Siddharta Gotama war, wie wir alle, ein Kind seiner Zeit, geboren und aufgewachsen unter konkreten historischen und gesellschaftlichen Bedingungen. Er hat einerseits gute Beziehungen mit Mächtigen, mit einflussreichen und wohlhabenden Leuten gepflegt und darauf konnte er im Bemühen um den Fortbestand der Gemeinschaft, die er gegründet hatte, auch nicht verzichten. Gleichzeitig hat er selbstbewusst eine Lehre verkündet, die in diametralem Widerspruch zu gesellschaftlichen Normen und religiösen Grundvorstellungen seiner Umwelt stand. Wie hat er Einordnung und Widerspruch so gelassen unter einen Hut gebracht? Wie hat denn die Welt zu Buddhas Lebzeiten in Nordindien im 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung ausgesehen? Der deutsche Buddhismusforscher Hans Gruber gibt dazu eine historische Zusammenfassung, die ich so informativ finde, dass ich sie hier ausführlich wörtlich zitieren möchte 1:
Etwa seit dem 15. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung waren Nomadenvölker in Nordwestindien eingefallen, die sich „Ârya“ (sanskrit für „Edle“) nannten. Sie teilten ein (bisher nicht genau lokalisiertes) gemeinsames Ursprungsgebiet mit den Völkern, welche dereinst in Richtung Europa abgewandert waren. Aus diesem Grunde sind die europäischen und die nordindischen Sprachen eng verwandt. Um die Zeit des Erwachten (6.-5. Jh. v. Chr.) hatten sich diese Eroberer in ganz Nordindien voll etabliert, mit einem Klassensystem, das aus den vier Hauptständen besteht: Die Priester, Geistlichen und Lehrer „Brahmanen“; die Krieger, Adeligen und Machthaber „Kshatriyas“; die Händler, Viehzüchter und Bauern „Vaishyas“; sowie zuletzt die große Mehrheit der zuarbeitenden, abhängigen Bevölkerung „Shûdras“. Außerhalb dieser Vierergesellschaft stehen ganz unten die Unberührbaren „Parias“. Durch schrittweise Vermischungen sind zahlreiche „Kasten“ entstanden. Die Parias und die Shûdras rekrutierten sich primär aus den Unterworfenen, während die drei höheren Klassen (die sogenannte „arische Gesellschaft“) aus den Eroberern bestanden. An der Spitze dieses Systems stehen nun die Brahmanen, die eine für das Volk rituell und spekulativ orientierte Religion des Opferkultes führen. Die höchst umfangreichen Schriften des „Veda“ (Wissen, Heilige Lehre) dienen ihnen hierzu als Quelle, die bloß die Angehörigen jener arischen Gesellschaft hören dürften. Ihnen gelten die Veden als „göttlichen Ursprungs“ bzw. den alten Sehern „offenbart“. In dieser Ordnung spielen die Opferrituale, die alleine die Brahmanen ausführen dürften, für das spirituelle Heil und das gesellschaftliche Wohl die entscheidende Rolle. Dadurch erklärt sich die Vorrangposition der Brahmanen. Nachdem sich die Invasoren etabliert hatten, kam es im Zuge der Herausbildung einer städtisch arbeitsamen Kultur durch völlig neue Kriegs- und Arbeitsgeräte (infolge der Eisenschmelze) zu einem Umbruch des altüberlieferten Gesellschaftssystems. Die Bedeutung der Krieger und Herrscher „Kshatriyas“, aber auch der Händler und Handwerker wuchs zunehmend. Die Kshatriyas konkurrierten mit den Brahmanen jetzt offen um das höchste Wissen… In dieser Epoche wurde die individuelle Leistung oder „Persönlichkeit“ immer wichtiger, im Unterschied zur althergebrachten Hochbewertung von Rasse mit Hautfarbe, Stand, Kaste und Geschlecht…In spiritueller Hinsicht war es die „Ära der Wanderasketen“, die aus unterschiedlichen Schichten kamen, um als Wanderer und Waldeinsiedler die Erlösung vom Daseinskreislauf „Samsâra“ zu verwirklichen.
