Im Jahr 2013 hat sich Stephen Batchelor in vier Vorträgen mit poetischen Texten aus dem Atthaka Vagga beschäftigt. Das ist das „Kapitel der Acht“ aus dem Sutta Nipata des Pali-Kanon, das Gedichte über das Nicht-Anhaften enthält. In buddhistischer Tradition und auch nach Meinung von Fachleuten sind dies sehr frühe, teilweise radikale Reden des Buddha, deren Bedeutung in späteren Jahrhunderten in den Hintergrund geraten ist. Einer dieser Texte ist die Paramatthaka Sutta. Den mittelbaren Anlass für diese Rede des Buddha boten die beständigen Dispute verschiedener Lehrer in Savatthi. Als König Pasenadi davon erfuhr, ließ er blind geborene Männer kommen und befahl, einen Elefanten in ihre Nähe führen. Dann sollten die Männer berühren und benennen, was vor ihnen stand. Jeder beschrieb den Teil, den er berührt hatte: wer den Fuß des Elefanten berührt hatte, behauptete, ein Elefant sei ein Pfeiler, wer das Schwanzende berührt hatte, hielt den Elefanten für einen Besen usw. Die Blinden begannen, zu streiten und handgreiflich zu werden. Da sagte der König zu den Lehrern, ihre unterschiedlichen Überzeugungen seien genauso unzuverlässig wie die Bescheibungen der Blinden. Als Siddharta Gotama davon erfuhr, hielt er eine Rede, in der er den König in seiner Sichtweise bestärkte: die Paramatthaka Sutta. Diesen Text hat Stephen Batchelor in einem Vortrag während eines Retreats in Gaia House, England, im Juli 2013 präsentiert und kommentiert. 1
Der Vortrag beginnt mit dem Text der Sutta 2:
Wer sich auf endgültige Überzeugungen versteift und sie als unumstößlich präsentiert, erklärt damit alle anderen Sichtweisen für unterlegen. Er hat das Debattieren nicht überwunden und übt es für seinen eigenen Vorteil. Unter diesem Aspekt hält er an Sichtweisen, Worten, Richtlinien und Ideen fest, und alles andere hält er für niedrig. Kenner sind der Meinung, dass er andere schlecht macht, weil er sich selbst gefesselt hat.
Ein Bettelmönch verfängt sich nicht in Standpunkten, Worten, Ideen oder Richtlinien. Eine Überzeugung, die auf Wissen basiert, entwickelt er nicht. Weder beansprucht er, gleichwertig zu sein, noch hält er sich für überlegen oder unterlegen. Er lässt eine Position los, ohne eine andere einzunehmen.
Er ist nicht dadurch definiert, was er weiß, und er schließt sich auch nicht einer Gruppe von Sektierern an. Er nimmt überhaupt keinen Standpunkt ein. Er lässt sich nicht mit Worten wie: „Es ist“, und „Es ist nicht“, oder „diese Welt“ und „die nächste Welt“ in blinde Bündnisse locken. Das Engagement, das Menschen dazu bringt, abzuwägen und an Lehren festzuhalten, fehlt ihm. In seiner Wahrnehmung von Überzeugungen, Worten und Ideen gibt es keine Spuren von Sicherung. Wer kann einen Priester beurteilen, der nicht an Überzeugungen festhält? Mit welchem Maßstab könnte man ihn messen?
Er denkt sich nichts aus, und er schmeichelt nicht. Er hat keine Lehren übernommen. Diesen Priester kannst du nicht an seinen Richtlinien erkennen. Er hat Rahmen gesprengt, ohne irgendetwas, worauf er zurückgreifen könnte.
Batchelor zitiert danach aus der Sivaka Sutta 3 und begründet das mit der inhaltlichen Verwandtschaft der beiden Texte.
Der Lehrer hielt sich einmal an der Eichhörnchen-Futterstelle im Bambushain von Rajagaha auf. Da kam der Wandermönch Sivaka auf ihn zu und tauschte Grüße mit ihm aus…Schließlich fragte er: Herr Gotama, es gibt Wandermönche und Priester, die die Ansicht vertreten, was immer ein Mensch erfahre, sei es erfreulich, schmerzhaft, oder neutral, wäre durch frühere Taten verursacht. Was sagt Ihr dazu? Buddha antwortete: manche Erfahrungen haben ihre Ursache in der Funktion der Galle, manche in Schleim, manche in inneren Winden, manche in allen Dreien. Manche Erfahrungen werden verursacht durch den Wechsel der Jahreszeiten, manche durch unzureichende Fürsorge, manche durch einen plötzlichen Überfall, und manche sind Folgen eigener Taten. Ihr könnt selbst beurteilen, wie es zu solchen Erfahrungen kommt. Menschen in der Welt sind sich einig darüber, wie es zu solchen Erfahrungen kommt. Diejenigen, die glauben, alle Erfahrung werde durch frühere Taten verursacht, übergehen, was sie selbst wissen könnten, und was in der Welt für richtig gehalten wird. Daher sage ich: diese Wandermönche und Priester haben unrecht.
