Der Dharma ist gut für uns, aber er ist kein Wellnessprogramm
Martine und Stephen Batchelor im österreichischen Scheibbs

Das „study and meditation-seminar“ mit Martine und Stephen ist wie in früheren Jahren anregend und erfrischend. Schon am ersten Abend gelingt es den beiden, eine Atmosphäre herzustellen, die ich als gleichzeitig konzentriert, ernsthaft und entspannt empfinde. In dem mit knapp 40 Personen gut gefüllten Haus verbringen Menschen aus Ungarn, der Slowakei, Italien, Russland, Deutschland und Österreich ein paar Tage meditierend und zuhörend, manchmal auch nachfragend und kommentierend, aber meist in freundlichem Schweigen. Buddhistisches Zentrum Martine spricht vor allem über Meditation und über ihre beiden Hauptaspekte: Konzentration (Samatha) und Einsicht (Vipassana). Immer wieder betont sie, ein/e jede/r von uns sollte aus dem vielfältigen Angebot, das sie in Praxis und Theorie vorstellt 1, auswählen, was persönlich am besten passt. Durch die Flexibilität dieses Angebots werden unser Verständnis und unser Gespür geschärft und die Verantwortung für die Praxis in unsere eigenen Hände gelegt. Martine und Stephen BatchelorStephens Vorträge möchte ich kurz zusammenfassen:

In unserer Praxis geht es nicht darum, persönliche Ziele, wie „Erleuchtung“ zu erreichen. Es geht darum, unser ganzes Leben neu „aufzusetzen“, einen neuen, anderen Zugang zu finden. In der technologischen Weltsicht, an die wir uns gewöhnt haben, tendieren wir zu der Meinung, die Praxis des Dharma wäre ein Mittel, Probleme zu lösen. Eine Wissenschaft vom Leben ist Buddhismus aber nicht. Im Dharma geht es darum, uns unserer eigenen Existenz und ihren Widersprüchen zu stellen. Wie wird man ein/e Übende/r? Man trifft eine Entscheidung, anders zu leben, nicht immer wieder im Kreis seiner Konditionierungen zu gehen – nichts anderes ist Samsara, gleichbedeutend mit „Hölle“. Es gibt einen Moment des Entsagens – Buddha nannte es: das Heim verlassen und in die Heimatlosigkeit gehen. Die Legende, wie der junge Siddharta Gotama der Krankheit, dem Alter und dem Tod begegnet, ist ein Mythos von starker Wirkung; er geht uns alle an, aber er sitzt uns nicht tief genug in den Knochen. Wir wehren uns stark dagegen, und Routine hat uns dann von neuem im Griff. Hilfreich kann sein, sich immer wieder zu verpflichten. Dazu gibt es in der buddhistischen Tradition die „vier Gelübde“:

– die Lebewesen sind zahllos – ich gelobe, sie alle zu befreien – die Versuchungen sind unerschöpflich – ich gelobe, sie alle zu überwinden – die Tore zum Dharma sind unüberschaubar – ich gelobe, sie alle zu durchschreiten – der Weg des Buddha ist unvergleichlich – ich gelobe, ihn zu gehen

Buchstäblich sind diese Gelübde unmöglich zu erfüllen, aber sie lenken unsere Aufmerksamkeit auf die paradoxe Natur unserer Praxis zwischen Bemühen und Widerstreben. Buddha gebraucht das Bild vom Fußabdruck eines Elefanten für das, was alle Aspekte des Dharma umfasst: damit meint er einerseits „apamada“ – im Englischen „care“: Fürsorge und Sorgfalt, andererseits die „vier Aufgaben“ (in orthodoxer Überlieferung die „vier Noblen Wahrheiten“ genannt): 1. Aufgabe: „So ist das Leben“ – dieser Satz, schließt eine tragische Dimension ein. Buddha fordert uns auf: umarme das Leben. Das ist es, was wir in der Meditation üben. In spontaner Reaktivität zeigen wir oft Gier, Hass und Ichbezogenheit – und es geht um ein Leben ohne diese Muster. Um das Leben zu umarmen, brauchen wir sowohl Weisheit als auch Mitgefühl. Daraus ergibt sich das erste der vier Gelübde: alle Wesen zu befreien. 2. Aufgabe: Lass los: Gier, Hass und Ichbezogenheit. Buddha nennt diese drei „Feuer“. Wenn wir spontan mit diesen Mustern reagieren, sollen wir uns deshalb nicht schuldig fühlen – wir sollen ihnen nur nicht unbesonnen nachgeben. Diese Art von Reaktivität hindert uns daran, voll zu leben. Meditation kann einen Raum schaffen, in dem diese Feuer ausbrennen können. Wir wissen ja: alles, was entsteht, vergeht. Wir können Gier, Hass und Ichbezogenheit in uns beobachten, und brauchen nicht ihre Opfer zu werden. In diesem Sinn ist das zweite Gelübde gemeint: alle Versuchungen zu überwinden. Buddha sagt über den Dharma: er ist klar sichtbar, unmittelbar, einladend, erhebend und kann von Weisen persönlich erfahren werden. Er macht klar, dass wir Gier, Hass und Ichbezogenheit sowie deren Abwesenheit in uns wahrnehmen können. Das heißt: wir kennen diesen Zustand des Nichtausgeliefertseins – und nichts anders ist für Buddha „Nirvana“. Nirvana ist immer da, wenn wir nicht Opfer unserer Reaktivität sind. Nirvana ist kein fremder Zustand, den wir vielleicht irgendwann erreichen – wir kennen ihn schon. Und der Dharma ist nichts anderes als das. Dieser Zustand ist unmittelbar – es braucht keine lange Zeitspanne, um ihn zu erreichen. Wir erleben ihn immer dann, wenn keine Kräfte wirksam sind, die uns auf unsere Eigeninteressen reduzieren. Hehre Erhabenheit wurde dem Begriff „Nirvana“ erst in späteren Texten verliehen. Nirvana – oder: der Dharma – ist klar sichtbar; das bedeutet aber nicht, dass es einfach wäre, ihn zu sehen. 3. Aufgabe: Sieh, wie Reaktivität endet. Nirvana tritt vielleicht nur für ein paar Momente ein. Es geht darum, jene Augenblicke im Leben wertzuschätzen und zu voller Geltung zu bringen, in denen wir nicht reaktiven Mustern folgen. Oft wissen wir nicht, wie wir das tun sollen. Buddha sagt: „Leere“ ist der Raum, in dem wir wohnen sollen. Dieser Gedanke ist in orthodoxer Tradition in den Hintergrund getreten und „Leere“ wurde zu einer absoluten Wahrheit. Leere ist Nirvana, und der buddhistische Philosoph Nagarjuna sagt darüber: Leere ist das Aufgeben von Meinungen. Nirvana ist auch ein Synonym für „Todlosigkeit“: eine Praxis, die uns von den Kräften des Todes befreit und es uns möglich macht, zu gedeihen. Im dritten Gelübde geht es um die Tore zum Dharma – sie eröffnen die Räume von Nirvana und Leere. In einem nicht-reaktiven Raum zu wohnen, wie er hier gemeint ist, bedeutet einfach, sich laufend darum zu bemühen, sich selbst und anderen kein Übel zuzufügen. Und dabei ist jede Lebenssituation unsere Lehrerin. Die 4. Aufgabe: bahne dir einen Pfad – folgt aus alldem. Nirvana ist nicht das Ende eines Prozesses, sondern sein Mittelpunkt, von dem aus Handeln beginnt. Es ist der Zustand, der Möglichkeiten eröffnet. Ein Pfad ermöglicht es uns, uns ohne Hindernisse zu bewegen. Ein Pfad hat etwas Prozesshaftes – er wurde von anderen eröffnet und wir – indem wir ihn gehen – halten ihn für Nachkommende offen. Buddha nannte dies auch: in den Strom eintreten; dieser Strom ist der „achtfache Pfad“. Und er betont: jetzt seid ihr nicht mehr von anderen abhängig. Wörtlich sagte Buddha: „Wenn ihr in die Welt geht, sollen nicht zwei von euch demselben Weg folgen“. Genau das tun wir in der temporären Sangha dieses Retreats. Unser Handeln soll nicht mehr von Gesetzen bestimmt sein, sondern von Situationen. Es geht nicht darum, das Richtige zu tun, sondern aus Liebe zu handeln. Das kann auch riskant werden; jedenfalls hat es nichts mit Lohn und Strafe zu tun. Es geht um angemessenes Handeln. Und so ist das vierte Gelübde zu verstehen: Buddhas Weg zu gehen. Das eröffnet uns die Möglichkeit zu einem Leben in Fülle. Als ein berühmter Ausspruch des Buddha ist überliefert: Ich lehre „Dukkha“ und das Ende von Dukkha. Nun ist klar: solange wir in diesem Körper leben, gibt es auch Leiden für uns. Buddha lehrt uns, damit umzugehen, indem wir uns für alles Lebendige öffnen. Vielleicht hieß sein Satz ursprünglich: Ich lehre Dukkha und das Ende von Reaktivität, also von Gier, Hass und Ichbezogenheit. Die Praxis kann unsere Sicht der Welt verändern: die Dinge können strahlender, lebendiger für uns werden. Reaktivität hat die Eigenschaft, uns unempfindlich zu machen – die Welt wird trüb und flach und langweilig. Zur Zeit wird oft von Buddhismus als der Wissenschaft vom Geist gesprochen und geschrieben. Was Beschäftigung mit dem Dharma bewirken kann, geht darüber hinaus: wie große Kunstwerke uns direkt zu Herzen gehen und ansprechen, auch wenn es um Schmerzhaftes geht, so kann es auch Buddhas Lehre. Elemente dieser Lehre – wie „Achtsamkeit“ – haben in den letzten Jahrzehnten den Weg in den Mainstream westlichen Denkens gefunden. Daran anschließend geht es heute darum, eine Kultur des Dharma neu zu entwickeln, in einer Gesellschaft, die auf Nicht-Gier, Nicht-Hass, und Nicht-Ichbezogenheit basiert.

