Ein Wort über die Seele

Eine Seele hat man.
Keiner hat sie unentwegt
und für immer.

Tag für Tag,
Jahr für Jahr
kann ohne sie vergehen.

Manchmal nur nistet sie sich
in den Entzückungen und Ängsten der Kindheit
für länger ein.
Manchmal nur im Staunen darüber,
daß wir alt sind.

Sie assistiert uns selten
bei mühsamen Tätigkeiten,
wie Möbelrücken,
Kofferschleppen
oder beim Fußmarsch in engen Schuhen.

Beim Ausfüllen von Fragebogen
und beim Fleischhacken
hat sie in der Regel frei.

Von unseren tausend Gesprächen
beteiligt sie sich an einem,
und auch das nicht unbedingt,
lieber schweigt sie.

Wenn unser Körper zu schmerzen beginnt,
macht sie sich heimlich davon.

Sie ist wählerisch:
Ungern sieht sie uns in der Masse,
unser Kampf um Überlegenheit und der Lärm der Interessen
widern sie an.

Freude und Trauer
sind ihr nicht verschiedene Gefühle.
Nur in ihrer Verbindung
ist sie zugegen.

Wir können auf sie zählen,
wenn wir ganz unsicher sind,
und neugierig auf alles.

Unter den materiellen Dingen
mag sie Pendeluhren
und Spiegel, die emsig arbeiten,
selbst wenn niemand zusieht.

Sie sagt nicht, woher sie kommt
und wann sie uns wieder entschwindet,
doch ausdrücklich erwartet sie solche Fragen.

Es sieht so aus,
daß so, wie wir sie,
auch sie uns zu irgend etwas braucht.

Wisława Szymborska

polnische Schriftstellerin und Philosophin

Zitate von Wisława Szymborska (92 Zitate) | Zitate berühmter Personen

Säkulare BuddhistInnen und die Politik

von Winton Hinggins

dieser Text ist eine Zusammenfassung des Buches revamp, das im letzten Beitrag vorgestellt wurde.

Vor zweieinhalb Jahrtausenden lebte ein Mann namens Gotama in einem Teil Indiens, der vor kurzem aufgeblüht war, obwohl kriegerische Auseinandersetzungen der Mächtigen das Leben gefährlich gemacht hatte. Er sah sich mit den unausweichlichen Wechselfällen des Lebens konfrontiert, die wir als menschliche Wesen alle erfahren: Geburt, Tod, Altern, Krankheiten, Trennungen, unangenehme Erfahrungen, und alles zusammen unsere psycho-physiologische Anfälligkeit. Er hat eine Praxis entwickelt, mit diesen Schwierigkeiten in kreativer Weise umzugehen, sodass dadurch letztlich volles menschliches Gedeihen entstehen kann. Diese Praxis beruht auf einer Ethik von Sorgfalt und Fürsorge und einer Haltung erforschender Meditation. Gotama hat ein Grundgerüst von Ideen (den „Dharma“) ausgearbeitet, den die Menschen nutzen konnten, um ihre eigenen Lebenserfahrungen und ihr Innenleben zu analysieren und zu verändern. Auf diese Weise zog der eine vielfältige Anhängerschaft an, die ihn „Buddha“nannte, und begründete die Tradition der Dharma-Praxis.

Bis zum heutigen Tag ist dies eine lebendige Tradition geblieben, die niemals unterbrochen wurde. Seit seinem Tod hat sich diese Tradition in eine institutionalisierte Religion gewandelt, die später mit dem Titel Buddhismus bezeichnet wurde – mit allen Merkmalen, die darin impliziert sind.

Metaphysische Glaubenssätze entstellten das Grundgerüst der Ideen: die Praxis wurde ritualisiert und reglementiert, Anhänger wurden nach Geschlecht, sozialem Status als Laien oder Mönche und nach dem Rang eingeteilt, und religiöse Würdenträger mit symbiotischen Beziehungen zur weltlichen Macht hielten Einzug. Diese Faktoren in dämpften die Effektivität, mit der sich das innere Leben entfalten konnte, sodass es hauptsächlich als konservative Basis für sozialen Zusammenhalt und als politische Legitimation fungierte.