Batchelor schließt nun an: Ich halte das für einen sehr profunden Text, der im übrigen den meisten Buddhisten Schwierigkeiten macht. Ein erster Punkt scheint mir zu sein: ein Leben ohne Überzeugungen zu leben bedeutet nicht, sein Gehirn auszuschalten. Wir bekommen in dieser Sutta einen Hinweis, was es bedeuten könnte. Können wir ein Leben führen, das darauf basiert, was wir selber wissen – als erstes Kriterium – was wir vom allgemein akzeptierten Wissen unserer Kultur schöpfen – als zweites Kriterium – ohne etwas hinzuzufügen, das nicht durch diese beiden Formen von Wissen begründet werden kann? Versuchsweise könnten wir also jeden Standpunkt, der durch keines der beiden Kriterien: persönliche Erfahrung oder in der Welt allgemein akzeptiertes Wissen bestätigt werden kann, einen metaphysischen Glaubenssatz nennen. Das Beispiel im Text ist: es gibt Wandermönche und Priester, die die Meinung äußern (hier wird dieselbe Terminologie gebraucht wie in der Paramatthaka Sutta) : was immer ein Mensch für Erfahrungen macht – angenehm, schmerzhaft, oder neutral – hat seine Ursache in vergangenen Taten. Buddha nennt das als ein Beispiel für eine metaphysische Sichtweise oder Überzeugung. Mit anderen Worten: es ist eine verallgemeinernde Aussage über die Natur der Realität, die in allen Situationen, allen Kontexten, allen vorstellbaren Orten und Zeiten für zutreffend gehalten werden soll. Buddhas Reaktion darauf ist im Grund, an den Menschenverstand zu appellieren. Er sagt: Einen Moment. Wir haben Erfahrungen: wenn du dich krank fühlst, dann nicht wegen eines vergangenen Karma, sondern weil deine Körperfunktionen nicht richtig arbeiten. Oder: achte auf die äußeren Umstände: den Wechsel der Jahreszeiten, das Wetter, die Umgebung – das hat doch oft großen Einfluss auf unser Befinden. Das sagt uns der Menschenverstand. Oder: unzureichende Fürsorge – du kümmerst dich nicht ausreichend um dich selbst, oder du isst das Falsche, oder du isst nicht genug, trägst falsche Kleidung usw. Das bereitet dir Freude oder Schmerz. Oder: ein plötzlicher Überfall. Wenn du gerade friedlich deine Gehmeditation machst, und es springt dich jemand an und haut dich auf den Kopf, brauchst du nicht Taten aus der Vergangenheit zu bemühen – du bist einfach zur falschen Zeit am falschen Ort. Aber manche Erfahrungen, die wir machen, sind Folgen unserer eigenen Taten. Das wissen wir sowieso, da brauchen wir uns auf keine metaphysische Karma-Theorie zu beziehen. Buddha versteht Karma hier als absichtsvolle Tat. Manche Dinge widerfahren uns als Ergebnisse unserer Absichten, etwas zu sagen oder zu tun. Wenn du beschließt, in den Pub zu gehen, dort zu viele Whiskys trinkst und am nächsten Morgen eine furchtbaren Kater hast, dann brauchst du nicht Karma und vergangene Lebenszeiten zu bemühen; du brauchst nur die Folge von Entscheidungen nachzuvollziehen, die damit begonnen hat, dass du daran gedacht hast, in den Pub zu gehen. Dieses Beispiel weist darauf hin, dass im frühen Buddhismus Misstrauen herrschte gegenüber großartigen Vorstellungen, die alles erklären. Viele religiöse Glaubenssätze sind von dieser Art: Gott ist die Liebe, Leben ist Leiden – solche verallgemeinernde Feststellungen, an die Menschen glauben oder nicht glauben. Sie lassen sich nicht verifizieren, und gleichzeitig – und das macht sie so verführerisch – kannst du sie nicht widerlegen. Den Satz: „alle meine Erfahrungen sind das Ergebnis meines Karmas in der Vergangenheit“ kannst du nicht falsifizieren, genauso wenig wie du beweisen kannst, dass Gott nicht existiert. Erinnert euch an Karl Poppers berühmten Satz über Wissenschaftlichkeit: jeder Anspruch muss falsifiziert werden können. Wir schreiten in unserer Erkenntnis voran, indem wir gegenwärtige Ansichten falsifizieren. In diesem Text liegt ein ähnlicher Gedankengang vor. Ein anderes Beispiel 4: Buddha sagt:
Ich diskutiere nicht mit der Welt, es ist eher so, dass die Welt mit mir diskutiert. Wer den Dhamma lehrt, führt mit niemandem auf der Welt Streitgespräche. Von einer Sache, bei der die Weisen der Welt übereinstimmen, dass es sie nicht gibt, sage auch ich, dass es sie nicht gibt, und bei etwas, wovon sie der Meinung sind, dass es existiert, sage auch ich, dass es existiert.
