Die US-Amerikanerin Joanna Macy geboren 1929, ist Öko-Philosophin und Buddhistin, Systemtheoretikerin und Aktivistin der Bewegung für Tiefenökologie. Seit mehr als 40 Jahren schreibt und handelt sie in zahlreichen Büchern und Workshops für Frieden, Gerechtigkeit und nachhaltige Ökologie. Mehrere Jahre nach der Reaktorkatastrophe von 1986 in Tschernobyl leitete sie mit ihrem Ehemann und russischen Freunden einen Workshop in Nowosybkow, einer Stadt von 40.000 Einwohner unweit des Unglücksortes, wo die Folgen des massiven Austritts von Radioaktivität bis heute massiv sind. Es gibt zahlreiche Fehlgeburten, Missbildungen bei Säuglingen und Krebsfälle unter Erwachsenen und Kindern. In der Wohnung der Familie, bei der Joanna untergebracht war, war eine Zimmerwand mit der Fototapete eines dichten Waldes geschmückt. Der Familienvater zeigte ihr seinen Geigerzähler und erklärte, dass der Wald, der unmittelbar hinter dem Stadtgebiet läge, so kontaminiert sei, dass weder er selbst noch seine Enkelkinder ihn zu ihren Lebzeiten je betreten würden können. So müssten sie sich mit der Tapete begnügen. An dem Workshop nahmen 50 Menschen teil. Im Gegensatz zu Personen in weniger betroffenen Gebieten, die detailliert über ihre chronische Erschöpfung, die gehäuften Infektionen und die vielen Krebsfälle erzählt hatten, schwiegen die Menschen in Nowosybkow über das Elend, in dem sie den Rest ihres Lebens verbringen würden müssen. Sie erzählten von ihrem Familienleben und teilten Erinnerungen aus den Jahren vor der Atomkatastrophe. Vom Horror des Jahres 1986 wollten sie nicht sprechen, bis es schließlich doch aus ihnen heraus brach: der heiße Südwestwind in jenem furchtbaren Frühling, die weiße Asche, die vom klaren Himmel fiel, die Kinder, die darin spielten, der dichte Regen, der folgte, die Gerüchte, die Angst. Beim Erzählen flossen viele Tränen, gleichzeitig kam auch die Frage an Joanna und ihre Freunde: warum tut ihr uns das an, wenn ihr uns nicht befreien könnt von dem, was hier immer noch geschieht? Joanna, selbst betroffen und ratlos, antwortete mit der Schilderung des nach dem Krieg zerstörten Deutschland, als die Menschen alles darangesetzt hätten, das Land so schnell wie möglich wieder aufzubauen und ihren Kindern das Leid zu ersparen, das sie erlebt hatten. Sie hätten ihnen im Wirtschaftswunderland alles für ein Leben in Wohlstand und Sicherheit geboten, aber eines hätten sie ihnen vorenthalten: ihren Schmerz. Das hätten ihnen die Kinder nicht verziehen. MIt dieser Erzählung berührte sie die Menschen in Nowosybkow; einige sprachen davon, dass es jetzt zwar erneut weh täte, aber dass sich das richtig anfühle, und sie hörten ihr zu, als sie von Gruppen und Initiativen auf der ganzen Welt sprach, die sich dafür einsetzten, dass derartige Katastrophen sich nicht wieder ereigneten. Denen wollte sie von ihnen – mit denen sie sich jetzt eng verbunden fühlte – erzählen. Das hat sie auch getan. 1 In einem anderen Zusammenhang sagt Joanna Macy: Es herrscht riesige Angst, und das ist keine individuelle Angelegenheit. Wir sind in der Seele krank. Wir haben Schmerz pathologisiert, wir haben ihn zu etwas Falschem gemacht, zu einem Fehler, anstatt zur Kenntnis zu nehmen, dass wir Schmerz nötig haben, um uns wach zu machen für das, was Aufmerksamkeit braucht. Aber wir behandeln ihn wie einen Feind… Es gibt Schmerz. Und wenn du irgendwo hinkommen willst, meine Liebe, wenn du wachsen, wenn du dein Leben öffnen willst, wenn du erleuchtet werden willst oder wie immer du den Zustand beschreibst, den du suchst, musst du dich dem stellen. Wie in dem Gedicht von Mary Oliver: Erzähl mir von deiner Verzweiflung, und ich erzähl dir von meiner. Das erlaubt der Welt, lebendiger zu werden – wenn wir den Mut und die Stärke haben, von unserer Verzweiflung zu sprechen. Wenn wir darüber reden, bleiben wir nicht darin stecken. Verzweiflung ist die Hülle um unsere Liebe zur Welt, und wenn wir darüber sprechen, brechen wir sie auf, sodass die Liebe handeln kann. Der Schlüssel liegt darin, keine Angst zu haben vor unserem Schmerz und vor dem Leiden in der Welt. Und wenn du keine Angst davor hast, kann nichts dich aufhalten.
- die Geschichte entstammt dem Buch: Macy, Joanna und Gahbler, Norbert: Pass it on. Five Stories that can change the world, Berkeley 2010 ↩
Danke für den Text und den Hinweis auf YouTube! Ich verehre diese Frau tief, sie ist mir ein Vorbild!!