  1. s. auch in ihrem Buch „Meditation“ und auf dieser Website die Seite über „Meditation“

Karuna

Vor ein paar Tagen lief eine Rundfunk-Dokumentation über syrische Kriegsflüchtlinge, die über Griechenland und Mazedonien nach Mitteleuropa gelangen wollen. Auf der Insel Lesbos stranden täglich Hunderte, in Schlauchbooten aus der nahen Türkei kommend. Es gibt keine Infrastruktur für sie, zu wenig Nahrung, Wasser und Unterkünfte. So wandern sie in der Hitze in die Hauptstadt Mitilini in der Hoffnung auf ein Schiff, das sie nach Athen bringt. Einheimische versorgen sie, so gut sie können, mit dem Nötigsten; im Auto mitnehmen oder in ihre Häuser aufnehmen dürfen sie niemanden – unter Androhung hoher Strafen wegen Schlepperei .

Flüchtlinge auf LesbosWer es nach Athen geschafft hat, will weiter nach Norden. Das Dorf Idomeni liegt an der griechisch-mazedonischen Grenze, die von einer Schlepper-Mafia kontrolliert wird. Auch hier gibt es zu wenig Essen und Wasser, die hygienischen Verhältnise sind katastrophal. Kriegsflüchtlinge werden zurückgetrieben, eingeschüchtert und verprügelt. Bei wiederholten Versuchen, sich von Schleppern über die Grenze bringen zu lassen, büßen viele ihr letztes Geld ein. Auch hier helfen Einheimische mit Essen, Wasser und Ratschlägen, so gut sie können.

Ein Teil der Menschen schafft es dann nach Österreich, Deutschland und in andere Länder im EU-Raum. Kluge, menschliche und tragfähige Lösungen auf politischer Ebene für ihre Integration sind derzeit nicht in Sicht. Aber es gibt Bürgerinnen und Bürger, die handeln, wo Politik versagt.

Im Vorarlberger Dorf Alberschwende konnte die Abschiebung von syrischen Flüchtlingen gemeinschaftlich verhindert werden. In Bad Gastein in Salzburg hat ein Hotelier ein leerstehendes Haus Flüchtlingen zur Verfügung gestellt. Die Liste solcher Beispiele wird von Tag zu Tag länger.

Im Dharma heißt das: Karuna. Wir sind ja von anderen Menschen, von allem Lebendigen, das uns umgibt, nur scheinbar getrennt. Je klarer das für uns wird, desto leichter kann Mitgefühl in uns wachsen, durch das wir unsere eigenen Widerstände und Abneigungen auflösen und dann konkret helfen können. Dieses Europa ist mit seinen Flüchtlingen, die sich aus mehr als guten Gründen auf den Weg gemacht haben, unser gemeinsames Land, in dem jede und jeder einzelne aufgerufen ist, zu handeln.

Während des Anhörens des Radiobeitrags von Cornelia Krebs, von dem ich oben schrieb, habe ich verstanden, was das Erste wäre, was jede und jeder einzelne von uns tun kann: hinschauen, hinhören, den Informationen nicht ausweichen, auch gegen das Gefühl der eigenen Machtlosigkeit. Dann: sich nicht auf Kritik an unzureichenden politischen Lösungen beschränken oder darauf zurückziehen. Über positive Beispiele reden und so die öffentliche Meinung beeinflussen. Aktiv nachforschen, wo es im eigenen Umfeld Hilfsprojekte gibt und dort Unterstützung anbieten: mit Kindern Hausaufgaben machen, Unterstützung beim Deutschlernen, bei Behördenwegen…Und natürlich: spenden, Gegenstände oder Geld.

avalokiteshvaraDer Bodhisattva Avalokiteshvara im Mahayana-Buddhismus verkörpert mit seinen vielen Händen die zahlreichen Tätigkeiten, in denen sich Karuna, tätiges Mitgefühl, ausdrücken kann.

Martine Batchelor würde von „creative engagement“sprechen.

Wie wir durch Rückschau unsere Bewusstheit schärfen können
Meditieren mit Jason Siff

Jason21Über Jason Siff haben wir hier schon einiges geschrieben. Wir haben seine Methode der „recollective awareness“, die wir in unserer Wiener Sangha seit einem knappen Jahr üben, durch Übersetzungen von zwei seiner Artikel auf dieser Website vorgestellt, und zwar auf der Seite: „Das Meditieren entlernen“. Im Zentrum stehen für mich dabei zwei Dinge:

  • es lohnt sich, wenn wir uns im Nachhinein bewusst machen, was in der Meditation in uns vorgeht
  • was immer wir beim Meditieren tun: lasst es uns sanft tun