Unter diesen äußeren Rahmenbedingungen wurde Siddharta Gotama als Sohn und potentieller Nachfolger eines regionalen Fürsten geboren. Die Legende, wie sein Vater ihn vom Leid in der Welt durch ein Luxusleben im Palast fernzuhalten versuchte, ist bekannt; verbrieft ist, dass er mit etwa dreißig Jahren Familie und Palast verließ und in die „Hauslosigkeit“ zog. In einer mehrjährigen, schwierigen Phase erarbeitete er sich teils mit anderen Wandermönchen, vorwiegend aber allein in einer Art Versuch-und-Irrtum-Verfahren die Grundzüge seiner späteren Lehren. Er hat die häufig extremen religiösen Übungen von Wanderasketen kennengelernt, versucht und hinter sich gelassen. In diesem gesellschaftlichen Kontext die Lehre vom „Mittleren Weg“ zwischen den Extremen asketischer Selbstkasteiung und uneingeschränkter Hingabe an Genuss zu entwickeln, war Siddharta Gotamas historische Leistung und der erste Hinweis, dass sein Weg…ähnlich auch von den Laienanhängern in ihrem Leben in der Welt verwirklicht werden kann, wie Hans Gruber formuliert 2:
Der mit Desorientierung verbundene Umbruch von der altüberlieferten zur neuen Ordnung förderte den Willen, tief tragfähige spirituelle Werte zu verwirklichen. Was nun einfach immer mehr zählte, war Entschlossenheit und persönliche Vorzüge (spirituell wie weltlich), entgegen äußerer „Form“. Damit haben die Kastenniederen und Kastenlosen im Vergleich zu den Kastenhohen, die Laien im Vergleich zu den professionellen „Geistlichen“, sowie die Frauen im Vergleich zu den Männern bis dahin ungekannte, neue weltliche und spirituelle Entfaltungsmöglichkeiten erhalten. Diese Tatsache wird besonders an der Urgemeinde des Erwachten klar: Hier haben die Frauen, Laien und früheren Kastenniederen oder Kastenlosen neben den Männern, Ordinierten und früheren Kastenhohen historisch erstmals eine Hauptrolle als selbst den inneren Heilsweg Verwirklichende eingenommen.
Mit Siddharta Gotamas weiterem Leben hat sich Stephen Batchelor, ausgehend von Texten des Pali-Kanon ausführlich und ohne Heiligenverehrung auseinandergesetzt 3. Batchelor beschreibt, wie Gotama, nachdem er sich nach einigem Zögern entschlossen hatte, seine Lehre öffentlich zu verbreiten, sich um das physische Überleben seiner Gemeinschaft kümmerte. Für seine umherziehende Gruppe von „Hauslosen“ brauchte es Unterkünfte während der Zeit der monatelang dauernden heftigen Monsunregen. Ein erster hochgestellter Anhänger, König Bimbisara, bot ihm dafür einen Park, den Bambus-Hain, an, später gab es ein ähnliches Angebot des wohlhabenden Bankkaufmanns Anathapindika, beides wurde akzeptiert und genutzt. König Bimbisara und Siddharta Gotama
Jeta-Hain, von Anathapindika zur Verfügung gestellt
Während der vielen Regenzeiten, die Gotama mit seinen Anhängern in diesem Hain verbrachte, achtete er besonders darauf, ein gutes Verhältnis mit dem örtlichen König Pasenadi zu pflegen. Batchelor schreibt 4:
Die vielen überlieferten Dialoge zwischen ihnen vermitteln den Eindruck, dass die beiden Männer sich gut kannten. Ihr Austausch ist geprägt von Freimütigkeit und fehlender Förmlichkeit. Manchmal scheint der König Gotama zu necken oder zu provozieren, als ob er ihn testen wollte. Und die Antworten Gotamas erscheinen oft zurückhaltend und vorsichtig, als sei er auf der Hut, etwas zu sagen, was der König als Angriff verstehen könnte.
Batchelor schildert ein Gespräch zwischen den beiden, in dem der König Gotama wissen lässt, dass er als Mönche verkleidete Spione einsetze. Gotama gibt nicht zu verstehen, dass das keine gute Idee sei, sondern bemerkt nur: In der Verkleidung als disziplinierte Männer ziehen undisziplinierte Männer durch das Land. Batchelor belegt noch durch andere Beispiele, wie Gotama als ein Teil des gesellschaftlichen Gefüges agierte, in dem er lebte, und im Interesse seiner Gemeinschaft auf ein gutes Verhältnis zu seinen Gönnern, unter denen mächtige Männer waren, Wert legte. Dass er von ihnen anerkannt wurde und sie sich seiner Lehre anschlossen, wird neben seiner persönlichen Überzeugungskraft und seinem Charisma zumindest anfangs dadurch begünstigt worden sein, dass er selbst „aus besseren Kreisen“ stammte. Aber er war weit davon entfernt, irgendjemandes Günstling zu sein. Stephen Batchelor schreibt über seine Stellung zum Establishment seiner Zeit 5:
Siddharta Gotama war ein Nonkonformist, ein Radikaler…Er wollte nichts mit der priesterlichen Religion der Brahmanen zu tun haben. Er wies ihre Theologie als unsinnig, ihre Rituale als nutzlos und die soziale Struktur, die ihnen ihre Macht verlieh, als ungerecht zurück….Er weigerte sich, die Rolle eines erleuchteten Gurus zu spielen, der von seinen Schülern kritiklose Unterwerfung fordert, bevor er ihnen Lehren, die einer spirituellen Elite vorbehalten sind, unterbreitete.