Die Wendung ins Religiöse hätte die lebende Tradition ersticken können, hätten nicht in jeder Generation Andersdenkende Einfluss genommen, und so breitete sich das Eigentliche des Dharma auf andere Kulturen und Gesellschaften aus. Jeder dieser Auftritte wurde zur Gelegenheit für einen neuen Blick auf den originalen Dharma. Es war immer ein Vorspiel für die kreative Arbeit, ihn in eine neue Sprache, kulturelle Referenzpunkte und historische Gegebenheiten zu übersetzen. Der Dharma wurde immer dann besonders kräftig reanimiert, wenn in der Kultur des Landes, das er erreichte, die Macht der Institutionen der nationalen Religionen eine eher kleine Rolle spielte.

In unserer Zeit hat sich die Dharma-Praxis auf alle bewohnten Kontinente ausgebreitet, inklusive der westlichen Länder, wo die Autorität institutioneller Religionen in letzter Zeit geschwunden ist und dabei auf der Suche nach „Bedeutung“ eine Leerstelle hinterlassen hat. Buddhismus wurde einer von den vielen Anwärtern, die diese Leerstelle auszufüllen versuchten. Ursprünglich kam er in traditionellen Formen mit asiatischen Einwanderergemeinden an, dann drang er als teilweise laisierter „Buddhistischer Modernismus“ ab den 1960 Jahren in westliche Gesellschaften vor. Als eine hybride Form hat der buddhistische Modernismus zu viele Elemente der traditionellen asiatischen religiösen Schulen bewahrt, um in den spätmodernen westlichen Kulturen Fuß zu fassen. Im Bestreben, diese Begrenzung zu überwinden, hat sich während der ersten Dekade dieses Jahrhunderts der säkularer Buddhismus herauskristallisiert.

Säkular bezieht sich hier auf zeitliche Dimension– auf die Tatsache, dass wir selbst und jedermann und alles, was unsere Lebenswelt ausmacht, beginnt, eine Weile andauert und dann zu seiner Zeit endet. Säkularität meidet Offenbarungen und Glaubenssätze über Objekte und Formen von Existenz außerhalb der Zeit. So wie Buddha selbst hat säkularer Buddhismus nichts am Hut mit metaphysischen Glaubensansprüchen. Säkularität besteht darauf, dass Gedanken und Praxis sich mit bestimmten Zeitpunkten und Umständen befassen sollten. Wie ihre Vorläufer in anderen neuen Wirtsgesellschaften kehren säkulare Buddhisten zu den originalen Lehren auf ein einige der immer wiederkehrenden Fragen zurück: wie soll ich leben? Welche Art von Mensch soll ich werden? Dazu kommen noch die neu entstandenen Fragen durch die Möglichkeiten und Gefahren, mit denen wir jetzt konfrontiert sind.

Wie Buddha selbst durchleben wir im Westen eine Periode großer Umbrüche. Wir können die Ethik der Sorgfalt und Fürsorge des Dharma kultivieren, indem wir die seit langem etablierten religiösen, sozialen und politischen Sicherheiten über den Haufen werfen und immer wieder die Gelegenheiten ergreifen, die schreienden Ungerechtigkeiten von Patriarchat, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in Frage zu stellen. Aber wir selbst, unsere Zivilisation und die ganze Biosphäre stehen nun unter der enormen existenziellen Bedrohung des Klimawandels.

Um das Beste aus unserer Dharma-Praxis zu machen, müssen wir tief in unsere eigene Geschichte und Kultur eintauchen. Indem wir die westlichen Wesensverwandtschaften mit dem Dharma identifizieren, können wir sein Potenzial erkennen, unsere Leben zu bereichern und es in das Erbe der Menschheit einzugliedern. Dadurch können wir uns selbst in der Geschichte unserer eigenen Gesellschaften verorten und können dann dafür Verständnis entwickeln, wie unsere gegenwärtigen Gefahren und Möglichkeiten entstanden sind und wie wir in Übereinstimmung mit unserer Ethik der Sorgfalt und Fürsorge am besten angemessen reagieren können.