Um beides ist es in dem viertägigen Retreat gegangen, das soeben im österreichischen Scheibbs mit etwa 25 Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus Österreich, Deutschland und England stattgefunden hat. Schwerpunkt des Geschehens war die Meditation, das Führen von Aufzeichnungen nach dem Ende der Sitz-Einheiten und das gemeinsame Gespräch darüber, von Jason durch klare Regeln strukturiert. Besondere Inhalte oder Themen fürs Meditieren hat er uns nicht angeboten und uns ermutigt, entweder darauf zurückzugreifen, was wir anzuwenden gewohnt sind oder ohne Vorgaben einfach dem zu folgen, was so auftaucht. Ein Satz hat mich besonders angesprochen: jede Wahl, die wir hier bewusst treffen, ist besser als einem Vorschlag von ihm zu folgen. In den Gesprächsrunden ist er sehr aufmerksam auf die Erfahrungen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer eingegangen und hat die Unterschiede verschiedener Bewusstseinszustände beim Sitzen präzise herausgearbeitet. Bei diesem Zugang war für mich der Zusammenhang mit dem Dharma nicht von Anfang an klar. Erst auf Nachfrage habe ich gemerkt, wie intensiv Jason sich damit auseinandergesetzt hat, etwa mit den vier Edlen Wahrheiten oder der Lehre vom Bedingten Entstehen. Manche seiner Übersetzungen sind neu und unerwartet: von sati, meist als Achtsamkeit übersetzt, spricht er als von Erinnerung und meint, genau in diesem Sinn habe der Buddha das Wort gebraucht. Angewendet auf die erste der vier Wahrheiten bedeute das: Wissen enthüllt Schmerz, dem wir oft ausweichen und schnell entkommen wollen. Und dieses Wissen entstehe in der Erinnerung. Dazu passt die von ihm verfeinerte Methode der „recollective awareness“, der Erinnerung an das, was in der Meditation geschieht. Das Aufschreiben und die Gruppengespräche über die Meditationssitzungen haben bei nicht wenigen der Teilnehmenden intensive, oft stark emotional gefärbte Erfahrungen hervorgerufen, auch bei mir. Besonderen Eindruck hat mir Jasons authentische Aufforderung hinterlassen, sanft mit uns selber umzugehen; das hat wirklich gut getan. Die oft so lähmende Frage, ob ich es wohl gut genug mache, ist ganz unspektakulär in den Hintergrund getreten, und das hat einiges an freiem Raum für die Wahrnehmung dessen eröffnet, was gerade geschah. Bei all dem hatte ich das Gefühl, Jason sei vor allem ein erfahrener Meditationscoach, der die Auseinandersetzung mit dem Dharma nicht in den Vordergrund stellt. Systematisch präsentiert hat er uns seine Darstellung verschiedener Prozesse, die in der Meditation durchlaufen werden können. Recollective awareness ist auch in Jasons eigener Sicht in der Nähe von Psychotherapie angesiedelt. Grosse Sorgfalt beim Umgang mit diesem wirkungsvollen Werkzeug, das Menschen dazu bringen kann, sich sehr zu öffnen, scheint mir besonders wichtig. Zuzuhören, wie es anderen gerade innerlich geht, hat uns Teilnehmerinnen und Teilnehmer einander näher gebracht, als dies bei Retreats sonst üblich ist. An jedem Abend hat Jason eine „bedtime story“ vorgelesen: ein paar Kapitel aus seinem Roman „Seeking Nibbana in Sri Lanka“, in dem es um die Lehrjahre eines jungen Mönchs geht. Wir sind eingeladen worden, nach Belieben einzuschlafen oder zuzuhören. Die warme Atmosphäre, die dabei entstanden ist, hat wohl nicht nur bei mir Erinnerungen an Kindertage wachgerufen und gut getan. Für den Alltag hat uns Jason den Vorschlag mitgegeben, mehrmals in der Woche zu meditieren, wenn möglich zu wechselnden Tageszeiten, und uns jeweils danach ein wenig Zeit zu nehmen, um zu rekapitulieren, woran wir uns erinnern, auch wenn es nur Bruchstücke sein sollten. Eine Art von Tagebuch könne dabei hilfreich sein. Recollective Awareness in Gruppen lasse sich nach seiner Meinung auch ohne Lehrer üben, das hätte manchmal sogar Vorteile. Er hat uns auf monatliche Online-Kurz-Workshops hingewiesen, die er anbietet, Näheres dazu auf seiner Website: http://www.skillfulmeditation.org/. Jason Siff hat zwei Bücher über recollective awareness veröffentlicht: „Unlearning Meditation“ und das neu erschienene „Thoughts are not the enemy“, beide gibt es nur in englischer Sprache, sie sind auch als e-books erhältlich.

Notizen übers Meditieren
Ein paar persönliche Erfahrungen aus 20 Jahren

Meditieren ist möglich im Sitzen am Boden, auf einem Sessel, im Gehen oder im Liegen. Am liebsten sitze ich geerdet am Boden, aber keine Körperhaltung scheint mir „besser“ als andere. Die Haltung verändert sich über die Jahre laufend, die Nuancen werden feiner. Ich nehme das als gutes Zeichen. Die Zeit lässt sich auch mit einer dünnen Kerze messen, von der ich aus Erfahrung weiß, wie lang sie brennt. Räucherstäbchen versuche ich zu vermeiden. Ich spüre beim Sitzen gerne ein gewisses Maß an Körperspannung. Auf meine Vorlieben und Abneigungen bei den Rahmenbedingungen stelle ich mich ein, soweit es geht. Wenn es nicht geht, kann ich damit leben. Meditieren ist manchmal langweilig für mich, und manchmal ist es mir eine Freude: to go with the flow. Je weniger ich mich für Gedanken tadle, desto natürlicher wird das Bedürfnis, mich dem zuzuwenden, was ich im Augenblick empfinde 1. klangschaleDer Augenblick, in dem der Gong schlägt, bis zu seinem Ausklingen ist etwas besonderes für mich: bei der Sache zu sein ist dann gepaart mit der Freude, mich gleich bewegen zu dürfen. Anleitung durch eine Lehrerin oder einen Lehrer kann mir neue Impulse geben, und eine Gruppe Rückhalt. Es geht auch alleine. Für mich liegt der Sinn der Meditierens im Meditieren. Meist stehe ich um eine Nuance gesammelter auf, als ich mich hingesetzt habe. Des Widerspruchs zwischen diesen beiden Sätzen bin ich mir bewusst.

  1. Jason Siff und seinem Ansatz „Unlearning Meditation“ verdanke ich viel.  auf dieser Website: Jason Siff: das Meditieren entlernen. Jason kommt demnächst wieder nach Österreich. Termine gibt es unter: http://www.theravada-buddhismus.at und http://www.bzs.at

Du bist nicht ein Tropfen im Ozean, sondern der Ozean in einem Tropfen

ein-tropfen-im-meer-b44e2d6f-095f-41b3-b283-a0067f05c14eVier Aufgaben haben wir zu bewältigen, sagt uns Stephen Batchelor, und die vierte ist es, einen Pfad zu gehen: in jedem Augenblick so voll zu leben, wie es uns möglich ist. Winton Higgins nennt es: aus der menschlichen Bedingtheit das Beste machen.

In unserem Alltag sind wir gefragt, und dabei nicht nur bei dem, was wir in unserer Privatheit so denken und tun. Es geht auch um unser Handeln als Bürgerinnen und Bürger; selbst wenn wir das wollten, können wir den Blick darauf nicht abschalten. An vielen Orten der Welt sieht es düster und immer düsterer aus, in den Medien jagt eine grauenhafte Meldung die andere; man könnte verzweifeln oder stumpf werden vor lauter Entsetzen. Oft scheint es, als bliebe uns als hilflosen Zuseherinnen und Zusehern am Rande nur stummes Gelähmtsein, während Moloche aus Gewalt, Ausgrenzung, Umweltvernichtung, Gewinnsucht und Entpersönlichung um uns herum immer mächtiger werden.

Es gibt Frauen und Männer, die das anders sehen und die gegen die Lähmung handeln; um solche Menschen, ihre Gedanken und ihre Projekte geht es hier. Während meines Aufenthalts in Australien vor ein paar Wochen konnte ich das Festival UPLIFT – We are one besuchen1. Da haben sich – im besten Sinn des Wortes – die Richtigen zusammengefunden. Lauter „Gutmenschen“, oder auch „die üblichen Verdächtigen“ – wie wohltuend: Ein paar hundert Leute aus vielen Ländern der Welt, Alte und Junge mit vielen Kindern, Menschen aller erdenklichen Hautfarben, in Rollstühlen, auf einem oder zwei Beinen, Vertreter indigener Gruppen, Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit grünen oder braunen oder ohne Haare, lesbisch, hetero oder schwul, haben vier Tage lang geredet, zugehört, gegessen und getrunken, meditiert, Musik gemacht oder sonst was.

