Was macht unsere Angst aus?
Darüber spricht Joanna Macy in einem ausführlichen Interview mit dem deutschen Journalisten und Buchautor Geseko von Lüpke: 1
Wir erleben die letzten Jahre eines industriellen Wirtschaftssystems, das enorme Auswirkungen auf den gesamten Planeten hat. Es basiert auf ständiger Ausbeutung der Rohstoffe und Erzeugung von immer mehr Abfall. Die lebenserhaltenden Systeme für menschliche wie für nichtmenschliche Wesen werden zerstört. Die Angst, mit der viele Menschen darauf reagieren, macht sie unzugänglich. Wir glauben, so zerbrechlich und klein zu sein, dass es uns in Stücke reißt, wenn wir es uns erlauben, unsere Gefühle über den Zustand der Welt anzuschauen. Wir fürchten eine tiefe Depression oder Lähmung. Das Gegenteil ist der Fall. Wenn wir es aussprechen, merken wir, dass wir nicht isoliert sind, sondern dass dieser Schmerz weit hinausgeht über das kleine Ego und Konsequenzen hat, die jenseits unserer individuellen Bedürfnisse und Wünsche liegen.
Ich glaube, dass von allen Gefahren, die uns drohen, – sei es der Militarismus, die Umweltverschmutzung, die Überbevölkerung oder das Artensterben – keine Gefahr so groß ist wie unsere Verdrängung.
Die moderne westliche Welt hat jedem ihrer Bewohner durch Erziehung, Schule und Alltagserfahrung in einer konkurrenzbetonten Welt die Überzeugung mit auf den Weg gegeben, ein abgetrenntes und isoliertes Individuum zu sein. Die Menschen leben in der Wahrnehmung, sich als allein stehende Einzelwesen behaupten zu müssen, stärker sein zu müssen als andere, Macht erringen und ausüben zu müssen und sich gegenüber der Macht und der Aggression anderer schützen und verteidigen zu müssen. Der Systemtheoretiker Gregory Bateson nannte dies den erkenntnistheoretischen Irrtum der westlichen Zivilisation. Die Krise unseres Planeten hat ihre Wurzeln in einem dysfunktionalen und pathologischen Selbstbild, einem Missverständnis über den Platz des Menschen in der Ordnung der Dinge.
Nun geschieht aber in unserer Welt gerade etwas Wichtiges, worüber man nicht in den Zeitungen liest: ich nenne es den großen Wandel. Das Selbst, das metaphorische Konstrukt unserer Identität, wird auf vielen Ebenen unterminiert und durch weiter gefasste Begriffe ersetzt. Immer mehr Menschen stellen sich dem Schmerz angesichts von Hungersnöten, Umweltkatastrophen, Kriegen und Flüchtlingselend und empfinden eine Bedrohung, die über die Sorge um die eigene Haut hinausgeht. Streben nach Veränderung entsteht dann nicht aus der guten Absicht, altruistisch zu sein, sondern einfach daraus, den eigenen Schmerz ernst zu nehmen. Ein Gefühl tiefer Verbundenheit mit allem Leben kann Stärke und Freude mit sich bringen. Es entsteht etwas, das ich das ökologische Selbst nenne. Auch das ist ein metaphorisches Konstrukt, doch es ist dynamisch und situationsabhängig. Menschen beginnen, sich mit den Lebewesen ihrer Umwelt zu identifizieren – die sind dann nicht mehr außenstehende, beliebig nutzbare Objekte, sondern werden zu Teilen der eigenen Identität. Es geht dann nicht mehr darum, etwa den Regenwald vor Eingriffen zu schützen, sondern sich eins zu fühlen mit dem Regenwald, der sich selbst schützt.
Kybernetik und Systemtheorie zeichnen ein neues, prozesshaftes Bild des Selbst als untrennbar von dem Netz an Beziehungen, das es erhält. Es gibt keine logische oder wissenschaftliche Basis dafür, einen Teil der Welt als „Ich“ und einen anderen als „der/die/das Andere“ zu definieren. Da wir Menschen offene, sich selbst organisierende Systeme sind, entsteht all unser Atmen, Handeln und Denken in Interaktion mit unserer Umwelt mittels Materie, Energie und Information, die durch uns durchgehen und uns aufrecht erhalten. Im Netz dieser Beziehungen gibt es keine Demarkationslinie.
Eine solche Sichtweise führt nicht zu Identitätsverlust – sie verlangt und erzeugt Unterschiedlichkeiten. Das größere Ganze besteht aus vielen ungleichen Teilen.
