Ihre bereits vor über zwanzig Jahren erstmals veröffentlichte Untersuchung über den Geschwindigkeitsrausch, dem unsere Gesellschaft und also wir alle – mehr oder weniger – verfallen sind, beginnt Marianne Gronemeyer 1 mit der Frage:
Wie konnte das Leben so unter Zeitdruck geraten?…Man mag das bizarre Hochgeschwindigkeitsunternehmen je nach Geschmack und Standpunkt kontraproduktiv nennen, pervers, anmaßend, frevlerisch, hybride oder dumm, weil es den feinen Unterschied zwischen Qualität und Quantität verkennt. In jedem Fall scheint es als eine Verirrung des Menschen, der hoch hinaus will: die Nachfahren des Prometheus sind auf Abwege geraten und haben die Anmaßung zu weit getrieben.
Die Autorin nennt vernunftgemäße Weltveränderung die Grundgebärde der Neuzeit. Dabei geht sie von der vorherrschenden Denkgewohnheit aus, Menschen hätten mit dem Ende des Mittelalters begonnen, sich als tatkräftige Akteure zu verstehen, die selbstbewusst und zuversichtlich die Natur nach ihren laufend fortschreitenden Erkenntnissen formen. Gronemeyer stellt nun, im Verein mit anderen Autoren, deren Überlegungen sie diskutiert, diese Denkgewohnheit auf den Kopf:
Wie nun aber, wenn alles ganz anders begann? Wenn nicht große Entwürfe geschmiedet, sondern starke Bollwerke gebaut wurden…wenn nicht prometheischer Geist, sondern Todesangst die Moderne inspirierte?
Bis ins Hochmittelalter sei das Sterben ins Leben eingebettet gewesen; die Menschen wären im Kreise ihrer Familien an erwartbaren Krankheiten gestorben, begleitet von der Vorstellung des Übergangs zum „wirklichen“ Leben im Himmel, bestattet und betrauert mit der Unterstützung durch erprobte Rituale. Dies hätte sich durch das Auftreten der Pest tiefgreifend verändert.
Vom 14. bis ins 18. Jahrhundert haben Pestepidemien Europa heimgesucht, Millionen Menschen starben daran, in den härtesten Zeiten bis zu 50% der Gesamtbevölkerung. Die Pest war unberechenbar und unvorhersehbar, Methoden, sie zu vermeiden oder zu heilen, waren unbekannt. Da die Menschen nichts so sehr fürchteten wie Ansteckung, mieden sie Kontakte, soweit sie konnten; alle gewachsenen sozialen Strukturen und die gesamte öffentliche Ordnung mit Begleit- und Bestattungsritualen zerbrachen. Dies hätte zu tiefer kollektiver Mutlosigkeit geführt, und – gemeinsam mit dem Niedergang kirchlicher Autorität – zum Verfall des Glaubens an ein ewiges Leben beigetragen, schreibt Gronemeyer. Der Tod sei den Menschen nackt und schrecklich entgegengetreten:
Dieser im Pestinferno entstandene Tod ist es, der das Lebensgefühl der Moderne entscheidend prägt. Die ungeheure Anstrengung der Weltverbesserung, die die Moderne auf sich nimmt, ist eine Kampfansage an diesen Tod.
Dies wirkt bis heute. Viele Menschen sprechen und denken vom Tod als dem feindlichen Alleszerstörer. Er wird weggeschoben und totgeschwiegen. Das andere Bild: dass der Tod ein Teil des Lebens ist, den wir als selbstverständlichen Teil eines Kreislaufes ruhig erwarten können, hat keinen Platz in der Vorstellungswelt der Moderne.
Zwei Denker der frühen Neuzeit nennt Gronemeyer, die ganz unterschiedliche, einander ausschließende Vorschläge gemacht hätten, wie Menschen sich gegen das Ungeheuerliche des Todes wappnen könnten: Michel de Montaigne 2 und Rene Descartes 3. Montaignes Denken steht in der Tradition antiker Denker wie Epikur: wir sollten der Todesfurcht keine Macht über uns einräumen:
Berauben wir den Tod seiner stärksten Trumpfkarte, die er gegen uns in Händen hält,und schlagen wir dazu einen völlig anderen als den üblichen Weg ein: Berauben wir ihn seiner Unheimlichkeit, pflegen wir Umgang mit ihm, gewöhnen wir uns an ihn, bedenken wir nichts so oft wie ihn! Stellen wir ihn jeden Augenblick und in jeder Gestalt vor unser inneres Auge. 4
Montaigne schreibt, wir sollten des Todes immer gewärtig und zur Abreise gerüstet sein. Dabei sieht er dem Ewigkeitsverlust ohne jede Tröstung ins Auge, wie Gronemeyer hervorhebt. Die Gleichgültigkeit dem Leben gegenüber, die anzustreben sei, bedeute aber nicht Indifferenz:
Der Nutzen des Lebens kommt nicht auf die Dauer desselben, sondern auf den Gebrauch an…Er beruht auf eurem Willen, nicht auf der Anzahl der Jahre, die ihr gelebt habt.
