Vor ein paar Tagen waren die beiden wieder im niederösterreichischen Scheibbs zu Gast. Das Haus war voll, fast 40 TeilnehmerInnen aus Österreich, Italien, England, Schweden, Polen, Frankreich, Deutschland waren angereist gekommen, um sie zu hören. Von Anfang an herrschte eine gesammelte Atmosphäre, die die Mitte zwischen Anspannung und Entspannung hielt; zu schweigen fiel uns nicht schwer. Die wenigen Gruppen-Regeln wurden unaufgeregt vorgegeben und eingehalten. Martine betonte mehrmals, wir sollten aus ihren Angeboten von Meditationsformen auswählen, was für uns geeignet sei, und auch bei der Sitzposition gut auf unsere persönlichen körperlichen Möglichkeiten achten und uns nicht überanstrengen. Beide sprachen täglich eine Stunde lang zu uns, wobei Stephen am Vormittag Elemente seiner Studien von Texten aus dem Pali-Kanon 1 präsentierte, während Martine uns abends vor allem Inhalte und Praxis von Meditation nahe brachte. Beides kann ich nicht im Ganzen wiedergeben, aber hier folgen ein paar Bruchstücke aus meiner Mitschrift 2. Martine leitete uns in Meditation an, sie schlug verschiedene Techniken wie Atemmeditation, inneres Fragen und Körperwahrnehmung vor, denen gemeinsam sei, einen Zustand von weit offenem Gewahrsein anzustreben. Immer wieder hat sie darauf hingewiesen, dass jede/r selber herausfinden müsse, welche Form in welcher Situation für sie oder ihn persönlich geeignet sei:
Welche der vielen verschiedenen Meditationstechniken du gebrauchst, ist nicht die Hauptsache. Es geht immer um das Kultivieren von Samatha und Vipassana: sich im Augenblick zu verankern und Einsicht zu gewinnen, wie die Dinge wirklich sind. Der Zustand von Sati, von Achtsamkeit, bedeutet nicht, auf die Wirklichkeit zu starren. Er bedeutet, fürsorglich mit sich und anderen zu sein, harmlos und geistesgegenwärtig. Es geht darum, Hindernisse aufzulösen, die unser kreatives Potential blockieren. Vedanas, Empfindungen, die positiv, negativ oder neutral sein können, entstehen unausweichlich als Folgen unserer Sinneswahrnehmungen. In der Meditation geht es darum, sie sich bewusst zu machen und an keiner festzuhalten. Das macht kreatives Engagement möglich. Durch Meditation können so Offenheit und Freude entstehen.
Martine hat ihre Talks mit sehr lebensnahen Beispielen illustriert, in denen sie – ohne in Details zu gehen – aus persönlichen Erfahrungen ihre Schlüsse für uns zog. Wie kann man in beunruhigenden Situationen durch Bewusstmachen Ruhe bewahren? Wie kann frau ihre Selbst-Akzeptanz stärken, wenn sie in Gefahr ist, sich übertrieben zu kritisieren? Und, schließlich: wie kann man nach einem intensiven Retreat seine Meditationspraxis aufrechterhalten und stärken? Stephen betonte, dass Praxis und Studium nicht getrennt werden könnten und erklärte so das Design des Studienretreats. Der Pali-Kanon enthalte viel reiches Material, das von den buddhistischen Orthodoxien nicht aufgegriffen worden sei – manches davon stehe im Widerspruch zu ihnen. Das interessiere ihn besonders. Er ging vom Thema der Todlosigkeit aus, die er ein Äquivalent zur christlichen Erlösung nennt:
In einer Lehrrede geht es um 21 Laien aus Buddhas Anhängerschaft 3, die Todlosigkeit erkannt und Erfüllung erreicht hätten; so gingen sie durchs Leben, in vollkommenem Vertrauen auf Buddha, Dharma und Sangha. Der Dharma sei für sie klar sichtbar geworden, unmittelbar, erhebend, einladend und er könne von weisen Menschen wie ihnen persönlich erfahren werden. Diese heute weitgehend unbekannten Männer waren in der neuen städtischen Gesellschaft, die sich zu Buddhas Zeit gerade entwickelte, in verschiedenen Berufen tätig, sie waren keine Mönche. Buddha richtete seine Lehrreden oft an Menschen wie sie; er sagte ja von sich, er sei kein Lehrer mit geschlossener Faust – er meinte damit, dass er nichts für Eingeweihte zurückhalte. Darin, dass diese Männer die Todlosigkeit erkannt haben, liegt also Hoffnung für uns Laien. Was kann mit Todlosigkeit gemeint sein, da Buddha ja das Konzept einer unsterblichen Seele ablehnte? Nach seinen Worten bedeutet sie das Ende von Gier, Hass und Verblendung. Diese werden als reaktive Muster von Empfindungen des Vergnügens, der Unlust oder der Langeweile ausgelöst. Orthodoxen buddhistischen Schulen entsprechend müssten sie eliminiert werden. Sie sind aber tief in uns verwurzelt. Achtsamkeit zu üben bedeutet, sie zu akzeptieren. Und hier liegt der Schlüssel zur Todlosigkeit: sie ist ein Geisteszustand ohne reaktive Muster, nicht getrieben, sondern voll innerer Freiheit, in jedem Augenblick zugänglich. Es ist