Wir leben jetzt in einer vernetzten Welt, einer Katastrophe vor Augen, die wir Menschen heraufbeschworen haben. Wir müssen uns von der alten Idee verabschieden, dass nette BuddhistInnen sich von weltlichen Angelegenheiten fernhalten, besonders von der Politik– wir müssen unsere ethische und spirituelle Praxis genau auf diese Bereiche ausdehnen. Wir finden die unmittelbaren Einflussfaktoren in einem globalen kapitalistischen System und in der regressiven Politik des Neoliberalismus, das uns an den Rand des Abgrunds bringt. Mit großen Kosten für die sozialen und natürlichen Welten hat das gegenwärtige sozioökonomisches System eine progressive Rolle in der entstehenden Wissenschaft und Industrie gespielt. In seiner Fähigkeit, zum menschlichen Wohlbefinden beizutragen, hat es sich aber jetzt überlebt und nur seine barbarische Destruktivität ist übergeblieben.

Um die Ethik von Sorgfalt und Fürsorge anzuerkennen, können säkulare BuddhistInnen mithelfen, die Verantwortung für die Umwelt, soziale Kontrolle über produktive Ressourcen, sozialen Zusammenhalt und Fairness wiederherzustellen. Dieses Projekt erfordert einen schrittweise Übergang zu einem neuen sozioökonomischen System – dem demokratischen Sozialismus.

Die Prozesse, die das aufbauen können, sind schon im Laufen.

In diesen vier Bereichen können auch Sie die Umwelt schützen

übersetzt von Eva-Maria Glatz

Das Buch kann über https://www.tuwhiri.nz/store bezogen werden.

revamp -Umgestaltung

Texte über säkularen Buddhismus

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von Winton Higgins

In diesem Buch zeichnet der Autor die Entstehung des säkularen Buddhismus nach. Dabei legt er besonderen Fokus auf den heutigen Klimanotstand und die steigende soziale Ungerechtigkeit, die nach radikaler sozioökonomischer und politischer Veränderung schreit. Er schlägt vor, unsere kreative Praxis des Dharma durch die Ethik von Sorgfalt und Fürsorge zu stärken. Wir sind aufgerufen, unser Üben auf diese dringenden Aufgaben einzustellen.

Stephen Batchelor, der Autor of After Buddhism, schreibt daüber:

Dieses Buch, geschrieben mit großer Klugheit, Sorgfalt und Witz ist die umfassendste Darstellung von säkularen Buddhismus, die zur Zeit verfügbar ist. Es reicht von der inneren Erfahrung von Achtsamkeit bis zu den sozialen und politischen Herausforderungen einer Bürgerin, die den Dharma praktiziert. Winton Higgins webt viele verschiedene Fäden von der heutigen buddhistischen Praxis zu einem überzeugenden Ganzen. Revamp ist ein inspirierendes Beispiel von kritischem und kreativem Denken über die drängendsten Fragen, mit denen die Menschheit in unserer Zeit zu tun hat.

Übersetzung aus dem Englischen von Eva-Maria Glatz

Das Buch kann über https://www.tuwhiri.nz/store bezogen werden.

Am Mittwoch, dem 19. Mai um 10:00 Uhr MESZ, stellt Winton das Buch auch online vor, organisiert von unseren neuseeländischen Dharma-Freund:innen. Anmeldung hier: https://lu.ma/qbaod2xl

sei Dir selbst eine Insel

Suche keine andere Zuflucht, keine andere Insel.

mit dem Dharma als Zuflucht suche keine andere Zuflucht.

Wie ist man eine Insel für sich selber?

+ Wenn man bei der Betrachtung des Körpers beim Körper weilt, ernsthaft, wissensklar und achtsam, nachdem man Verlangen und Kummer bezüglich der Welt überwunden hat,

+ Wenn man bei der Betrachtung der Gefühle Verlangen und Kummer bezüglich der Welt überwunden hat,

+ Wenn man bei der Betrachtung des Geistes und der Geistesobjekte Verlangen und Kummer bezüglich der Welt überwunden hat,

dann ist man wahrlich eine Insel für sich selbst.

Diejenigen werden die höchsten Resultate erzielen, die den Wunsch zum Lernen haben. Bemüht euch fleißig und ernsthaft.

Das waren die letzten Worte des Buddha.