Der Lohn für ein pflichterfülltes, nützliches Leben ist bei Montaigne kein höherer Sinn, sondern einzig die Abwesenheit von Todesfurcht. Gegen den Tod vorzusorgen, erscheint ihm absurd; Sicherheit liegt für ihn ausschließlich darin, seine Lebensspanne ungeschützt auszuhalten. Das Denken Rene Descartes‘ weist in die diametral entgegengesetzte Richtung, wie Gronemeyer belegt. Während Montaigne davon spricht, wir müssten der Furcht unverwandt ins Auge blicken, um sie zu überwinden, lässt Descartes, der mit seinem Kernsatz cogito ergo sum den modernen Diskurs über Vernunft eröffnet hat, sie einfach nicht gelten:
Was die Furcht oder den Schrecken betrifft, so sehe ich nicht, dass sie jemals lobenswert oder nützlich sein können…Und da der Hauptgrund der Furcht in der Überraschung besteht, gibt es nicht Besseres, daran vorbeizukommen, als von Vorüberlegungen Gebrauch zu machen und auf alle Ereignisse vorbereitet zu sein…Furcht ist eine Verwirrung der Seele, die ihr die Kraft raubt, den Übeln, die sie nahen sieht, zu widerstehen. 5
Wie man der Furcht beikommen könne, beschäftigt beide. Montaigne will sich selbst und uns deutlich machen, es bleibe kein anderer Weg, als sie einfach auszuhalten. Dieser Zugang hat wohl die Furcht bei Vielen noch vergrößert, und er blieb historisch ohne Nachhall, wie Gronemeyer schreibt. Descartes’ Diffamierung der Furcht hingegen hätte dem Projekt der Moderne den Weg gebahnt:
Sicherheit soll künftig die Furcht objektiv erübrigen…Das ist das Kalkül, das Descartes seinen zaudernden Zeitgenossen aufmacht. Am Ende steht eine Welt in Aussicht, in der es nichts zu fürchten gibt, weil die Anlässe der Furcht samt und sonders ausgeschaltet oder unter Kontrolle gebracht wurden. Die Furcht wird verurteilt, weil sie die Tatkraft hindert, die aufgebracht werden muss, um die Welt endgültig sicher zu machen. Descartes’ Anleitung zur Vermeidung von Angst und Schrecken enthält trotz der spartanischen Kürze das ganze auf Fortschritt gestimmte Konzept moderner Weltgestaltung. Fortschritt ist in seinem harten Kern nichts anderes als die Optimierung von Sicherheit…Aus Montaignes Ermunterung zur Furchtlosigkeit springt keine Fortschrittsidee heraus. 6
Gronemeyer nennt Montaigne Selbstbildner und Decartes Welterneuerer. Während es dem ersten darum gegangen sei, Leben und Tod in ihrer Unberechenbarkeit hinzunehmen und damit zu leben, hätte der zweite in tatkräftiger Weltgestaltung die Möglichkeit gesehen, die Natur mit ihren Risiken und Unvorhersehbarkeiten unter Kontrolle zu bringen. Montaigne hätte, als das Vertrauen in die wirkende und ordnende Macht eines Gottes zunehmend verlorengegangen war, zweck-los nachgedacht und die entstandene Leere ausgehalten; Descartes hingegen hätte unter Einsatz der Naturwissenschaften dafür geeifert, die Welt den Menschen vorhersehbar, nützlich und unschädlich zu machen. Er habe gemeint, wenn der Mensch die Natur und ihre Wirkungsweise nur genau genug durchschaue, werde er sich zu ihrem Herrn und Meister machen können. Er hätte eine Vernunft propagiert, die den kommenden Ingenieuren der Natur den Weg geebnet habe, und ihr dabei die kontemplative Muße genommen. Ausgehend von der Feststellung, dass von diesen beiden Antipoden der Descartes’sche Ansatz sich durchgesetzt habe, entwickelt Gronemeyer im Rest des Buches die Folgen für Lebensgefühl und gesellschaftliche Entwicklungen in der Neuzeit. Ein zentrales Element ihrer Analysen ist die Zeit: sie wäre lange an Hand des natürlichen Kreislaufs von Tag und Nacht sowie der Jahreszeiten geschätzt und eingeteilt worden, bis durch das Aufkommen der Räderuhr ihre individuellen und regionalen Schwankungen „objektiviert“ worden seien. Dieser Übergang hätte lange gedauert:
…erst wenn aus Tätigkeiten keine Zeiteinteilungen mehr herausspringen, weil der rasende Maschinentakt sie regiert, wird der Mensch ohne Alternative an die Zeit der Uhr gefesselt und auf sie angewiesen. 7.