das, was wir in der Meditation üben – die Erfahrung jener Momente zu stärken, in denen wir nicht abhängig sind, sondern uns im Fluss des Geschehens bewegen. Das ist gemeint mit: in den Strom eintauchen. Todlosigkeit ist für Buddha eng mit dem Körper verbunden: er ist die Basis, die uns unsere Lebendigkeit empfinden lässt. Wer sich der Todlosigkeit erfreut, erfreut sich der Achtsamkeit für seinen Körper. Meditation beginnt für Buddha im Körper. Und sie bedeutet, uns bewusst zu machen, dass nicht nur Gier, Hass und Verblendung in uns sind. Solange wir am Leben sind, entgehen wir Dukkha, der conditio humana, nicht. Gier und Hass sind tief in uns verwurzelt. In der Geschichte der Menschheit waren sie erfolgreiche Mittel, um ihr Überleben zu sichern. Religionen, Moral- und Rechtsvorschriften dienen dazu, sie unter Kontrolle zu halten. Dabei besteht für alle Religionen die Gefahr der Entfremdung von ihren ursprünglichen Zielen, wenn sie sich mit Vertretern der Macht einlassen. Ich halte das für den Koan unserer Zeit: kultivieren wir unser inneres Leben oder engagieren wir uns in der Welt? Retreats können uns für die Aufgabe stärken, uns nachdrücklich für Ziele einzusetzen. Wenn wir diese Dichotomie zwischen Kontemplation und Aktivität überwinden, eröffnet sich ein neuer Raum und wir können die Erfahrung von Ganzheit neu entwickeln. Meditation ist keine Technik, sondern bedeutet, Sensibilität zu entwickeln. Wir brauchen Disziplin und Praxis, um uns für die Welt zu öffnen. Dazu gehört radikale Selbst-Akzeptanz und gleichzeitig das Durchbrechen der Obsession, „Ich, Mich und Mein“ wären Angelpunkte der Welt. Dann entstehen Fürsorglichkeit und Engagement für andere Menschen. Wir sollten für uns selbst eine Insel sein, wie Buddha es kurz vor seinem Tod formuliert hat, und nirgends sonst Zuflucht suchen. Ziel unserer Praxis sind Unabhängigkeit und Autonomie. Gleichzeitig gilt: in der Gemeinschaft sollen wir Zuflucht nehmen. Der Unterschied zwischen Kollektiv und Gemeinschaft liegt darin, dass dort Konformität auf Kosten der Autonomie gefragt ist, während hier jedes Mitglied die Individuation jedes anderen Mitglieds fördert. So gesehen besteht da kein Widerspruch.
All das zu hören und aufzunehmen war intensiv, erfrischend und anregend. Ich möchte ein paar Gedanken und Empfindungen anfügen, die bei mir entstanden sind. Es gibt den Modus „Pfeil“ im Leben, wenn es um das Erreichen von Zielen geht. Er führt leicht in Hast und Schärfe. Und es gibt den manchmal entgegengesetzten, manchmal komplementären Modus „Kreislauf“: Dinge entstehen und vergehen ohne Zutun; es ist möglich, dem achtsam zu folgen. Ohne das Anstreben von Zielen geht es nicht, die Kunst ist aber, immer wieder auf „Kreislauf“ umzuschalten. Dafür sitze ich im Retreat. Als Kind habe ich so gern den Wolken zugesehen. Ich möchte mich diesem stillen Zustand wieder annähern, den ich genossen habe, auch wenn meine Mutter mich dann gescholten hat, ich sei faul. An guten Tagen kann Meditation eine große Freude sein: sich dem Fluss der Dinge überlassen. Gleichzeitig mit der Wahrnehmung öffnet sich das Herz. Mit der Sitzposition habe ich, ermutigt durch Martines Anleitungen und ihr Vorbild (sie selbst sitzt auf einem Sessel) experimentiert, um eine gleichzeitig gesammelte und entspannte Haltung zu finden. Wie bei früheren Retreats habe ich erfahren, wie das „Ich-Mich-Mein“ manchmal in den Hintergrund tritt und sich auch wieder mal vordrängt, während ich mich unter den anderen bewege. Unsere Gruppe, die diese Website betreibt, konnte ein freundschaftliches Gespräch mit Stephen und Martine führen, das uns ermutigt hat. Am Ende des Retreats haben wir uns und unsere Arbeit allen Anwesenden vorgestellt und von dem Peer-Retreat in Scheibbs erzählt, das wir für 2.-5. Oktober 2014 vorbereiten. Martine und Stephen Batchelor werden von 24.- 28. Juni 2015 wieder nach Österreich kommen. Näheres dazu auf der Seite „Veranstaltungen“.
- Der Pali-Kanon ist die in der Sprache Pali verfasste, älteste zusammenhängend überlieferte Sammlung von Lehrreden Buddhas ↩
- Dabei habe ich die direkte, persönliche Rede der beiden teilweise beibehalten. Wer zusammenhängende Texte sucht, findet einiges auf dieser Website. Damit sind vor allem gemeint: die Seite mit Stephens Artikel: Was ist saekularer Buddhismus?, die Seite Meditation, die vor allem auf Martines Buch zu diesem Thema basiert, die Blog-Einträge über Stephens Text: Nach dem Buddhismus, sowie über Martines Talks Die Gelübde des Bodhisattvas und Die vier Phasen des Loslassens ↩
- Aṇguttara Nikāya 6.119-139 ↩