Wie buddhistische Nonne Ayya Khema das im einzelnen kommentiert, könnt ihr auf YouTube nachlesen:

Die Sicht des Dharma und die Sicht der Tragödie

von Winton Higgins

Meine Ausgangspunkte sind zum einen die erste der vier großen Aufgaben des Dharmas, nämlich dukkha: die schwierigen Erfahrungen in unserem Leben voll zu verstehen und sie zu umarmen und zum zweiten der erste Faktor im achtfachen Pfad, nämlich die angemessene Sichtweise (sammā diṭṭhi). Im konventionellen Sprachgebrauch wird das genannt: Das Leben bedeutet Leiden bzw. die richtige Sichtweise.

Der Buddha hat in seiner ersten Lehrrede den Begriff dukkha eingeführt und erklärt, was er damit meint: Geburt, Tod, den Prozess des Alterns, Krankheit, getrennt zu sein von dem was wir lieben, mit dem konfrontiert zu sein, was was wir verabscheuen, Frustration und insgesamt unsere psychosoziale Verletzlichkeit. Kein menschliches Wesen wird erwachsen, ohne dass es von diesen Erfahrungen berührt wird – man kann also sagen, dass sie zusammen die entscheidenden Aspekte der conditio humana ausmachen. In einer schonungslosen Zusammenfassung rät uns der Buddha: akzeptiere das voll und ganz und geh’ weise damit um.

Die angemessene Sichtweise bezieht sich auf die Arbeitshypothesen (besonders auf Dukkha), die wir in unserer Dharmapraxis einbringen– dazu gehört auch, wie wir unsere meditativen Erfahrungen analysieren. Unangemessene Sichtweise hindert uns und führt uns in die Irre. Indem wir unsere Praxis auf geeignete Art entfalten und aus unseren Erfahrungen lernen, verfeinern wir sie und können unsere Sichtweise weiterentwickeln.

Ähnlichkeiten im Westen

Ich habe zwei Themen, die miteinander verknüpft sind. Einerseits: Wie konnte der Dharma auf kulturell verfügbare Weise im Westen Fuß fassen? Andererseits möchte ich Ähnlichkeiten im Westen herausarbeiten.

Das Beispiel der Ähnlichkeiten im Westen, das ich beleuchten möchte, ist die Tradition der Tragödie von deren Anfängen im alten Athen über Shakespeare und bis zum heutigen Tag.

Es war oft unübersehbar für mich, wie stark diese Tradition eine dominante Geisteshaltung in der westlichen Kultur genauso in Frage stellt, wie der Dharma das tut. Nach dieser Geisteshaltung sollten wir ein ruhiges, sicheres, befriedigendes Leben leben, das sich langsam zu einem vagen, fernen Horizont entfaltet, bis wir schließlich sanft entschlafen. Wenn jemand Erfahrungen macht, wie sie in Buddhas Liste von Mühen aufgezählt sind, dann ist das eine Anomalie, ein „Problem“. Wir suchen dann nach einer schnellen „Lösung“ – eine Operation, eine Scheidung, ein Medikament, eine Impfung – sodass wir zu dem Leben zurückkehren können von wir meinen, es stünde uns zu. Wenn wir für unser „Problem“ keine Lösung zur Hand haben, versinken wir in Depression; wir sagen Nein zum Leben. Wir fühlen uns beraubt.

Die heroischen Erlöser des westlichen Mythos unterstützen diese Geisteshaltung. Dazu gehören Sir Galahad, Jeanne dArc, John Wayne, Jesus oder Wonder Woman, sie alle setzen unseren Problemen ein Ende, sodass wir zu unserem gottgegebenen friedvollen Leben zurückkehren können. Wir sind nur Zuschauer (und dankbaren Nutznießer) der Heroen.