Unsere Stellung in der Welt verändert sich grundlegend, wenn wir sie als lebendiges System verstehen und uns selbst als einen Teil eines im weitesten Sinne lebendigen Erdkörpers definieren. Diese für immer mehr Menschen selbstverständliche Perspektive hat dramatische Folgen für die Art unserer Beziehung zur Welt. Statt der Objekte oder Individuen treten nun die Beziehungen in der Vordergrund, die wir aktiv mitgestalten. Wenn unser Bewusstsein und Wissen wächst, erweitern sich auch Bewusstsein und Wissen des Netzes. Dieser Perspektivenwechsel bewirkt einen Wandel vom Gefühl der Isolation und Angst hin zu Vertrauen. Statt das ganze System zu dominieren, um mühsam die Kontrolle zu behalten, kommen wir in dieser Wahrnehmung dazu, wirklich am Ganzen teilzunehmen.
Diese Sichtweise ist eng verwandt mit buddhistischem Gedankengut. Buddha hat Wege gezeigt, die Fehleinschätzung des Selbst zu überwinden. Entsprechend seiner Lehre vom bedingten Entstehen aller Phänomene und Wesen kann es kein separiertes, beständiges Selbst geben. Alles, was wir mit dem Selbst tun müssen, ist: hindurchsehen. Es ist nur eine Konvention, eine bequeme Konvention. Wenn du sie zu ernst nimmst, wenn du glaubst, sie ist etwas Dauerhaftes, das du verteidigen und fördern musst, dann wird sie zur Grundlage von Verblendung, dem Motiv hinter unseren Süchten und Aversionen. Es ist etwas Besonderes, sich klar zu machen: ich bin nichts anderes als das, was ich erfahre. Ich bin dieser Atemzug, ich bin dieser Moment und seine stetige Veränderung. Ich muss nicht dauernd mein Selbst schützen oder steigern – ich kann diesem Teufelskreis entgehen. Meditation hilft dabei. Ein solcher Weg schafft Freiraum für Handeln in der Welt. Wir alle können Boddhisattvas werden.
Ausgehend von solchen Gefühlen und Gedanken haben Joanna Macy und andere, etwa der norwegische Philosoph Arne Naess, die Tiefenökologie entwickelt. Tiefenökologie unterscheidet sich von der traditionellen Ökologie dadurch, dass sie über den Anthropozentrismus hinausgeht, der alle ökologischen Probleme immer zum Nutzen, zum Vorteil oder zum Profit des Menschen reparieren will. Es geht darum, der Natur selbst als lebendigem, selbstregulierendem System, mit Respekt vor ihrer Schönheit und Würde ihren inneren Wert zuzuerkennen.
Seit mehreren Jahrzehnten hält Joanna Workshops an vielen Orten der Erde. Sie setzt bei den ökologischen, politischen und persönlichen Problemen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an, wie in dem Beispiel des Workshops aus der Umgebung Tschernobyls 2. Dabei geht sie davon aus, dass Werte und Ziele der modernen Industriegesellschaft, vor allem „Wachstum um jeden Preis“ sich in unserer Gegenwart überlebt haben. Sie ermutigt die Menschen, sich für die Lösung ihrer Probleme ihrer eigenen Richtlinien zusammenzustellen, und dankbar dafür zu sein, in einer Zeit zu leben, in der sie so sehr zu Veränderung aufgerufen sind. Sie ruft dazu auf, Fragen zu stellen, sich Durchblick zu verschaffen und sich in einem weit verstandenen Sinn politisch zu engagieren.
Sie spricht davon, dass Gefühle es seien, die die Menschen zum Handeln bringen. Sie scheut sich in ihrer „Arbeit, die wieder verbindet“ nicht, Gefühle hochkommen zu lassen und die Menschen dabei zu unterstützen, sich ihrer bewusst zu werden. Elemente dabei sind:
- Dankbarkeit für das, was uns gut tut
- Zulassen von Schmerz als Quelle des Mutes
- die Dinge mit neuen Augen sehen
- Handeln
Rituale vor allem indigener Völker, Tänze, Gedichte spielen eine wichtige Rolle auf dem Weg, sich all das wieder zu eigen zu machen.
In Österreich und in Deutschland gibt es wie in anderen Ländern Initiativen auf den Spuren Joanna Macys. Wer sich näher informieren will, findet auf diesen beiden Websites vielfältiges Material: www.tiefenökologie.at und http://www.tiefenoekologie.de/. Von Joannas zahlreichen Veröffentlichungen ist als Einführung: Geliebte Erde, gereiftes Selbst, im englischen Original: World as Lover, world as Self, 2007) zu empfehlen.
Evamaria
- im vollen Wortlaut nachzulesen auf der Website der deutschen Gesellschaft für angewandte Tiefenökologie: http://www.tiefenoekologie.de/de/buecher-und-texte/politik-des-herzens/joanna-macy.html ↩
- s. der Beitrag „den Schmerz umarmen – Joanna Macy I“ auf diesem Blog ↩