In der Esukari-Sutta spricht Gotama eine deutliche Sprache 6:
In wessen Dienste dienend ich schlechter würde, nicht besser: dem mag ich nicht dienen; in wessen Dienste dienend ich aber besser würde, nicht schlechter: dem mag ich dienen. Ich sage nicht, Priester, dass hohe Geburt besser mache; ich sag‘ auch nicht, Priester, dass hohe Geburt schlechter mache. Ich sage nicht, Priester, dass große Schönheit besser mache; ich sag‘ auch nicht, Priester, dass große Schönheit schlechter mache. Ich sage nicht, Priester, dass großer Reichtum besser mache; ich sag‘ auch nicht, Priester, dass großer Reichtum schlechter mache. Auch von hoher Geburt ist ja da, Priester, mancher ein Mörder, ist ein Dieb, ist ein Wüstling, Lügner, Verleumder, ist ein Zänker und Schwätzer, voll Gier und Hass und Eitelkeit: darum sag‘ ich nicht, dass hohe Geburt besser mache. Auch von hoher Geburt ist ja da, Priester, mancher kein Mörder, ist kein Dieb, ist kein Wüstling, Lügner, Verleumder, ist kein Zänker und Schwätzer, ist nicht begehrlich, nicht gehässig, recht gesinnt: darum sag‘ ich nicht, dass hohe Geburt schlechter mache. Auch mit großer Schönheit, Priester, auch mit großem Reichtum ist ja da mancher ein Mörder, ist ein Dieb, ist ein Wüstling, Lügner, Verleumder, ist ein Zänker und Schwätzer, voll Gier und Hass und Eitelkeit: darum sag‘ ich nicht, dass große Schönheit, großer Reichtum besser mache. Auch mit großer Schönheit, Priester, auch mit großem Reichtum ist ja da mancher kein Mörder, ist kein Dieb, ist kein Wüstling, Lügner, Verleumder, ist kein Zänker und Schwätzer, ist nicht begehrlich, nicht gehässig, recht gesinnt: darum sag‘ ich nicht, dass große Schönheit, großer Reichtum schlechter mache. Ich sage nicht, Priester, dass man jedem dienen solle; ich sag‘ auch nicht, Priester, dass man keinem dienen solle. Denn bei wem da, Priester, indem er einem dient, durch den Dienst das Vertrauen zunimmt, die Tugend zunimmt, die Erfahrung zunimmt, der Opfermut zunimmt, die Weisheit zunimmt: dem, sag‘ ich, soll man dienen. Ebenso nun auch, Priester, kann wer da aus einem Kriegergeschlechte oder Priestergeschlechte oder Bürgergeschlechte oder Dienergeschlechte vom Hause fort in die Hauslosigkeit gezogen und zu des Vollendeten dargelegter Lehre und Ordnung gekommen ist, von Mord absteht, von Diebstahl absteht, von Unkeuschheit absteht, von Lüge, Verleumdung, Zank und Geschwätz absteht, nicht begehrlich, nicht gehässig, recht gesinnt ist, Echtes erwirken, heilsames Recht.
Gotama hat hier – wie auch in anderen Fällen – einen traditionellen Begriff aus eigenem umdefiniert: edel war für ihn nicht ein Mensch, der in eine „edle“ Kaste hinein geboren war, sondern der ein edles Leben führte. Damit öffnete er seine Lehre für Angehörige aller Kasten, und machte sich gleichzeitig Vertreter der überkommenen Weltsicht und Religion, vor allem Brahmanen, zu Gegnern. Wie er mit der Aufnahme von Frauen in seine Gemeinschaft umging, ist bekannt: trotz seiner grundsätzlich offenen Haltung sträubte er sich lange dagegen. Erst durch weibliche Hartnäckigkeit ließ er sich umstimmen, nicht ohne den Nonnen strengere Regeln aufzuerlegen als den Mönchen. Stephen Batchelor kommentiert das mit dem Hinweis, wie ungeheuerlich in der indischen Gesellschaft zu Buddhas Zeit der Gedanke war, Frauen den Männern gleichzustellen. Mönche mussten sich strikt von Frauen, die samt und sonders als Repräsentantinnen verwerflicher Lust galten, fernhalten. Gotama lief Gefahr, seine ganze Gemeinschaft zu gefährden, wenn er hier nicht sehr vorsichtig vorging. Siddharta Gotama war diplomatisch und lehrte radikal; er war kein Revolutionär, kein Bilderstürmer. Er lebte und handelte wegweisend, nicht kämpferisch, und unter allen Umständen gewaltfrei. Den Themen seiner Zeit hat er sich nicht entzogen, aber sich nie verstricken lassen. Er entwickelte und vertrat seine Lehre eigenständig, er war sich selbst eine Insel. Zeitlebens lehnte er ab, ein Führer zu sein, und bestimmte auch keinen für die Zeit nach seinem Tod. Dabei setzte er auf die Kraft des Dharma und der Gemeinschaft. Von sich selbst sagte er, er hätte nur ein Thema: das Leiden und das Ende des Leidens. Diese Klammer verbindet uns alle.
- http://www.buddha-heute.de/rubrik-06/hinduism-buddhism.htm. Gruber verwendet in diesem Text die Bezeichnung „der Erwachte“ für Siddharta Gotama ↩
- s. Anm. 1 ↩
- Batchelor, Stephen: Bekenntnisse eines ungläubigen Buddhisten, München 2010, S. 130ff. u. passim, engl. Original: Confession of a Buddhist Atheist, New York 2010 ↩
- s. Anm.3, S 213f. ↩
- s. Anm. 3, S 176 ↩
- Esukari Sutta, Majjima Nikaya 96 ↩