Der direkte Weg – Einführung in die Sattipatthana-Sutta
von Winton Higgins

Diese Lehrrede über die Achtsamkeit wird als ein grundlegender Text für die Praxis der Meditation angesehen. Der australische Dharma-Lehrer Winton Higgins hat sich intensiv damit auseinandergesetzt 1:

Vor Jahren besuchte ich den Vortrags eines hochrangigen Theravada-Mönchs. Da saß er mit gekreuzten Beinen in seiner Robe, sein Haar und seine Augenbrauen ordnungsgemäß rasiert, und erklärte: ‚Ich bin kein Buddhist. Auch andere Kennzeichnungen passen nicht für mich. Ich bin nur einer, der die Satipattana Sutta studiert und praktiziert.‘

Ich hatte einiges an Sympathie für diese Einstellung. Aber die Sutta komprimiert wesentliche Punkte des Dharma und spielt auf sie an, einschließlich der meisten der klassischen Listen, und fügt noch drei weitere hinzu. Wenn sich also dein Leben um diese Sutta dreht, stehst du wohl in einer vertrauten Beziehung zur Lehre des Buddha.

Wenn wir annehmen, dass der Buddha diese Lehre in einer einzigen Sitzung verkündet hat, dann  hat er das spät in seiner Laufbahn getan. Sie stützt sich auf seine lange Erfahrung als Praktizierender und als Lehrer. Seine Lehren sind hier verdichtet und für den Gebrauch in der Meditation operationalisiert. Vielleicht war auch er kein Buddhist – diese Bezeichnung wurde schließlich erst vor 200 Jahren erfunden. Große Erneuerer sehen sich oft vor der Notwendigkeit, die minderwertige Orthodoxie zu verleugnen, die ihre Nachfolger aus ihren Gedanken destilliert haben. Karl Marx zum Beispiel sagte ausdrücklich, er sei kein Marxist.

Ein kurzer Blick in die Sutta:

winton_higginsDie wichtigste und bekannteste der erwähnten neuen Listen legt die vier Schwerpunkte von Bewusstheit fest, üblicherweise bekannt als die vier Grundlagen der Achtsamkeit:

  • Körpererfahrungen – ausgehend von unserer unausweichlichen Natur als körperliche Wesen
  • Gefühlstönungen, die mit jeder Sinneswahrnehmung entstehen
  • Geisteszustände – Stimmungen und Emotionen; und schließlich
  • ‚dhammas‘ – Phänomene, kognitive Inhalte des Geistes

In dieser vierten Grundlage der Achtsamkeit fasst der Buddha seine wesentlichen Lehren zusammen, von den „fünf Hindernissen“ bis zu dem, was manche säkulare Buddhistinnen und Buddhisten „die vier Aufgaben“ oder die „vierfache Aufgabe“ (auch bekannt als „die vier edlen Wahrheiten“) nennen.

Allgemein bietet uns die Sutta die Wahl, welchen dieser Schwerpunkte (oder Unter-Schwerpunkte oder Unter-Unterschwerpunkte) wir beim Sitzen oder während eines Teils des Sitzens herausgreifen wollen, oder ob wir für alle vier auf einmal offen sein wollen. Und der Rat ist nicht auf formale Meditation beschränkt – er ist etwas, was wir in unser Alltagsleben mitnehmen können.

Die erste der weniger bekannten Listen ist die der vier geistigen Qualitäten, die wir kultivieren und in unsere Achtsamkeitspraxis einbauen sollen:

  • Sorgfalt
  • klares Wissen
  • Freisein von weltlichem Verlangen und Unzufriedenheit
  • Achtsamkeit

Diese geistigen Qualitäten werden gestärkt, wenn wir in der Praxis voranschreiten.

Die dritte neue Liste liegt in den wiederkehrenden ‚Refrains‘  nach der Einführung eines jeden Schwerpunkts der Achtsamkeit. Hier hebt die Sutta hervor:

  • die Wahl zwischen dem innerlichen oder äußerlichen Betrachten von Erfahrung, oder beidem
  • Beobachtung des Entstehens und Vergehens (d.h., der Unbeständigkeit) der Elemente der Erfahrung, oder einfach
  • das Beobachten der Existenz des Wahrnehmungsfeldes, um das es geht, um so ‚bloßes Wissen‘ und ‚beständige Aufmerksamkeit‘ zu unterstützen

Insgesamt bietet uns die Sutta eine Menge an Wahlmöglichkeiten, wohin wir unsere Praxis zu jedem einzelnen Zeitpunkt entwickeln können. Das Sortiment an Wahlmöglichkeiten wird durch die zahlreichen Übungen, die unter jedem der vier Schwerpunkte zusammengefasst sind, noch deutlich vergrößert. Die Betonung von ‚Wahl‘ im Prozess der Meditation (bei völliger Abwesenheit formelhafter Vorschriften) könnte uns ein Gefühl dafür vermitteln, dass wohlüberlegter und kreativer Fortschritt ins Herz der Praxis führt, die für autonome, sich selbst steuernde Praktizierende gedacht ist.