Diese Passage eines frühbuddhistischen Textes zeigt: Buddha war nicht daran interessiert, die Welt korrekt zu beschreiben, sondern daran, vorzuschlagen, wie wir in dieser Welt leben könnten. Ich halte das für wirklich entscheidend. Er war nicht interessiert an der Natur des Bewusstseins, nicht an der Natur des Geistes, oder des Körpers, oder der Umgebung – wo immer er über solche Dinge Bescheid hätte wissen wollen, wäre er zu Experten gegangen und hätte sie um ihre Meinung gefragt und diese akzeptiert. Die heutige Diskussion über Buddhismus und Wissenschaft (z.B. Wissenschaft vom Bewusstsein) geht also an der Kernfrage vorbei. Buddhismus wird in diese Diskussion hineingezogen, wo doch das Projekt als eine Anzahl praktischer Ratschläge begonnen hat, wie man in der Welt leben soll. Buddhismus ist pragmatisch, nicht dogmatisch. Ja, es stimmt, in der indischen Geistesgeschichte haben Buddhisten entscheidende Beiträge zur Logik, Erkenntnistheorie, Psychologie, etc. geleistet. Aber hier lag nicht Buddhas ursprüngliche Intention. Diese können wir in der Aussage zusammenfassen: der Dharma ist verordnend, nicht beschreibend 5. Und davon ausgehend bin ich dazu gekommen, „die Vier“ als vier Aufgaben und nicht als vier Wahrheiten zu sehen. Vorstellungen wie „es ist“ oder „es ist nicht“ stehen da im Hintergrund. Ich halte es aber für sehr schwierig, diese Denkweise abzulegen. Ich habe sehr viel Zeit damit verbracht, Vieles von dem zu verlernen, was ich gelehrt worden war. Wenn ich jetzt eine Sutta lese, versuche ich nicht mehr zu denken: stimmt das? sondern statt dessen: klappt das?
Versucht, den Dharma als einen Werkzeugkasten zu sehen, mit Äquivalenten von Schraubenschlüsseln und Sägen und Bohrern und Hämmern und Meißeln, von denen jedes für eine bestimmte Aufgabe gedacht ist – es gibt hier kein Universalwerkzeug, keine einzelne Praxis, die der Buddha gelehrt hat – das wäre eine enge Sichtweise. Buddha stellt uns eine Anzahl von Praktiken zur Verfügung, wie das auch andere, spätere Traditionen tun. Und die Frage ist: Hilft das? Und nicht: Ich muss das tun, weil es in ununterbrochener Reihenfolge überliefert ist, und wenn es für mich nicht hilft, dann ist mit mir etwas falsch. Das mag stimmen – aber diese Art zu denken ist nicht hilfreich. Einer der üblichen Einwände gegen einen säkularen, historisch-kritischen Zugang zu diesen Texten ist, darauf hinzuweisen, dass Buddhismus eine sich entwickelnde Tradition ist: ja, Buddhismus begann natürlich mit diesen ersten Texten, aber ihre Aufnahme und ihre Umsetzung in die Praxis in bestimmten kulturellen Umgebungen regte weitere Entwicklung und Verfeinerung der Philosophie an. Man sieht hier also Entwicklung, nicht Niedergang. Die Argumentation läuft so: einfach zu den ältesten Texten zurückzugehen und diese als die authentischsten zu bezeichnen, ist ein Trugschluss im Sinn von: das Früheste muss das Beste sein. Mit diesem Einwand bin ich häufig konfrontiert. Wie wir vor allem von den Mahayana-Traditionen wissen, spielt bei diesen die Rhetorik von Hinayana und Mahayana 6 eine zentrale Rolle. Hinayana sei zu seiner Zeit wichtig gewesen, aber für eine weniger erleuchtete Truppe als wir, die wir Bodhisattvas 7 sind. Dies ist bis heute sehr stark im Buddhismus verankert, und ich halte das für eine echte Tragödie. Hina bedeutet: unterlegen, es ist ein Ausdruck von Geringschätzung. Was ich bemerkenswert finde – seht den ersten Vers unseres Textes 8 an:
Wer sich auf endgültige Überzeugungen versteift und sie als unumstößlich präsentiert, erklärt damit alle anderen Sichtweisen für unterlegen.
Dieser Text wurde Jahrhunderte vor der Zeit, in der Buddhisten von Hinayana und Mahayana zu sprechen begannen, geschrieben. Der Ausdruck, der hier für unterlegen gebraucht wird, ist Hina – dasselbe Wort. Es klingt eigenartig prophetisch, als ob der Autor sich genau der Fallen bewusst gewesen wäre, in die die Tradition wahrscheinlich tappen würde, als ob er verstanden hätte, wie Menschenwesen sich zu verhalten pflegen. Hier haben wir den alten Text, der vor dem Gebrauch von Worten wie Hina warnt – und dann wird das ein Schlüsselwort der eigentlichen buddhistischen Tradition. Ich sehe das nicht als ein Beispiel dafür, wie sich die Tradition entwickelt hat, sondern als Versagen beim Anerkennen der Ursprünge dessen, was man zu vertreten beansprucht. Diese Texte sind in Vergessenheit geraten, vielleicht wurden sie unterdrückt. Wir haben hier also nicht „Entwicklungen“, die die frühen Texte verbessern oder verfeinern, sondern genau das tun, wovor die früheren Texte gewarnt haben. Wir kehren zu der Passage aus der Sivaka-Sutta zurück:
…Es gibt Wandermönche und Priester, die die Ansicht vertreten, was immer ein Mensch erfahre, sei es erfreulich, schmerzhaft, oder neutral, wäre durch frühere Taten verursacht.