Charles EisensteinGespannt zugehört habe ich Charles Eisenstein2. Er sprach davon, wie bis vor etwa einer Generation für uns Menschen der Mythos des Fortschritts, des unaufhörlichen Wachstums von Technologie und Wirtschaft selbstverständlich gewesen sei: es sei nur mehr eine Frage der Zeit gewesen, bis wir uns die Erde untertan gemacht haben würden. Die letzten Jahrzehnte hätten aber einen Wandel eingeleitet: die Menschen würden langsam verstehen, dass ihre Aufgabe nicht darin liegt, die Natur zu bändigen, sondern sich als einen Teil von ihr zu verstehen und danach zu handeln. Er sprach davon, wie uns durch Ökonomisierung aller Lebensbereiche eingeredet worden sei, wir seien voneinander getrennte und gleichzeitig austauschbare Wesen; wir könnten und müssten alles kaufen, wo wir doch darauf ausgelegt seien, einander zu beschenken. Indem wir eine Kultur des absichtslosen Gebens pflegen, könnten wir neu verstehen, wie sehr wir alle miteinander verbunden und damit füreinander und für die Welt unverzichtbar seien.

Kennt ihr den Conscious Club3? Er ist uns dort in Byron Bay vorgestellt worden. Auf dieser australischen Website wird zusammengetragen, auf welch unterschiedliche Arten Menschen auf verschiedenen Ebenen bewusst miteinander aktiv sind und werden: Unzählige Aktivisten und Wissenschafterinnen engagieren sich unter dem Slogan There is no planet B für wirksame Maßnahmen gegen die Erderwärmung, die indische Wissenschafterin Vandana Shiva mobilisiert Tausende für Biodiversität, die Erhaltung indigenen Saatguts und gegen gentechnische Veränderungen4, vandana shivadie Garbage Warriors 5 bauen energie-autarke Häuser aus Abfall wie alten Autoreifen und leeren Plastikflaschen, die Leute von The Rolling Jubilee 6 kaufen Schulden auf, um sie durch gezielte gegenseitige Hilfe abzubauen, im Königreich Bhutan wird am Brutto-Nationalglück gearbeitet7, Seashepherds 8 kümmern sich um die Erhaltung der Meere und der Lebewesen, die sie bewohnen… Alle orientieren sich an der afrikanischen Weisheit: Wenn ihr schnell gehen wollt, geht allein – wenn ihr weit gehen wollt, geht gemeinsam. Wir alle sind ermutigt worden, in unserem Umfeld und unter unseren Lebensbedingungen genau das zu tun. Beim Uplift-Festival haben Vertreter indigener Gruppen aus New Mexico und Australien ein Abschlussritual mit uns Teilnehmerinnen und Teilnehmern gestaltet, bei dem unsere Wünsche für die Welt und unser Miteinander Platz hatten. Nach den Vorträgen und Workshops gab es auch viel Musik; wir wollten nicht nur in den Gehirnen, sondern auch in unseren Herzen Verbindungen schaffen. Zurück in Österreich: es gibt bei uns viele Projekte in demselben Geist des MIteinanders, der uns so notwendig ist und nach dem wir uns sehnen. Zwei kenne ich aus längerer Erfahrung.

Ute Bock9 ist pensionierte Sozialarbeiterin und Erzieherin in Wien. Als sie noch berufstätig war, hat sie sich bei Behörden unbeliebt gemacht, indem sie unbekümmert um Aufenthaltsrechte in dem Lehrlingsheim, das sie leitete, Menschen aus aller Welt Unterkunft, Essen, Beratung und Sprachkurse anbot oder vermittelte. Ich kaute bocknn die doch nicht einfach auf der Straße lassen, das geht doch nicht, sagt sie unsentimental und pragmatisch. In dem Haus, in dem sie auch selber lebt, wohnen hundert Menschen aller Hautfarben mit jeder Menge Problemen. Auf ihre Initiative ist rund um sie ein kompetentes Hilfs-Netzwerk entstanden, das von Spenden getragen wird. Jede Art von Unterstützung ist willkommen10.

Sagt euch die Abkürzung CSA etwas? Durch Community Supported Agriculture11 soll eine unmittelbare Verbindung zwischen Bauern und Konsumentinnen geschaffen und gepflegt werden. Wer sich einer solchen Gemeinschaft anschließt, weiß nicht nur, wo und wie sein hochwertiges Obst und Gemüse gezogen wird, sondern kann und soll sich auch persönlich einbringen: durch Mithilfe am Feld, beim Verpacken und an den Marktständen, durch seine Stimme bei regelmäßigen Versammlungen, in denen Rechenschaft gelegt und ein fairer Preise vereinbart wird, und beim Erntedank-Feiern.

Wenn jetzt jemand sagt: das sind doch ganz unterschiedliche Projekte, du schreibst hier über Kraut und Rüben, würde ich antworten: c’est la vie. Überall hier und an vielen anderen Orten besteht Bedarf an gemeinschaftlichem Handeln mit Herz und Hirn.

Der Kongress: Gutes Leben für alle findet von 20.-22. Feber 2015 in Wien statt. In der Ankündigung ist zu lesen:

Worum geht’s?

Seit Jahren gibt es eine blühende Avantgarde, die Wirtschaft und Gesellschaft neu denkt und lebt: Von Energiegenossenschaften, engagierten Gewerkschaftsinitiativen, Social Entrepreneurs bis hin zur Commons-Bewegung und alternativen Finanzinstitutionen gibt es mittlerweile eine Vielfalt an Initiativen, die Alternativen Wirklichkeit werden lassen.

In vielfältigen Experimenten wird allerorten nach Lösungen gesucht: Innovationen im Kleinen und vor Ort schaffen Nischen des Probehandelns für lokale und biologische Landwirtschaft und entlarven Sachzwänge als mächtige, aber letztlich sozial konstruierte Lernblockaden; neue Eigentums- und Nutzungsformen entwickeln sich gegen die zunehmende Ausbeutung und Aneignung begrenzter Ressourcen in einer auf Gewinn und Wachstum ausgerichtete Ökonomie; innovative Kollektivvertragsvereinbarungen reagieren auf die zunehmend ungleiche Verteilung von Arbeit, Reichtum und Lebenschancen.

Gleichzeitig erscheint der politische, gesellschaftliche und mediale Mainstream davon noch weitgehend unbeeindruckt: Weder die aufgrund des Klimawandels zunehmenden Naturkatastrophen noch besorgniserregende Berichte über die Sozialsysteme in Südeuropa haben zu einem Umdenken in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik geführt.

Der Kongress erkundet, wie ein gutes Leben nicht nur für wenige, sondern für alle möglich wird. Es gilt auszuloten, wie Neues gesellschaftlich anknüpfungsfähig und selbstverständlich werden kann. 12

Hier geht es – in der Terminologie des 21. Jahrhunderts – um die Erforschung der Pfade, die wir, wie Gotama Siddharta lehrte, mit Sorgfalt und Fürsorglichkeit gehen sollen.

Evamaria Glatz[13. Der Titel des Beitrags stammt von dem persischen Dichter und Sufi-Meister Rumi

  1. http://www.upliftfestival.com
  2. Charles Eisenstein ist ein amerikanischer Autor und Vortragender; er nennt sich selbst einen „degrowth activist“. Zwei seiner Bücher sind: The Ascent of humanity, 2007, dt.: Die Renaissance der Menschheit, 2012, und: Sacred Economics: Money, Gift and Society in the Age of Transition, 2011, dt.: Ökonomie der Verbundenheit, 2013. Es gibt Videos mit Kurzvorträgen und Interviews auf youtube auch mit deutscher Übersetzung, z.B.: https://www.youtube.com/watch?v=5AZzBM8FVqo
  3. http://www.consciousclub.com
  4. eine berührende Neujahrsansprache für 2015 ist unter: https://www.youtube.com/watch?v=fX5jsq74fAo abrufbar
  5. Näheres auf deutsch unter: http://www.gratis-energie.com/architektur/earthships/garbage-warrior.html
  6. 6.s.:http://rollingjubilee.org
  7. s.:http://www.nachhaltigkeit.info/artikel/bruttoinlandsglueck_in_buthan_1869.htm
  8. s.:http://www.seashepherd.org
  9. Die verrückte Welt der Ute Bock ist ein Dokumentarfilm aus dem Jahr 2010 über sie und ihre Arbeit
  10. Näheres unter: http://www.fraubock.at
  11. Näheres unter http://www.ochsenherz.at – da bin ich Mitglied
  12. http://www.guteslebenfueralle.org

