…ist das also eine pessimistische, verzweifelte, ’nihilistische‘ Philosophie? Ich glaube nicht. Heidegger spricht vom Tod als ‚Schrein‘, einem Hort von Schätzen. Nicht nur die Lust an den Dingen des Lebens ist eng an deren Unbeständigkeit und Vergänglichkeit, an deren Werden und Vergehen gebunden. Auch der Reichtum der menschlichen Geschichte in seiner Veränderung und Anreicherung (an Bedeutungen und Nuancen) durch die Abfolge der Generationen und die Vielfalt der Interpretationen hindurch steht in strenger Abhängigkeit zum Sterben. Der Tod ist der Schrein, in dem die Werte aufbewahrt sind: die Lebenserfahrung der vergangenen Generationen, die Großen und Schönen der Vergangenheit, mit denen wir zusammen sein und sprechen wollen, die Personen, die wir liebten und die verschwunden sind. Selbst die Sprache als Kristallisation von Wortakten, Erfahrungsweisen liegt im Schrein des Todes aufbewahrt. Dieser Schrein ist im Grunde auch die Quelle der wenigen Regeln, die uns helfen können, uns in unserem Dasein nicht chaotisch und ungeordnet zu bewegen, obgleich wir um unsere Ziellosigkeit wissen. Die neuen Erfahrungen, die wir machen, haben nur Sinn als Fortführungen des Dialogs mit dem, was der Todesschrein – die Geschichte, die Tradition, die Sprache – uns überliefert hat.
Gianni Vattimo
Gianni Vattimo (* 1936 in Turin – † 2023 in Rivoli ) war ein italienischer Philosoph, Autor und Politiker.