Es sieht wie eine Sinnestäuschung aus, dass das in vielen buddhistischen Schulen heute die offizielle Position ist. Das hat man mich in meiner Ausbildung zum tibetischen Mönch gelehrt. Was immer ich für Erfahrungen mache: angenehm, unangenehm oder neutral, kommt von Handlungen in der Vergangenheit, während Umweltfaktoren etc. als akzidentiell betrachtet werden. Auch das ist ein Beispiel für eine frühe Lehre, die vollkommen in Vergessenheit geraten ist, und Buddhisten wiederholen genau das, was Buddha hier für falsch erklärt. Das macht diesen Text so problematisch: er steht in Widerspruch zu einem großen Teil der buddhistischen Orthodoxie. George Santayana, der spanisch-amerikanische Philosoph, hat gesagt: Wer nicht aus der Geschichte lernt, muss ihre Fehler wiederholen. Historisches Bewusstsein – das in der Entwicklung des traditionellen Buddhismus weitgehend gefehlt hat – stellt uns hier ein sehr wertvolles Werkzeug zur Verfügung: diese frühen Lehren wurden nicht nur vergessen, sondern bewusst als unterlegen verleumdet. Das, was als überlegen angesehen wird, ist genau das, wovor Buddha gewarnt hat. Ein anderes gutes Beispiel hierfür sind die Begriffe Endgültigkeit und Wahrheit. In dem erwähnten Gedicht und anderen aus dieser Phase werden diese Begriffe wiederholt mit großem Misstrauen behandelt. Menschen, die den Anspruch erheben, die Wahrheit zu vertreten, werden derselben Kategorie zugeordnet wie solche, die falsche Meinungen vertreten – das sei nur eine andere Variante von fixer Idee. In vielen späteren Traditionen – auch im Theravada 9, nicht nur in Mahayana-Traditionen – wird Erleuchtung verstanden als: Einsicht in endgültige Wahrheit zu gewinnen. In Kontrast dazu wird alltägliche oder relative Wahrheit gesetzt. Wie in aller Welt konnte das geschehen? Wie konnte eine Tradition, die voller Misstrauen endgültigen Wahrheiten gegenüber war, sich dorthin entwickeln, dass ihr ganzes Denken darauf basiert, endgültige Wahrheit alltäglicher Wahrheit gegenüber zu stellen? Diese Unterscheidung zwischen endgültiger und alltäglicher Wahrheit wurde zum ersten Mal in den Fragen des König Milinda gemacht. Milinda ist die Pali-Form des griechischen Wortes Menander. Der indisch-griechische König Menander lebte in Indien im 2. vorchristlichen Jahrhundert in der Nachfolge der Eroberungen von Alexander dem Großen. Er errichtete ein Königreich im Punjab, im heutigen Pakistan. In seiner Zeit war die Macht Griechenlands zurückgegangen, die hellenistische Welt in Europa zerbrach und Rom stieg zur Großmacht auf. Die griechischen Kolonien wurden gewissermaßen führungslos, und als Teil dieses Prozesses wandten sich die Griechen, die an diesen Orten lebten, mit Fragen zu ihrer Identität und ihrem spirituellen und religiösen Wohlergehen den regionalen Traditionen zu. Dieser König Menander war sehr an Buddhismus interessiert. Ein Dialog zwischen ihm und dem buddhistischen Mönch Nagasena ist auf Pali erhalten. coque iphone Und dort führt Nagasena den Gedanken von den zwei Wahrheiten ein – also etwa 200 Jahre nach Buddhas Lebenszeit. Im Pali-Kanon werden die Worte endgültige Wahrheit und alltägliche Wahrheit nirgends erwähnt. Die Art, in Gegensätzen zu denken: „ist“ – „ist nicht“, „wahr“ – „falsch“, „endgültig“-„alltäglich“ ist eine Falle, in die hier zum ersten Mal gegangen wird. Nun, dass Nagasena diese Ausdrücke gebrauchte, erklärt noch nicht, warum sie so wichtig geworden sind. Es gibt möglicherweise zwei Gründe dafür: zum ersten war der Buddhismus, indem er das Modell der beiden Wahrheiten übernahm, als Religion in Indien viel besser geeignet als vorher, und zwar wahrscheinlich im Zusammenhang mit dem wachsenden Einfluss des Brahmanismus, heute Hinduismus genannt. In den Upanishaden 10 – auch wenn dort die Ausdrücke endgültige und alltägliche Wahrheit nicht gebraucht werden – ist viel die Rede von Brahma, der endgültigen Wirklichkeit, von Gott, von der unteilbaren Einheit des Seins, und zwar manchmal im Zusammenhang mit göttlichem Bewusstsein, nämlich der endgültigen Wirklichkeit, von der wir entfremdet und abgeschnitten sind, weil wir von den Illusionen der Ausdifferenzierung und Vielfalt verführt worden sind. Als Buddhisten begannen, von zwei Wahrheiten zu sprechen, haben sie genau diese Art des Denkens übernommen: Es gibt eine endgültige Wahrheit, wir könnten sie Leere nennen, oder Geist – Buddhisten gebrauchen das Wort „Gott“ eher nicht, aber sie führten zahlreiche Ersatzbegriffe ein: Nicht-Dualität usw. Jedenfalls wird dieser Erfahrung ein besonderer ontologischer Status zugesprochen, sie wird als wahrer und wirklicher angesehen als die Welt der Illusionen, die wir mit unseren Sinnen wahrnehmen. Da gibt es dann also eine Sprache – endgültige Wahrheit vs. alltägliche Wahrheit – die sehr gut zur normativen Art religiösen Denkens passt. Das ist