Glaub nicht alles, was du denkst
„The Work“ von Byron Katie und meine Probleme damit

byron katieEine aufmerksame Leserin hat uns darauf hingewiesen, dass dieser prägnante Satz, der David Loy so gut gefällt, von Byron Katie stammt. Das war mir Grund genug, über sie und ihre Arbeit zu recherchieren. Auf der Website http://thework.com/sites/thework/deutsch gibt es u.a. eine Einführung über ihre Person, Details zu ihrer Arbeitsweise und viele begleitende Materialien1. Byron Katie ist eine US-Amerikanerin, die nach langjährigen schweren persönlichen Krisen mit Depressionen, Süchten und Panikattacken eine Art Erweckungserlebnis hatte, wie sie berichtet. Dies habe ihr Leben mit einem Schlag von Grund auf verändert und sie zu einem glücklichen, ausgeglichenen Menschen gemacht. Sie entwickelte eine Technik von vier Fragen und „Umkehrungen“ der Antworten, mit denen sie seither arbeitet und die sie vielen Menschen in Büchern, Videos und Workshops nahegebracht hat2. Byron Katie schlägt vor, schmerzhafte, ärgerliche, belastende Erfahrungen in einem meditativen Prozess gedanklich genau zu überprüfen. Dabei geht es in den ersten beiden Fragen darum, ob sie „wahr“ seien, die dritte und vierte sollen deutlich machen, wie sehr die Gedanken darüber den Fragenden belasten. Indem schließlich Aussagen wie „Mein Mann sollte mir besser zuhören“ „umgekehrt“ werden (zum Beispiel in: „Ich sollte ihm besser zuhören“), soll die Aufmerksamkeit darauf gerichtet werden, wie eigene oft unbewusste Verhaltensweisen mit denen korrespondieren, die einen an anderen besonders stören: je schlechter ich selber zuhören kann, desto eher wird mich das an anderen Menschen nerven. Der Gedanke, „Glaubenssätze“ über sich und andere Menschen in Frage zu stellen und die Aufmerksamkeit auf die Schattenseiten des eigenen Selbstbilds zu richten, hat mich angesprochen. Ich sah eine Verbindung zu den Überlegungen über das „Selbst“, um die es auf diesem Blog seit einer Weile geht und erinnerte mich an Buddhas Bild, wie Ungeübte zwei Pfeile spüren: der erste verursacht den Schmerz einer echten Verletzung, mit dem zweiten sind die Sorgen und Ängste gemeint, die wir danach in uns nähren. Ich habe vieles von Byrons Website gelesen, mir Videos angesehen und ihre Technik selber und mit anderen ausprobiert. Da gibt es einiges, was mich anzieht: ihre Aussagen darüber, wie Schmerz uns zum Nachdenken führen kann; wie wir die tief verwurzelte Gewohnheit, uns selbst und andere zu bewerten, als Ausgangspunkt für Selbsterforschung nutzen können, die oft wiederholte Aufforderung, unsere Gedanken an der Realität zu überprüfen und eine skeptische innere Haltung, die in dem prägnanten Satz gipfelt: glaub nicht alles, was du denkst. Im Selbstversuch habe ich mit den „Umkehrungen“ einiges anfangen können; sie richteten meine Aufmerksamkeit darauf, wie mich an anderen oft am meisten stört, was mir selber schwerfällt. Von Beginn an aber fand ich die Ausgangsfrage und Byrons Umgang damit falsch gestellt. Ein Beispiel: Nach der Aussage: „XY hat mich verletzt“ führt die Frage „Ist das wahr?“ in ein Dickicht von weiteren Fragen über Wesen und Urheberschaft von „Wahrheit“. Die Frage „Entspricht das der Realität?“ wäre vielleicht sinnvoller, weil durch sie unterschiedliche Sichtweisen deutlicher werden könnten. Eine Dharma-Freundin, mit der ich „The Work“ übte, stellte fest, dass die Voraussetzung für den Prozess, nämlich Byrons unhinterfragtes Vorverständnis von „Wahrheit“, einem offenen, skeptischen Zugang widerspreche. Jedenfalls sind „Glaubenssätze“, die auf diese Weise identifiziert werden, nicht „Lügen“, wie Byron sagt und schreibt, sondern höchstens Irrtümer oder Verzerrungen. An dieser Stelle wird es gefährlich, scheint mir, weil der Bewertung, die in Frage gestellt werden soll, durch das Etikett „Lüge“ gleich wieder Tür und Tor geöffnet wird, jetzt auf die eigene Person bezogen. Meine Vorbehalte wuchsen mit der Frage: wo hat sie das her? Auch Byron muß in einer Tradition stehen, die sie aber verschweigt. Ihrer Erklärung vom Erweckungserlebnis als einziger Quelle mag ich nicht folgen. Bei aller Vorliebe für handlungsorientierte Ethik, hier fehlt mir die Theorie, aus der auch sie geschöpft hat – dazu später mehr. Nun können spontane tiefe Einsichten sicher wichtige Anstöße geben; mich stört aber die Ausschließlichkeit und Unbedingtheit von Byrons Anspruch ihren Klientinnen gegenüber sehr: Ein Arbeitsblatt wird dein Leben für immer verändern? Byron Katie ist weltweit bekannt – Google zählt 3 250 000 Treffer. Sie hat sehr viele Anhänger, von denen ihr ein großer Teil enthusiastisch folgt. Auf zahlreichen Videos kann man ihr bei der Arbeit – auch vor Publikum – zusehen. Mir scheint, dass sie im Gespräch den Eindruck zu erwecken versucht, durchaus einfühlsam auf Klientinnen einzugehen, aber recht bedingungslos Richtung und Tempo des Gesprächs vorgibt. Da bleibt nicht viel Raum für eigene Reflexion über das Wesen des jeweiligen Problems und vor allem nicht über seine Veränderbarkeit. Byron hat nicht wenige scharfe Kritiker. Ein ausführliches, kluges Statement auf deutsch mit anschließender kontroversieller Diskussion gibt es unter: https://emj57.wordpress.com/2009/07/21/warum-ich-the-work-von-katyie-byron-nicht-mag/. Darin heißt es:

Durch die vier Fragen erfolgt sofort eine Ablenkung vom betreffenden Glaubenssatz. Durch die Umkehrungen führt der Weg noch weiter weg. Ich werde praktisch gezwungen, mir andere Gedanken samt den dazu gehörigen Gefühlen vorzustellen. Da zwei Gefühle nicht zugleich auftreten können und volle Konzentration auf die jeweils neuen Gedanken verlangt wird, tritt der erste Gedanke in den Hintergrund und wird von den nachfolgenden überlagert. Ich bezweifle zutiefst, dass das Ursprungsproblem damit gelöst ist! Für den Augenblick mag es durchaus so scheinen, weil man sich auf andere Gedanken völlig konzentriert. Diese neuen Gedanken sind spannend und anregend und beanspruchen die Aufmerksamkeit. Sie erzeugen andere Gefühle als die ursprünglichen. Es ist ein Ablenkungsmanöver. An sich ist die Aussage, man solle sich niemals gegen die Realität stellen, in bestimmten Situationen eine Binsenweisheit. Wer mit dem Kopf durch die Wand will, wird sich eine Beule holen, ganz egal, wie oft er es versucht. Was aber fehlt, ist die ganz wichtige Frage: Ist diese Realität veränderbar oder nicht? Das halte ich für die zentrale Frage überhaupt.