Der Buddha und die westlichen Autoren von Tragödien schienen mir immer eine deutliche Alternative zu dieser Weltsicht zu bieten. Sie unterstützen zwar alles, was das Leiden erleichtert und den Konflikt dämpft, aber sie sehen unsere Schwierigkeiten als einen wesentlichen Teil und das A und O jedes menschlichen Lebens. Was die Bedingungen betrifft, unter denen sie entstanden sind, haben wir begrenzte Möglichkeiten. Gemäß dem Dharma und und der Tradition der Tragödie fordern uns diese Schwierigkeiten dazu heraus, sie zu umarmen, so gut wir das können, auf sie zu antworten, um unser menschliches Leben zu behaupten, die Initiative zu ergreifen, immer Ja zum Leben zu sagen, egal wie hart unsere missliche Lage ist. Wir sollten niemals in eine Opferrolle verfallen.

Die Tragödie und die realen Gegebenheiten

Kürzlich ist mir ein neues Buch in die Hände gefallen, das die Weltsicht der Tragödie in einer rezenten Studie darlegt: Simon Critchley, Tragedy, the Greeks and us.[1]. Im Folgenden beziehe mich auf sein Werk. Obwohl es nicht seiner Absicht lag, bereichert es meinen Sinn für die Ähnlichkeiten zum Dharma, um die mir es geht. Es beginnt mit der erstaunlichen Tatsache, dass die Lebensspannen des Buddha im Nordosten Indiens und die Tradition der Tragödien in Athen exakt zum selbem Zeitpunkt der Geschichte angefangen haben. Die Lebensspannen der drei bekanntesten klassischen Tragödienschreiber Aischylos, Sophokles und Euripides überschneiden sich mit der von Buddha (480-400 v. Chr.). Moderne Wissenschaftler meinen, dass Buddha und Euripides möglicherweise sogar in demselben Jahr geboren sind.

In beiden Fällen haben die Gründer von Traditionen in turbulenten Zeiten gelebt. Nebenher erzählt der Palikanon Geschichten über ständige Konflikte zwischen fünf staatsähnlichen Verwaltungsbereichen. Dazu gehörte Krieg, Völkermord, Königsmord, Vatermord – all das ging im Umfeld vor sich, während Buddha lehrte. In der gleichen Periode haben die Athener Kriege gegen die Perser und dann gegen die Spartaner geführt (das waren die Peloponnesischen Kriege, über die Thukydides berichtet hat).

Manche Autoren ziehen den Schluss, dass griechische Denker Kontakt mit ihren indischen Gegenüber gehabt hätten. Ich würde eher die Quelle der Ähnlichkeiten in gleichen historischen Umständen untersuchen. Alle waren sie Kinder der agrikulturellen Revolution, die in mehreren Regionen der Welt zur gleichen Zeit vor sich ging. Dieser Prozess sah den Beginn des Handels, der Geldökonomie und heftige Rivalitäten um die Gewinne. Er sah Urbanisation, eine gewisse Freizügigkeit und die Befreiung der der Städter von den rigiden sozial und kulturell/religiösen Strukturen des Lebens auf dem Lande.

Die neue Städte brachten Gruppen von Leuten hervor (gewöhnlich Männer), die sich treffen und ihre neue existenzielle Situation diskutieren konnten, in der sie weit mehr Lebensoptionen hatten und dadurch viel mehr Enttäuschungen, wenn sie sich, oft durch sehr menschlichen Zank und Hader, in ihren Bestrebungen gebremst sahen. Der Dharma und die griechische Tragödie nehmen genau hier ihren Anfang.

Es wäre schwierig gewesen, die high school abzuschließen ohne die Namen von prominenten tragischen Helden aus dieser Zeit gehört zu haben – Ödipus, Elektra, Hekuba, Antigone und andere – Namen, die immer noch die moderne Literatur und psychoanalytische Schriften inspirieren. Wir wurden vertraut gemacht mit dem tragischen Ethos selbst durch Shakespeare’s Beiträge zur Tradition in der frühen Moderne, besonders in seinen vier zentralen Tragödien, die nach ihren Helden benannt sind: Hamlet, Othello, König Lear und Macbeth.