möglicherweise ein Grund für diese Änderung der Begriffe, durch die Buddhismus zu einer weiteren indischen Religion umgeformt wurde. Ich meine, es könnte noch einen anderen Grund geben, nämlich: sobald ein gedankliches Modell von zwei Wahrheiten entwickelt ist, sind theoretische Grundlagen für eine Struktur von Autorität und Macht geschaffen. Es legitimiert bestimmte Leute – nämlich die, die Zugang zu dieser endgültigen Wahrheit gefunden haben, die Erleuchteten, im Gegensatz zu jenen, die wie wir in alltäglicher Wahrheit stecken geblieben sind und nicht wissen, worum es wirklich geht. Ich vermute, dass es zwischen der Entwicklung religiösen Denkens und der Entwicklung machtvoller religiöser Institutionen Parallelen gibt. Wer die Macht hat, ist zufällig auch der, der die Wahrheit kennt. Wer keine Macht hat, kennt die Wahrheit nicht und muss sich nach jenen richten, die Macht haben, um möglicherweise Zugang zur Wahrheit zu erlangen. Das ist eine Situation, typischerweise vergleichbar mit dem Christentum vor der Reformation: der Priester oder die buddhistischen Lehrer sind die Vermittler, die die tiefe Wahrheit uns Durchschnittsgläubigen zugänglich machen. Dieser Zugang erreicht im tibetischen Buddhismus seinen Höhepunkt. Ein Lama wird als Buddha betrachtet; an einem Lama kann es nichts Falsches geben, er lebt direkt und ständig in der endgültigen Wirklichkeit von shunyata, der Leere, und wenn wir denselben Zustand erreichen wollen, müssen wir uns der Autorität dieser Person unterwerfen. Ich glaube, die Entwicklung von Macht lässt sich von der Entwicklung von Dogmen nicht trennen, die beiden gehen Hand in Hand. Bemerkenswert an den frühbuddhistischen Texten ist, dass sie keine ontologischen Theorien als Basis für hierarchische Macht anbieten, sondern ein völlig egalitäres System. Die Sangha besteht aus Mönchen, Nonnen und männlichen und weiblichen Laien. Sie alle sind fähig, Erwachen zu erreichen und die vier Aufgaben zu praktizieren. Buddha hat vor seinem Tod keinen Nachfolger bestimmt, sondern sagt anstatt dessen: der Dharma wird euer Lehrer sein. Er stellt sich eine Gemeinschaft vor, die von der Autorität einer nicht persönlichen Menge von Gesetzen geführt wird – Dharma bedeutet Gesetz, oder Prinzip, oder Wert, oder Praxis. Dieses Bild unterscheidet sich sehr davon, wie der Buddhismus sich als Institution entwickelt hat. In manchen Traditionen bedeutet Sangha: Mönche und Nonnen, aber das findet sich in den frühen Texten nirgends. So wird die Gemeinschaft von einer professionellen Elite bestimmt. Haltet mich jetzt bitte nicht für einen Kritiker von Mönchen und Nonnen; viele bewundere ich sehr. Hier geht es um die allgemeinen historischen Strukturen. Wenn wir uns also diesen frühen Texten zuwenden, kommt es mir vor, dass wir Perspektiven kennenlernen, die der Buddhismus irgendwie vergessen, vielleicht auch unterdrückt, vielleicht zu heikel gefunden hat, um damit umzugehen. Mir ist natürlich klar, dass jede religiöse Tradition, die in der Welt überleben will, unvermeidlich Kompromisse machen muss. Dafür brauchen wir nicht weit zu gehen: denkt an den Sohn eines Zimmermanns, der mit ein paar Freunden am See Genesareth lebte, und dann an den Vatikan. Das heißt nicht, dass da alles schief gelaufen ist, aber es zeigt, dass es hier einen fast unvermeidlichen Konflikt zwischen dem Gelübde der Armut und dem Leben in einem goldenen Palast gibt. Ich halte Papst Franziskus und auch Ratzinger für gute Leute, aber sie sind in einem System gefangen, das es ihnen sehr schwer macht, viel zu bewirken. Institutionalisierung ist paradoxerweise eine enorme Einschränkung für alle Arten von Veränderung. Buddhismus ist in genau derselben Lage: er neigt zu Konservativismus und dem Festhalten an Macht und Autorität. Was heißt das nun? Es könnte sein, dass wir einen Punkt erreicht haben, an dem wir einfach die ganze Geschichte der Traditionen mit ihren Doktrinen und Philosophien und Institutionen und Machtstrukturen beiseite stellen und komplett neu anfangen müssen. Es gibt da die wichtige Frage, wie wir uns dabei organisieren, und auch, wie sehr wir bereit sind, Vieles los zu lassen, was Tradition uns gelehrt hat, und Elemente, die in Vergessenheit geraten sind, wiederherzustellen. Und mit diesen frühen Texten, die mir so wichtig sind, geraten wir an etwas sehr Ursprüngliches. Eigenartig daran ist: je weiter man zurückgeht, desto radikaler werden die Lehren. Und das bedeutet: es geht an die Wurzeln, aber auch im konventionellen Sinn von Provokation, Herausforderung und Verunsicherung. Da gibt es auch einen Aspekt, der mich ein wenig unangenehm berührt, ich zitiere den poetischen Text :
…er lässt eine Position los, ohne eine andere einzunehmen. Er ist nicht dadurch definiert, was er weiß, und er schließt sich auch nicht einer Gruppe von Sektierern an.