Eine differenzierte Kritik in englischer Sprache liest man auf der Website von Morten Tolboll: http://mortentolboll.weebly.com/a-critique-of-byron-katie-and-her-therapeutic-technique-the-work.html. Hier gibt es auch Erfahrungsberichte von Menschen, die sich auf längere Schulungen bei Byron eingelassen haben. Dabei hat sich bei mir der Eindruck einer deutlichen Tendenz zu Manipulation verstärkt. Eine Analyse, die auch positive Aspekte von „The Work“ würdigt, findet sich unter: http://www.new-synapse.com/aps/wordpress/?p=315 (ebenfalls in englischer Sprache). Die Autorin weist unter anderem darauf hin, dass die Technik sich – wie es bei Methoden von Gurus üblich sei – gezielt jedem wissenschaftlichen Zugang verschließe, und dass Byron auf eine mögliche Verschlechterung von Problemen bei traumatisierten oder psychisch kranken Menschen weder vorbereite noch Rücksicht nehme. Byron sagt „The Work“ sei eine Technik, keine Therapie. Sie hat auch keine einschlägige Ausbildung durchlaufen. Ihr Ehemann spricht davon , dass sie keine Vorbilder gehabt habe und nur von ihrem „Erweckungserlebnis“ geformt und motiviert worden sei. Als Beleg dafür führt er an, sie lese keine Bücher3. An dieser Stelle war ich der Meinung, nun genug Informationen über Byron Katie gesammelt zu haben. Eines noch: „The Work“ ist ein ausgezeichnetes Geschäft. Zwar sind die Übungsblätter und Anfangsinformationen im Netz kostenlos zugänglich, aber Byrons Bücher haben enorm hohe Auflagen und die teuren Workshops, die sie regelmäßig mit Gruppen von mehreren hundert Personen hält, sind laufend ausgebucht.

  1. Dort sind auch ihre Bücher angeführt; das bekannteste heißt: Lieben, was ist; außerdem kann in zahlreichen You-Tube-Videos (in englischer Sprache) ihre Arbeit mit Klientinnen und Klienten beobachtet werden
  2. Die vier Fragen und Anleitungen für die „Umkehrungen“ finden sich auf der oben genannten Website unter: http://thework.com/sites/thework/deutsch/downloads/Arbeitsblatt_UrteileUberDeinenNachsten.pdf und http://thework.com/sites/thework/deutsch/downloads/Arbeitsblatt_UntersucheEineUberzeugung.pdf
  3. nachzulesen ist das auf der oben zitierten Website von Morten Tolboll. Dort gibt es auch den Hinweis auf den US-amerikanischen Persönlichkeitstrainer Ken Keyes, von dem vieles in Byrons Texten wörtlich oder sinngemäß übernommen ist

An sich selbst

Sei dennoch unverzagt, gib dennoch unverloren,

Weich keinem Glücke nicht, steh höher als der Neid,

Vergnüge dich an dir und acht es für kein Leid,

Hat sich gleich wider dich Glück, Ort und Zeit verschworen.

Was dich betrübt und labt, halt alles für erkoren,

Nimm dein Verhängnis an, lass alles unbereut.

Tu, was getan muß sein, eh man es dir gebeut.

Was du noch hoffen kannst, das wird noch stets geboren.

Was klagt, was lobt man doch?

Sein Unglück und sein Glücke

Ist sich ein jeder selbst.

Schau alle Sachen an : Dies alles ist in dir.

Laß deinen eitlen Wahn,

Und eh du vorwärts gehst,

so geh in dich zurücke.

Wer sein selbst Meister ist

und sich beherrschen kann,

Dem ist die weite Welt und alles untertan.

paul_fleming

Paul Fleming

deutscher Dichter und Arzt im 17. Jh.

Wie bin ich denn? So – oder doch vielleicht anders?
Wie unser Selbstbild unser Leben beeinflusst. 1. Teil
von Victor von der Heyde

strichmännchen1„Glaub nicht alles, was du denkst“, schreibt David Loy in einem kürzlich veröffentlichten Beitrag. Ohne die Geschichten, die wir uns selbst und anderen über uns selbst und die Welt erzählen, können wir nicht leben. 1 Es könnte aber hilfreich sein, wenn wir uns bewusst machen, dass alle Narrative Konstrukte sind, die auch umgebaut, anders beleuchtet, aus ungewohnten Blickwinkeln gesehen werden können. Unsere Geschichten und die Art, wie wir sie erzählen, können Dukkha in unserem Leben steigern oder verringern. Darüber spricht der australische Dharmalehrer Victor von der Heyde in dieser Rede 2:

Ein Element unserer Praxis ist, dass wir lernen können, Situationen und uns selbst anders als bisher zu sehen. Manchmal sind wir einfach festgefahren und sehen uns automatisch auf eine bestimmte Weise. Wir könnten uns doch einmal unseren eigenen Gefühlen und Reaktionen bewusst und einfühlsam zuwenden. Vielleicht kennt jemand von euch die folgende Geschichte von Shantideva, dem Mahayana-Lehrer aus dem 8. oder 9. Jahrhundert. Er sagte: Wenn du einen Grobian siehst, der einen Mann mit einem Stock prügelt, wem weist du Schuld zu? Dem Stock? Wahrscheinlich nicht, denn es gibt etwas, was den Stock antreibt. Beschuldigst du den Arm? Nein, denn es gibt etwas, was den Arm antreibt. Nennst du die Person schuldig? Nun, die Person hat viele Eigenschaften – wie wäre es, der Wut, die die Person und den Arm antreibt, die Schuld zu geben? Das ist eine neue Sichtweise. So beurteilt man nicht einen ganzen Menschen, sondern eine Eigenschaft, die man dabei bewusst getrennt von der „Persönlichkeit“ betrachtet. In unserer Praxis können wir uns die Idee von unserem „Selbst“ genauer ansehen: was schreiben wir unserem Ich zu, wie definieren wir uns? Das ist manchmal recht vage und nicht sehr bewusst, wir haben nur eine ungefähre Vorstellung und schauen uns das nicht so genau an. Das kann aber hilfreich sein, denn wie wir uns selber sehen, hat oft Auswirkungen darauf, was wir sonst noch wahrnehmen können. Ich gebe euch ein paar Beispiele:

Victor-sm

Ihr kennt den Begriff der ökologischen Schulden. Wenn du mehr als deinen fairen Anteil der begrenzten natürlichen Ressourcen verbrauchst, häufst du ein ökologisches Schuldenkonto an. Die meisten von uns tun das durch ihren Lebensstil. In einer Studie des Londoner Instituts für Psychoanalyse wurde festgestellt, dass Menschen sich damit nicht näher beschäftigen wollen, weil das ihr Selbstbild, sozial verantwortungsbewusst zu sein, in Frage stellen würde. Das wäre ein Beispiel dafür, wie eine bestimmte Sichtweise auf dich selbst deine Aufnahmefähigkeit beeinflusst. Ein anderes Beispiel wäre die Art, wie viele depressive Menschen die Welt und das, was ihnen widerfährt, wahrnehmen. Auch wenn ihnen recht positive Dinge geschehen, können sie dies nicht zur Kenntnis nehmen. Auch hier werden durch bestimmte Vorstellungen von sich selbst die Möglichkeiten beschränkt, etwas anzunehmen und zu integrieren. Noch ein Beispiel: ich kenne einen Mann, der an weit fortgeschrittenem Krebs erkrankt ist. Für lange Zeit konnte er – wie es oft vorkommt – nicht zur Kenntnis nehmen, dass er sterben wird. Er hat ein Bild von sich als einem Mann, der sich Herausforderungen stellt und entsprechend handelt. Der Gedanke an den eigenen Tod wurde durch dieses Selbstbild blockiert und der Mann brauchte lange, bis er sich der nahenden Realität stellen konnte. Es ist nicht so einfach, ein genaueres Bild von sich selbst zu entwickeln. Wir nehmen es einfach als einen Teil unseres Lebens und kümmern uns nicht weiter darum. Dazu kommt: manches an unserem Selbstbild hängt mit dem zusammen, was in unserer Gesellschaft oder Subkultur üblich ist. Bei uns wird viel Wert darauf gelegt, angenehm und gepflegt zu wohnen – es kann sich auf dein Selbstbild auswirken, wenn du nicht in einem solchen Heim lebst. Oder: in unserer Gesellschaft werden Paarbeziehungen sehr wichtig genommen – wenn du andere Akzente setzt, etwa auf die Natur oder die Gemeinschaft, kann dein Selbstbild davon beeinflusst werden, dass für viele Menschen in deiner Umgebung Zweier-Partnerschaften unabdingbar sind, damit sie sich als glückliche oder erfolgreiche Person sehen können. Die Frage wäre also: wie bekommen wir ein Gefühl für unser Bild von uns selbst? Der erste Schritt könnte sein, es stärker in unser Bewusstsein zu heben, und zwar eher durch Formen von Kontemplation als durch meditative Praxis im engeren Sinn.