Die Sutta stellt uns also nicht eine Wegskizze für eine Reise von A nach B entlang eines einzigen ausgetretenen Pfades zur Verfügung. Anstatt dessen bietet sie eine sehr detaillierte Karte einer ganzen inneren Topographie, die wir entlang einer Unzahl von Alternativrouten erkunden können. Wir können der Nase nachgehen, oder bestimmte Bereiche anderen vorziehen.Landkarte

Die Karte ist da, um uns bei der Orientierung in unserer komplexen inneren Welt zu helfen und die beste Auswahl zu treffen bei unserer Bemühung um die Praxis der alten transkulturellen Weisheit ‚uns selbst zu erkennen‘.

Pragmatismus im philosophischen Sinn und nicht Metaphysik steht hinter der Kartographie. Dieser und die Wahlmöglichkeiten sind hilfreich und weisen nicht auf irgendeine Art höchster Wirklichkeit. Diese Betonung der Nützlichkeit färbt wiederum die Wahl der vier Schwerpunkte der Achtsamkeit. Sie weisen auch nicht auf irgendeine Art absoluter Realität hin, sondern dienen eher einem Zweck, als dass sie Offenbarungen bieten.

Wir wissen nicht, in welchem Ausmaß die Sutta nach dem Todes des Buddha vervielfältigt und verfälscht worden ist – während der ca. 400 Jahre, in denen der Text des Palikanon noch im Fluß war, und zwar für den größten Teil dieser Zeit in mündlicher Überlieferung. Aber wir können festhalten, dass die Sutta – in ihrer jetzigen Form – implizit zwei divergierende Zugänge vorschlägt:

  • die Erkundung und Vertiefung unserer subjektiven Erfahrung – mit offenem Ende
  • das Erreichen einer Art Endzustand von ‚Erkenntnis’/’endgültigem Wissen‘, verstanden als Erlösung oder Befreiung, durch die die ‚conditio humana‘ transzendiert wird.

Wenn wir diesen zweiten Zugang folgten, würden wir die große Landkarte, die die Sutta entfaltet, auf eine Wegskizze reduzieren, die uns entlang einer ausgetretenen Spur zu einer konkreten Ziellinie führt. Wir würden sie in ergebnisorientierter Weise gebrauchen.

Sehr schematisch gesprochen, sind die im buddhistischen Klerus entwickelten Zugänge zur Vipassanameditation, die wir von Burma, Thailand und Sri Lanka geerbt haben, diesem zweiten Verständnis gefolgt und haben es den grundlegenden Theravadakommentaren – dem Abidhamma und dem Visuddhimagga – ermöglicht, der Sutta selbst die Schau zu stehlen.

Das hat die Praxis technisch und formelhaft gemacht. So wird die ursprüngliche Karte zu einer Wegskizze, wobei einer großer Teil unserer tatsächlichen Erfahrung in der Meditation als ‚Nicht-Meditation‘, als Nebenprodukt, abgeschrieben wird.

Zweifellos haben diese Praktiken ihrem ursprünglichen Zweck gut gedient: zölibatäre Männer, beschränkt durch totale hierarchische Institutionen, auszubilden. Aber für moderne Frauen und Männer, die weit komplexere Leben führen, mögen sie weniger zweckentsprechend sein. Und wenn Meditation auf die Entwicklung einer Technik beschränkt ist, werden viele sich mit einem Gefühl des Scheiterns abwenden.

Die Alternative ist, das ganze Gebiet, das die Sutta kartiert, neu zu besetzen. Alles, was wir erfahren, wenn wir uns mit einem nicht formelhaften Zugang zur Meditation niedersetzen, oder was wir im Alltag erleben, wird dann relevant, Teil unserer meditativen Erfahrung. Diese Art der Meditation lässt die Zielgerichtetheit hinter sich und konzentriert sich statt dessen auf den Prozess, was seinen Lohn in sich trägt.

  1. Der hier gekürzt ins Deutsche übertragene Text seines Vortrags vom November 2015 wurde erstmals auf unserer neuseeländischen Schwester-Website  http://secularbuddhism.org.nz veröffentlicht. Dem Abdruck in deutscher Sprache hat Winton zugestimmt.