Das ist natürlich die andere Versuchung, dass wir zu Rebellen werden, dass säkularer Buddhismus eine Gruppe von Sektierern wird. Ich denke, bei der Entwicklung von Gemeinschaften des Dissens ist viel Vorsicht nötig – wir werden nicht automatisch von der Denkweise derer befreit, deren Ansichten wir zurückweisen. Das ist die Geschichte des Widerspruchs: wenn der Widersprechende erfolgreich ist, wird er zum nächsten Establishment, und das löst dann eine andere Art von Dissens aus…das ist möglicherweise unvermeidlich in der Dialektik der Geschichte, wenn wir diesen überholten Ausdruck noch gebrauchen können . Aber wie können wir leben, ohne eine Haltung einzunehmen? Das ist die Frage, zu der ich immer wieder zurückkomme und für die ich keine fertige Antwort parat habe. Wie hören wir solche poetischen Texte und wie setzen wir sie in die Praxis um? Sie selbst geben uns überhaupt keine Anweisungen. Keine Meditationsanleitungen, keine Ratschläge, keine Moral, keine Ethik…Diese Begriffe kommen überhaupt nur vor, wenn vor ihnen gewarnt wird:
Der Weise ist nicht verstrickt in Regeln, Einstellungen, Ideen…
Das ist ziemlich verunsichernd, finde ich, es gibt nicht mehr viel, woran man sich festhalten kann. Aber genau das suchen wir: etwas zum Festhalten, einen sicheren Ort. Der Begriff Verlangen, der sich meist auf gefühlsmäßiges Verlangen bezieht, bedeutet auch: Verlangen nach Standpunkten; die Sehnsucht nach etwas, woran man glauben kann, nach etwas, worauf man sich immer wieder als wahr beziehen kann. Buddhismus, zum Beispiel. Aber das scheint nicht der Weg zu sein.
Ich denke, dass diese Texte mehr Poesie sind als didaktische Prosa. Sie wollen uns etwas zeigen, nicht etwas erzählen, während in der Entwicklung religiöser Traditionen das Zeigen oft durch Erzählen ersetzt wird, mit anderen Worten: der Tradition von Kommentaren, die dir erzählen, was gemeint ist. Denkt an die frühen Zen-Koans: sie sind wunderbare Beispiele des Zeigens: Lehrer und Schüler tauschen etwas aus, und es wird etwas gezeigt. In Kommentaren geht es darum, die Deutungsmacht zu haben.
Was wir beim Lesen dieser Texte tun können, ist uns einfach in der radikalen Offenheit, die sich hier zeigt, niederzulassen und uns gleichzeitig zu fragen, wie wir unter einer solchen Perspektive leben könnten – ein Leben ohne Überzeugungen. Ich lese den Text – über den ich hier nicht viel gesagt habe – einfach noch einmal:
Wer sich auf endgültige Überzeugungen versteift und sie als unumstößlich präsentiert, erklärt damit alle anderen Sichtweisen für unterlegen. Er hat das Debattieren nicht überwunden und übt es für seinen eigenen Vorteil. Unter diesem Aspekt hält er an Sichtweisen, Worten, Richtlinien und Ideen fest, und alles andere hält er für niedrig. Kenner sind der Meinung, dass er andere schlecht macht, weil er sich selbst gefesselt hat.
Ein Bettelmönch verfängt sich nicht in Standpunkten, Worten, Ideen oder Richtlinien. Eine Überzeugung, die auf Wissen basiert, entwickelt er nicht. Weder beansprucht er, gleichwertig zu sein, noch hält er sich für überlegen oder unterlegen. Er lässt eine Position los, ohne eine andere einzunehmen.