Diese Figuren sind keine erlösenden, rettenden, problemlösenden Helden; in jedem Fall ist der Held das Problem. Sie verkörpern die conditio humana. Sie sind in ihre akuten Dilemmata hineingeraten und sind desorientiert– sie wissen nicht, wie sie handeln sollen. Nicht, weil sie dumm wären, sondern weil ihre misslichen Lagen elementar zwiespältig sind. Sie sind zerrissen zwischen widersprüchlichenAnforderungen, von denen jede die Gerechtigkeit auf ihrer Seite zu haben scheint. Dieses Netz, in dem sie gefangen sind, ist teilweise durch Schicksal geknüpft – vergangene Ereignisse oder andere Umstände außerhalb ihrer Kontrolle. Diese Umstände entstehen durch die Nähe zu früheren Geschichten und dem Werk missgünstiger Götter. (Wir, die den Dharma praktizieren, würden das eher als bedingtes Entstehen bezeichnen).

Aber doch: diese tragischen Figuren haben insgeheim mit ihrem Schicksal in einem wesentlichen Umfang zusammengewirkt. Indem sie gleichzeitig wussten und nicht wussten, was los ist, besiegelten sie ihr eigenes Schicksal. Am Chaos, das sie entfesselten, haben sie sich mitschuldig gemacht. Hamlet weiß genau, dass sein Onkel seinen Vater ermordet hat, aber er gibt vor, dass er mehr Beweise bräuchte, um seine eigene Unentschlossenheit zu zu verschleiern.

Die Eltern von Ödipus, Laios und Jocaste, haben ihn bei der Geburt ausgesetzt und er weiß nicht, wer sie sind. Aber er weiß, dass der alte Mann, den er in seiner Wut bei einem Unfall getötet hat, sehr wohl sein Vater sein könnte und dass die Frau, die er im folgenden heiratet, sehr wohl seine Mutter sein könnte.

Agamemnon, der Anführer der Griechen bei der Expedition nach Troja, hat seine Tochter Iphigenie der Göttin Artemis geopfert, um günstige Winde für die Reise zu garantieren. Er kann sich kaum beschweren, dass er, als er Jahre später nach der siegreichen Rückkehr in seinem eigenen Heim sein erstes Bad nimmt, Klytemnestra, die Mutter von Iphigenie, hereinkommt und ihn mit einem Messer erdolcht. In all diesen Fällen ist der Held Komplize seines Schicksals.

Diese Idee, Komplize unseres Schicksals zu sein, passt zusammen mit dem, wie der Buddha die Rolle des Karma in unserem Leben erklärt: als eine von verschiedenen Einflussgrößen in unserem Leben, aber als nicht die einzige, für die wir die Verantwortung tragen müssten. Auch die Tragödie lehrt Selbsterkenntnis genauso wie der Dharma, allerdings dramatischer. Und das ist der reale Kontrast zwischen den zwei Traditionen.

Die Tragödien in Athen wurden in großen und sehr spektakulären Veranstaltungen aufgeführt. Die Zuseher waren die ersten demokratischen Bürger. Die Vorstellungen hatten den Zweck, sie nachdenklich zu machen, ihnen Rätsel aufzugeben, die sie diskutieren mussten und sie die verwirrten– aber nicht, damit sie Antworten parat hätten, die sie nach Hause mitnehmen und ihre Kinder damit füttern konnten. Die öffentliche Vorstellung von Tragödien machte einen wesentlichen Teil des Stadtstaats und dessen Regierung aus. Die aliveness (ein Wort der Schauspielerin Isabelle Huppert) der Veranstaltungen brachte die demokratischen Bürger dazu, ihre zivilen Pflichten in allgemeinen Angelegenheiten zu tun.

Was ist also die tragische Sicht (oder die tragische Bewusstheit, wie er das nennt), die Critchley hervorhebt? Unordnung, Konflikt, moralische Ambivalenz, Trauma, Komplexität, und begrenzte persönliche Autonomie durchziehen die Erfahrungen unseres Lebens. Diese Welt ist nicht für uns gemacht und wir sind nicht für diese Welt gemacht – Eine Einsicht, die durch den Klimanotstand mehr als klar gemacht wird. Es gibt keinen allmächtigen Gott oder eine andere sinnvolle Autorität, die die Welt wieder in Ordnung brächte. Und keine großartige metaphysische Theorie, wie das alles zusammenhänge, kann uns am Ende helfen.