Auf diese Weise sei nach und nach dauerhafter Beschleunigung Tür und Tor geöffnet worden: die tickende Zeit ist ihrer Zeit voraus. Gleichzeitig habe das Bild vom Tod sich gewandelt: er sei nicht mehr von Gott verhängt, sondern werde zum schwerwiegender Defekt des menschlichen Körpers, der nun in Analogie zu einer Maschine gesehen wird:
Die Lokalisierung der Zeit in der Uhr und die Verlegung des Todes in den Mechanismus, als den man sich den lebendigen Körper denkt, erfüllen denselben Zweck: die Beherrschbarkeit. 8
Descartes habe ungebrochene Erwartungen und Hoffnungen auf die Entwicklung der medizinischen Wissenschaft gesetzt, die das Leben verlängern sollte, und zugleich auf die Erfindung zahlreicher Maschinen, um es zu erleichtern. Bei diesen – durch viele Erfolge bestätigten und beschleunigten Prozessen – seien Gelassenheit, Geduld und Zweifel als zeitraubende Abweichungen auf der Strecke geblieben. Das sind nur Bruchstücke aus dem originellen und inhaltsreichen Buch Gronemeyers, das nach zwanzig Jahren aktuell ist wie je. Warum ich sie hier vorgestellt habe? Unser Umgang mit Zeit, längst schon schleunig genug, nimmt immer noch an Fahrt auf, wird immer noch mehr fraktioniert, zu unser aller Schaden, wie ich meine. Dass wir uns das, wenn auch murrend, so lange und so heftig bieten lassen und noch eifrig und tüchtig mittun, darin liegt – über ökonomische und gesellschaftpolitische Gründe aus der Gegenwart hinaus – ein Widerspruch, über den es sich wohl nachzudenken lohnt. Gronemeyer bringt im Verein mit ihren Gewährsleuten 9 einen historischen Erklärungskontext, der überrascht und dabei tief greift – in einen Bereich, den auch wir Heutigen nur ungern gelten lassen: wie wir mit dem Tod und unserer Angst davor umgehen.
- Marianne Gronemeyer ist eine deutsche Erziehungswissenschafterin und Autorin. Eine komprimierte Zusammenfassung ihres Werks findet sich unter: http://www.salzburg.gv.at/marianne_gronemeyer.pdf. In diesem Blog-Eintrag werden Grundzüge und Haupthemen ihres Buches: Das Leben als letzte Gelegenheit. Sicherheitsbedürfnisse und Zeitknappheit, 5. Auflage, 2014, vorgestellt. ↩
- Näheres über diesen großen französischen Denker des 16. Jahrhunderts, den Autor der Essais, auf diesem Blog unter: „Es sich auf der Erde heimisch machen – Über Michel de Montaigne“ ↩
- Über den Philosophen, Mathematiker und Naturwissenschafter, auch er ein Franzose des 16. Jahrhunderts, gibt es gute erste Informationen unter: http://de.wikipedia.org/wiki/Ren%C3%A9_Descartes ↩
- Michel Eyquem de Montaigne: Que Philosopher C’Est Apprendre à Mourir, in: ders.: Essais, 1. Buch, Kapitel 20 ↩
- Descartes, Rene: Les Passions de l’âme, dt.: Die Leidenschaften der Seele, hrsg. von Klaus Hammacher, 1984, S 273-275 ↩
- Gronemeyer, s.o., S. 33f. ↩
- Gronemeyer, s.o., S 85 ↩
- Gronemeyer, s.o., S.99 ↩
- allen voran ihr Lehrer Ivan Illich, dem das Buch auch gewidmet ist ↩
Hallo, Eva-Maria, immer wieder finde ich auf dieser Webside mich inspirierende Gedanken zum Sonntag. Danke!!!
LIebe Chrisja,
schön, wieder mal von Dir zu hören und danke für die nette Rückmeldung!
Evamaria
Danke. Ein kluges Buch, das man gar nicht genug weiter empfehlen kann.