Er ist nicht dadurch definiert, was er weiß, und er schließt sich auch nicht einer Gruppe von Sektierern an. Er nimmt überhaupt keinen Standpunkt ein. Er lässt sich nicht mit Worten wie: „Es ist“, und „Es ist nicht“, oder „diese Welt“ und „die nächste Welt“ in blinde Bündnisse locken. Das Engagement, das Menschen dazu bringt, abzuwägen und an Lehren festzuhalten, fehlt ihm. In seiner Wahrnehmung von Sichtweisen, Worten und Ideen gibt es keine Spuren von Sicherung. Wer kann einen Priester beurteilen, der nicht an Überzeugungen festhält? Mit welchem Maßstab könnte man ihn messen?
Er denkt sich nichts aus, und er schmeichelt nicht. Er hat keine Lehren übernommen. Diesen Priester kannst du nicht an seinen Richtlinien erkennen. Er hat Rahmen gesprengt, ohne irgendetwas zu haben, worauf er zurückgreifen könnte.
- s.: www.dharmaseed.org/teacher/169/talk/20098/ ↩
- die Verse sind nach der Übersetzung Stephen Batchelors in Prosa aus dem Englischen übertragen ↩
- Pali-Kanon, Samyutta Nikaya 36.21 ↩
- aus Samyutta Nikaya 22 ↩
- Im englischen Original: prescriptive, not descriptive, E.G. ↩
- über die inhaltlichen Unterschiede dieser beiden buddhistischen Schulen s. http://www.berzinarchives.com/web/en/archives/study/comparison_buddhist_traditions/theravada_hinayana_mahayana/intro_comparison_hinayana_mahayana.html, über die die zeitliche Abfolge und regionale Verbreitung s.: http://en.wikipedia.org/wiki/Timeline_of_Buddhism ↩
- Im Mahayana-Buddhismus werden Bodhisattvas als nach höchster Erkenntnis strebende Wesen angesehen, die Buddhaschaft anstreben bzw. in sich selbst realisieren, um sie zum Heil aller lebenden Wesen einzusetzen. E.G. ↩
- aus der Paramatthaka Sutta ↩
- ein anderer Ausdruck für das pejorative „Hinayana“ ↩
- Sammlung philosophischer Texte des Hinduismus ↩
Danke für diesen sehr interessanten Vortrag von Batchelor!
Aber ich wundere mich, daß er Aussagen in diesen sehr wichtigen Texten zu sehr generalisiert, als gäbe es nicht weitere Reden, die der frühe Buddhismus überlieferte, die uns Mittel und Wege zeigen, wie wir in Weisheit und Mitgefühl wachsen können. Warum sagte er in diesem Vortrag, Gautama Buddha ging es nicht um eine Ethik, eine Moral, eine bestimmte Haltung? Könnte es nicht sein, daß diese Rede vor allem die Reaktion auf die endlosen Dispute anderer Wanderphilosophen über metaphysische Fragen war? Ich denke, Gautama Buddha ging es darum, wie wir ein gutes Leben im Hier und Jetzt führen können, und nicht darum, metapysische Fragen zu beantworten. Er bezog durchaus Postion zu Fragen der richtigen Lebensführung!
Liebe Chrisja,
ich sehe wie Du die Paramatthaka-Sutta als „eine Reaktion auf die endlosen Dispute anderer Wanderphilosophen“. Aber Deine Formulierung „Gotama bezog Position“ würde ich ersetzen durch: er äußerte sich. Was Batchelor hier herausarbeitet ist: Gotama verallgemeinerte nicht. Bei seinen Empfehlungen zu moralischem Verhalten achtete er immer auf den Kontext. Um das zu illustrieren benutzt Batchelor das Beispiel der Sivaka-Sutta: meine Erfahrungen sind manchmal, aber nicht immer Folgen meiner früheren Taten. Ein anderes Beispiel wäre Gotamas Haltung zum Essen: er empfiehlt, kein Fleisch zu essen, aber er nennt Ausnahmen, die von den Rahmenbedingungen abhängen.
Deinem Satz: „Gautama Buddha ging es darum, wie wir ein gutes Leben im Hier und Jetzt führen können, und nicht darum, metaphysische Fragen zu beantworten.“ stimme ich natürlich unbedingt zu.
Du schreibst: Warum sagte er (Batchelor) in diesem Vortrag, Gautama Buddha ging es nicht um eine Ethik, eine Moral, eine bestimmte Haltung? Beziehst Du Dich da auf seine Aussage gegen Ende des Vortrags: …Keine Meditationsanleitungen, keine Ratschläge, keine Moral, keine Ethik…Ich denke, dass Batchelor sich hier auf den Text der Sutta bezieht, die er interpretiert; aber dass er das nicht als Gotamas Position verallgemeinern würde. Er spricht ja ausführlich von den je nach Situation verschiedenen Werkzeugen, die wir anwenden lernen sollen. Gotama hat Meditationsanleitungen gegeben, und Ratschläge, und er hat viele Vorschläge für moralisches Verhalten gemacht. Wenn wir – wie Philosophen das tun – Ethik als die Wissenschaft von der Moral sehen, dann ging es Gotama um moralisches Handeln, nicht um Ethik.
einen herzlichen Gruß!