Dadurch geht es in den Tragödien realistisch zu was die Wichtigkeit und Beschränkungen unserer Selbstbestimmung angeht, und tief skeptisch gegenüber großartigen metaphysischen Theorien. Critchley beleuchtet den Konflikt zwischen den Autoren von Tragödien und den großen Philosophen in deren Zeit (Sokrates, Plato, Aristoteles). Die Tragödienschreiber hatten unter den Demokraten enormen Einfluss auf die Bürgerschaft – das ging so weit, dass Plato sie überhaupt aus dem Stadtstaat verbannen wollte. Er hätte es lieber gesehen, wenn er sich in ein totalitäres Regime verwandelt hätte, von emotional kalten Philosophen-Königen regiert (siehe seine Politeia).

Hier sind wir natürlich wieder bei Buddha; mit seiner konsequenten Weigerung, sich mit Metaphysik zu beschäftigen und wie er darauf bestand, dass wir uns an unseren aktuellen Gegebenheiten orientieren: siehe die Parabel von dem Mann, der mit einem vergifteten Pfeil schoss. Sein Bestehen auf Selbsterkenntnis und Selbstverantwortung macht das Herzstück seiner Lehren aus.

Während der letzten zwei Jahrhunderte hat sich die Weltsicht des Westens vom Monotheismus zu skeptischen und säkularen Weltanschauungen entwickelt.

Aus diesem Grund kann Critchley den erstaunlichen Anspruch erheben: In wichtigen Bereichen wären wir Menschen aus der Antike ähnlicher als andere Leute im Westen, die in der Zwischenzeit gelebt haben und deswegen können wir uns mit Fug und Recht als Zeitgenossen der Autoren von Tragödien betrachten. Aus ähnlichen Gründen meine ich, dass wir den skeptischen, realistischen Buddha des Palicanons als unseren Zeitgenossen betrachten könnten.

In seinem letzten Absatz erhebt Critchley noch einen anderen Anspruch, der mich stark an die meditative Erfahrung in Buddha’s Abstinenz erinnert: was passieren kann zwischen Aufführungen von Tragödien: dass wir uns den Intensivitäten des Lebens hingeben und unser Herz öffnen. Man schaut auf das Wesentliche des Lebendigseins und es schaut zurück. Gerade für einen Moment lang. Und dann geht man die Straße hinunter und die Welt nimmt ihr unerbittliches Summen wieder auf. Aber die Erinnerung an das Wesentliche bleibt uns.(p. 280).


[1] London: Profile Books, 2020

Winton Higgins ist ein australischer Universitätsprofessor, der mit seiner Familie in Sydney lebt. Er beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Buddhas Lehre.

Aus dem Englischen übersetzt von Eva-Maria Glatz

Conditio Humana

ein Freund schreibt mir:

wir müssen nicht alles zur Katastrophe erklären. So war dann auch die ganze Geschichte der Erde und des Lebens eine einzige Aneinanderkettung von schrecklichen Katastrophen. Trotzdem schreiben wir Gedichte, wenn wir können, oder züchten Rosen.

ich kann ihm nur zustimmen.





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Ermutigung

Wolf Biermann

Du, laß dich nicht verhärten
in dieser harten Zeit.
Die allzu hart sind, brechen,
die allzu spitz sind, stechen
und brechen ab sogleich.

Du, laß dich nicht verbrauchen,
gebrauche deine Zeit.
Du kannst nicht untertauchen,
du brauchst uns und wir brauchen
grad deine Heiterkeit.

gekürzt von Eva-Maria

ARD-Doku „Der Fall Biermann“: Der von drüben - taz.de

Gedanken über das Glück

Tomi Ungerer

Tomi Ungerer: Kult-Zeichner ist tot – er wurde 87 Jahre alt - Leute -  Bild.de

Zum Glück bin ich nie glücklich gewesen.

Ich habe meine Freude daran, auf das Glück zu verzichten, das Glück ist mir viel zu ernst.

Das Glück, falls es das gibt, ist eine Frage der Disziplin.

Glücklich ist, wer das Glück vergessen kann.

Alles Glück ist nur eine Illusion, eine Ballonfahrt, bei der man sehr schnell abstürzt.

Glückliche Momente sind funkenschnell.

Alle sprechen immer vom Glück, Glück. Ich finde Freude viel wichtiger als Glück.

Fragen nagen am Glück.