. Wir werden uns mehr darum kümmern, wie Gotama sagt, Fehler zu finden und Debatten mit anderen zu gewinnen. Für Stephen wandte sich der Buddhismus, sobald die Lehren von Gotama in metaphysischen Wahrheiten wie den Vier Edlen Wahrheiten erstarrten, von dem Ansatz ab, den Gotama befürwortete, und wurde zu einer Orthodoxie und Orthopraxie. Dieser falsche Ansatz wurzelt in unserem Verlangen nach Gewissheit.
Stephen sagte, dass der richtige Weg, den Dharma zu begreifen, darin besteht, Gotamas Lehren als praktische und ethische Richtlinien für das Leben in einer unsicheren, kontingenten Welt zu verstehen. Während wir Teil des Netzes von Ursachen und Bedingungen sind, haben wir auch die Fähigkeit, nirvanische Momente zu verwirklichen, in denen wir frei von Reaktivität, frei von Gier, Hass und Täuschung sein können. Diese beiden Dimensionen – Konditionalität und das Potenzial zur Nichtreaktivität – sind der Kern des Dharmas.
Eine korrekte Herangehensweise an den Dharma erkennt daher diese beiden Dimensionen an und konzentriert sich auf die vierfache Aufgabe, die für unser Gedeihen und die Schaffung einer Kultur des Erwachens in dieser Welt wesentlich ist:
1. das Leben annehmen, einschließlich seiner tragischen Aspekte,
2. die Reaktivität loslassen,
3. die Momente der Nichtreaktivität, die Momente der Achtsamkeit und des Mitgefühls aktiv erleben,
4. Handeln. Den Weg kultivieren, der es uns ermöglicht, als menschliche Wesen zu gedeihen.
Die vierfache Aufgabe ist die Grundlage für eine säkulare Herangehensweise an den Dharma, die keinen Endpunkt hat, sondern den Weg als einen fortwährenden Prozess des Lernens sieht, auf eine angemessene Weise in der Welt zu sein.
übersetzt von Evamaria Glatz