Im nächsten Teil dieser Übersetzung, der demnächst folgt, gibt Victor ein paar konkrete Vorschläge, wie wir lernen können, unser Selbstbild deutlicher werden zu lassen und es zu beeinflussen.

  1. Stephen Batchelor stellt seinen „Confessions of a Buddhist Atheist“ ein Zitat des deutschen Filmemachers Wim Wenders voran: „Stories are impossible, but it’s impossible to live without them. That’s the mess I’m in“.
  2. Näheres über von der Heyde und die Originalaufnahme mit dem Titel: „Honouring our empty Selves“ unter: www.dharma.org.au/v/ . Mit Zustimmung des Autors leicht gekürzte Übersetzung von Evamaria Glatz

Die Welt besteht aus Geschichten
von David Loy

StoriesWenn wir glauben, dass wir religiöse Mythen hinter uns gelassen haben, erliegen wir dem Irrtum, diese neueste Version von Kulturgeschichte würde die Welt in sich fassen. 1

Die amerikanische Dichterin Muriel Rukeyser prägte den berühmten Satz: „Das Universum besteht aus Geschichten, nicht aus Atomen“. Wir sind nicht nur Tiere, die Sprache gebrauchen, wir sind Lebewesen, die Geschichten erzählen, denn das ist in allen Kulturen eine elementare menschliche Aktivität. Geschichten sind mehr als nur Geschichten. Mit unseren Geschichten geben wir der Welt Sinn. Es ist nicht so, dass wir die Welt erfahren und uns danach Geschichten ausdenken, um sie zu verstehen. Geschichten lehren uns, was real, was wahr und was möglich ist. Sie sind nicht Abstraktionen vom Leben (obwohl sie das auch sein können); sie sind notwendig, damit das Leben für uns verbindlich wird. Wir machen uns nicht bewusst, dass unsere Geschichten Geschichten sind und nehmen sie üblicherweise wahr, als wären sie die Welt. Wie Fische, die das Wasser nicht sehen, in dem sie schwimmen, nehmen wir normalerweise das Medium, in dem wir schwimmen, nicht zur Kenntnis. Wir halten es für selbstverständlich, dass die Welt, wie wir sie erfahren, mit dem Wesen der Dinge identisch ist. Aber genauso wie die Geschichten, deren Teil sie sind, beeinflussen unsere Konzepte und Ideen über die Welt unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit stark. In der buddhistischen Praxis lernt man früh und immer wieder die Wahrheit auf meinem Lieblingssticker: „Glaub nicht alles, was du denkst“. Diese Erkenntnis mag zu dem Wunsch führen, alle Beschreibungen der Welt abzulehnen und zur Wirklichkeit, die hinter ihnen liegt „zurückzukehren“, zu den nackten Fakten der Erfahrung. Aber auch das bedeutet, eine Geschichte zu inszenieren, die Geschichte über das Loslassen von Geschichten. Es geht hier darum, nicht zu leugnen, dass es eine Welt unabhängig von unseren Geschichten gibt, sondern sich klarzumachen, dass wir Menschen die Welt durch das Geschichtenerzählen verstehen. Im Gegensatz zu dem erwähnten Fisch können wir jedenfalls das Wasser wechseln, in dem wir schwimmen. Unsere Beziehung zu Geschichten kann verändert werden. Geschichten sind Konstrukte, die re-konstruiert werden können, aber sie sind nicht freischwebend. Mit anderen Worten: wir sind Mit-Schöpfer der Welt, in der wir leben. Wir brauchen Geschichten, die den Klimawandel erklären und uns befähigen, über ihn zu sprechen. Wir können die Erderwärmung nicht einfach von den Geschichten darüber trennen – auch wenn einige Erdölkonzerne das versucht haben. Gemäß bestimmter Arten von Geschichten zu leben, führt zu Steigerung von Leiden, und gemäß anderer Geschichten zu leben, kann Leiden verringern. Die zentrale Figur in der grundlegenden Geschichte, zu der wir immer und immer wieder zurückkehren ist das „Selbst“, das „Ich“ für individuell und wirklich halte, das aber in Wirklichkeit aus den Geschichten zusammengesetzt ist, mit denen ich mich identifiziere und nach denen ich zu leben versuche. Geschichten geben meinem Leben die Handlung, die ihm Bedeutung verleiht. Seine Geschichten auszuleben hat Konsequenzen, ein Prozess, der im Buddhismus „Karma“ genannt wird. Aus dieser Perspektive ist Karma nicht etwas, was das Selbst „hat“, sondern das, was zur Empfindung von Selbst wird, während es sich in seinen Rollen verwurzelt. Gewohnheitsmäßige Tendenzen verdichten sich zum Charakter eines Menschen – und das endet damit, dass man ohne Seil gebunden ist. Unser Problem liegt nicht bei den Geschichten selbst sondern darin, wie wir uns mit ihnen identifizieren. Eine Bedeutung von Freiheit ist: die Möglichkeit, die Geschichte zu leben, mit der man sich identifiziert. Eine andere Art von Freiheit ist die Fähigkeit, Geschichten und meine Rolle in ihnen zu wechseln: ich bewege mich vom Charakter, der im Drehbuch festgeschrieben ist, zum Koautor meines eigenen Lebens. Eine dritte Art von Freiheit ergibt sich daraus, verstehen zu lernen, wie Geschichten meine Möglichkeiten erzeugen und beschränken. Der englische Kognitionswissenschafter Guy Claxton nennt das Bewusstsein „…einen Mechanismus zur Herstellung zweifelhafter Geschichten mit dem Zweck, eine überflüssige und ungenaue Empfindung von Selbst zu verteidigen“. Die Haupthandlung solcher Geschichten kreist meist um Furcht und Angst, denn die Hauptfigur „Ich“ kann nie die erwünschte Stabilität und Autarkie erreichen. Solche Narrative versuchen ein Ego abzusichern und zu vergrößern, das sich als vom Rest der Welt getrennt erlebt. Diese Bemühungen haben einen Bumerang-Effekt, denn – wie im Buddhismus hervorgehoben wird: ein solches getrenntes Ich ist Illusion. Zum Erwachen gehört die Erkenntnis, dass meine Geschichte Teil einer viel umfassendere Geschichte ist, die auch die Geschichten anderer Menschen umfasst. Unsere Geschichten haben keine scharfen Ränder, sie hängen miteinander zusammen. Im Aufwachsen akzeptiere ich manche der Geschichten, die die Gesellschaft anbietet und ich bestätige sie durch mein Handeln. Geschichten lehren mich, was es heißt, Bub oder Mädchen zu sein, Amerikaner oder Chinese, Christ oder Buddhist, und wie, in welcher Form und wie weit Erziehung, Religion, Geld usw. wichtig sind. Die Geschichten, die dieser Welt Sinn verleihen, sind Teil dieser Welt. Verändert werden wir nicht, indem wir diese Welt transzendieren, sondern indem wir Geschichten auf neuartige Weise erzählen. Was Religion betrifft, bedeutet das: wir verändern die Metaphern, nach denen wir leben. Religiöse Metaphern und Symbole buchstäblich zu verstehen, geht meist am Kern der Sache vorbei. Die metaphorische Natur religiöser Sprache bedeutet, dass ihre Behauptungen nicht bestätigt werden können. Mythen – wie Metaphern im allgemeinen – vermeiden dieses Problem, da ihre Bedeutung woanders liegt. Zu religiösen Lehren gehören wie zu anderen Ideologien behauptete Aussagen, die man akzeptieren oder ablehnen kann. Mythen bieten Geschichten zum Interagieren. Den buddhistischen Mythos über Siddhartas schicksalhaftes Zusammentreffen mit einem alten Mann, einem Kranken, einem Leichnam und einBuddha trifft auf Alter, Krankeit und Todem Asketen kann man als historisches Faktum verstehen, als eine bildhafte Art der Darstellung, warum Siddharta sein Zuhause verließ, oder als ein Stilmittel, das mit dem tatsächlichen Leben des Buddha vielleicht nichts zu tun hat. Jedenfalls ist der Mythos eine wirkungsvolle Art, seine Lehre zu untermalen. Wenn man ihn als symbolisch versteht, ist diese Mehrdeutigkeit kein Problem – Mythen wirken so; das ist keine Frage von buchstäblicher Wahrheit oder Falschheit. Eine bessere Methode, einen Mythos – eine symbolische Geschichte – einzuschätzen, wäre, zu überlegen, was geschieht, wenn wir ihm gemäß leben. Das wichtigste Kriterium für den Buddhismus liegt darin, ob eine Geschichte das Erwachen fördert. Ein Mythos, der für mich interpretiert worden ist, muss erst noch durch mich interpretiert werden – durch das, was ich aus ihm mache und was er mit mir macht. Eine Geschichte über das Leiden durch Alter, Krankheit und Tod steht quer zu den Geschichten, mit denen wir unsere Sterblichkeit zu ignorieren versuchen: die Bedeutung von Geld, Besitztümern, Ruhm und Macht. Die Sorgen um diese Güter loszulassen eröffnet andere Möglichkeiten, und vielleicht eine andere Beziehung zu Geschichten. Mythen sind nicht einfach schlechte Geschichten, die durch rationale und wissenschaftliche Darstellungen, die die empirische Welt besser erfassen, ersetzt werden müssen. Aus der Perspektive von Geschichten ist einer der gefährlichsten Mythen der von einem Leben ohne Mythen, die Geschichte von einem Realisten, der sich von all dem Unsinn befreit hat. Die Idee, Wissenschaft und systematische Vernunft könnten uns von der angeblichen Unvernunft von Mythen befreien, ist heutzutage eine besonders beliebte Fiktion. Geschichten haben sowohl soziale als auch individuelle Funktionen. Manche Geschichten rechtfertigen zum Beispiel soziale Unterschiede. Mittelalterliche Könige herrschten durch göttliches Recht. Ein indischer Mythos über die verschiedenen Teile des kosmischen Körpers rationalisiert das Kastensystem der Hindus. Wir stellen ein soziales Arrangement in Frage, in dem wir die Geschichte bezweifeln, die sie bestätigt.  Wenn Menschen aufhören, an die Geschichten zu glauben, die die soziale Ordnung rechtfertigen, beginnt der Wandel. Als das Volk Frankreichs das göttliche Recht seines Königs nicht mehr akzeptierte, folgte die Französische Revolution. Eine der vorherrschenden Geschichten unserer Tage ist: wir leben in einer Welt, die von unpersönlichen physischen Gesetzen beherrscht wird, die uns und unserem Schicksal indifferent gegenüberstehen. Menschenwesen haben keine Funktion im gewaltigen Entwurf der Dinge. Wir haben keine entscheidende Rolle zu spielen, außer vielleicht unser Leben zu genießen, so sehr wir können und so lange wir können – wenn uns das möglich ist. Diese Geschichte von einem Universum, das sich ausschließlich auf physische Gesetze und Prozesse reduzieren läßt, wird auch im Sozialen angewendet. Der Gedanke von Entwicklung durch natürliche Selektion hat untergraben, was von der alten religiösen Geschichte des Westens übriggeblieben war: Zur Erklärung der Schöpfung wird Gott nicht mehr benötigt. on the origin of speciesBald nachdem Charles Darwin „The Origin of Species“ veröffentlicht hatte, wurde seine Theorie verwendet, um die Entwicklung eines neuen Typs industrieller Ökonomie zu rechtfertigen. Herbert Spencer prägte den Begriff: „survival of the fittest“ und wandte ihn auf die menschliche Gesellschaft an. Du musst über den Kerl, der dir auf dem Weg nach oben der nächste ist, drübersteigen oder er wird über dich steigen. Wert und Bedeutung von Leben wurden weitgehend aus der Sicht von Überleben und Erfolg verstanden, die Maßzahl dafür war hauptsächlich Geld, nicht Fruchtbarkeit. Laut dieser Geschichte geht es im Leben darum, was du kriegen und womit du durchkommen kannst, bis du stirbst. Du bist entweder ein Gewinner oder ein Verlierer, und wenn du nicht erfolgreich bist, gib niemand anderem die Schuld. Es war kein Zufall, dass Spencers Geschichte vom Sozialdarwinismus die Mächtigsten am meisten ansprach. Industriebonzen wie Andrew Carnegie und John D. Rockefeller begrüßten seine Philosophie. Offensichtlich blüht und gedeiht die Hauptaussage des Sozialdarwinismus – dass man seine eigenen wirtschaftlichen Interessen auch auf die Kosten des Wohlbefindens anderer verfolgen soll – noch immer. Aus buddhistischer Perspektive scheint es ebenso offenkundig, dass diese Geschichte das Abstoßende ihrer Motive leugnet, vor allem der „drei Gifte“ Gier, Hass und Ichsucht. Der verblendete Glaube, dass ein Mensch vom anderen getrennt sei, gestattet es, seine eigenen Interessen unabhängig davon zu verfolgen, was diesem anderen geschieht. Soziologen haben darauf hingewiesen, dass eine Anwendung des Darwinismus auf soziale Zustände unpersönliche biologische Vorgänge mit menschlichen Einrichtungen, die reformierbar sind, vermischt. Aber wenn genügend Leute diese Geschichte glauben und dementsprechend handeln, wird sie zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung. Dann konstruieren wir die soziale Welt nach diesen Prinzipien und die Gesellschaft wird tatsächlich in eine Art von darwinistischem Dschungel verwandelt. Während ich das schreibe, wird in einem neuen Oxfam Bericht 2 festgestellt, dass im Jahr 2014 das reichste Prozent der Weltbevölkerung 48 Prozent des Reichtums der Welt zu eigen hatte, während die 80 Prozent am unteren Ende der Reichtumsskala etwa 5 Prozent besaß. Wenn das mit grundlegenden sozioökonomischen Gesetzen in Übereinstimmung stünde, würden wir eine solche Entwicklung ablehnen und irgendwie versuchen, sie zu hemmen, müssten uns aber nicht prinzipiell an derart große Mißverhältnisse anpassen. Die sozialdarwinistische Geschichte trägt also dazu bei, eine solche Ungleichheit zu „normalisieren“ und legt nahe, sie zu akzeptieren. Es gibt aber Alternativen. Statt eine solche Geschichte zu akzeptieren, die nur dazu dient, den wachsenden Reichtum und die steigende Macht einer privilegierten Elite zu rationalisieren, können wir nach besseren Geschichten Ausschau halten, besser, weil ein ihnen gemäßes Leben soziales Dukkha verringern würde. Sowohl kollektiv als auch persönlich können unsere Geschichten geändert werden, und in diesem Fall müssen sie sich ändern, damit wir auf die ökonomischen und ökologischen Herausforderungen, mit denen wir jetzt konfrontiert sind, besser reagieren können. Im pluralistischen Klima unserer Gegenwart können wir die grundlegenden religiösen und säkularen Narrative, die uns in der Vergangenheit gedient haben, nicht länger in gleicher Weise verstehen. Wir können uns in einen beschränkten Rahmen zurückziehen, in dem nur eine einzige Weltsicht gilt, oder wir können die Vielfalt von Geschichten und Perspektiven im Geist spielerischen Nicht-Anhaftens annehmen.

  1. „The World is made of Stories“ von David Loy wurde im Sommer 2015 im buddhistischen Magazin „Tricycle“ veröffentlicht und mit Zustimmung des Autors für unsere Website übersetzt
  2. Oxfam ist eine internationale Entwicklungsorganisation, E.G.