Evamaria
Stephen Batchelors Vortragsreihe über Atthaka Vagga ist im englischen Original zur Gänze veröffentlicht auf: http://www.secularbuddhism.org.nz, gemeinsam mit einem Study Guide von Christine Johnson, den sie für eine Veranstaltungsreihe in Tucson, Arizona im Herbst 2014 erarbeitet hat. Hier einige ihrer Fragen und Diskussionsanstöße:
– du könntest über die Frage nachdenken, ob ein Leben möglich ist, das auf Erfahrungen basiert, die du aus dir selber oder aus allgemein anerkanntem Wissen schöpfst, ohne irgendetwas hinzuzufügen, das darüber hinausgeht
– stimmst du Batchelor zu, dass metaphysische Annahmen verführerisch sind, weil sie nicht widerlegt werden können?
– Überleg dir ein Beispiel aus der Gegenwart, wie buddhistische gegenüber nicht-buddhistischen Überzeugungen vertreten werden. Was ist das Problem mit „buddhistischen“ Überzeugungen?
– Was hältst du von Batchelors Behauptung, das „Modell der beiden Wahrheiten“ sei strukturelle Voraussetzung für religiöse Hierarchie?
– Was denkst du über Batchelors Wunsch, die ganze Geschichte buddhistischer Tradition, ihre Doktrinen, Philosophien und Institutionen beiseite zu stellen und ganz neu anzufangen?
– Können wir den Dharma praktizieren und studieren, ohne eine Haltung einzunehmen? Wenn ja, wie könnte das gehen?
Nein, ich finde, das ist gar keine gute Idee, die ganze buddhistische Tradition beiseite zu stellen, und ganz neu anzufangen.
Ich bin ungläubig, ich glaube nicht mal daran, daß es vollkommene Erleuchtung gibt, und daß Gautama Buddha vollkommen erleuchtet war. Trotzdem fühle ich mich als Buddhistin, d.h., ich habe mich der buddhistischen Tradition angeschlossen, sie wurde mir zur seelisch-geistigen Heimat, auch wenn ich mit vielem nicht einverstanden bin. Die alten Texte und Philosophien bereichern mich, und inspirieren mich immer wieder aufs Neue! (Nur das, was mich anspricht, nehme ich in mich auf.) Sie begleiten mich schon so lange durch mein Leben, sie werden mich bis zum Ende begleiten, und stärken.
Es macht mir Freude, an der Weiterentwicklung einer Tradition mitzuwirken!
Die buddhistische Tradition verfügt über einen ungeheuren Reichtum tradierter Erfahrungen, Erkenntnisse, Meditationsmethoden und Philosophien, es wäre sehr schade, wenn säkulare BuddhistInnen das Kennenlernen dieser Traditionen als überflüssig erachten würden. Ich habe von allen Traditionen Wichtiges für mich lernen können.
Für mich sind die Texte dieser Traditionen auch deshalb so wichtig, weil ich immer eine Abneigung gegen eine Lehrerin-Schülerin-Beziehungen hatte, und meinen eigenen Weg suchte.
In einem weiteren Punkt möchte ich Batchelor widersprechen:
Nach allem, was ich weiß, lehnten die Theravadin (die leider noch immer von den Vajrayanis als Hinayanis abgewertet werden) die Mahayanis zunächst wegen ihres Glaubens, daß jeder ein Buddha werden kann, vehement ab. Sie sind also mitverantwortlich dafür, daß sie von den Mahayanis im Verlaufe der Auseinandersetzungen später abgewertet wurden, nachdem die Mahayanis für ihre Reformbewegung (auch Laien und „Hausleute“ konnten nun Buddhas werden) genug Anhänger fanden. Aus meiner Sicht ist das Mahayana durchaus eine Weiterentwicklung des ursprünglichen Buddhismus in wichtigen Bereichen!
Andererseits werden dadurch aber die Texte des Palikanon keineswegs überflüssig. Für mich sind sind sie das Fundament geblieben, auch wenn ich das Zen von Thich Nhat Hanh und Joan Halifax (Mahayana) z.Bsp. als Verwirklichung dessen empfinde, was Gautama Buddha lehrte.
Auch die Texte der Vajrayanis möchte ich nicht missen, z.Bsp. die Verse von Milarepa, und die Anweisungen zu hilfreichen Visualisierungen! Und die inspirierenden Biographien der Mönche und Nonnen, die viele Jahre in Höhlen meditierten.
Alle Institutionen zehren die Ereignisse auf, auf denen sie gegründet waren. Dieser Satz von Hanna Arendt, den sie in anderem Zusammenhang formuliert hat, begleitet mich seit langem. In diesem Sinne verstehe ich Stephen Batchelors Bedenken gegenüber institutionalisiertem Buddhismus und auch die von Winton Higgins, in einigen Texten auf unserer Website nachzulesen. Batchelor schreibt davon, …einfach die ganze Geschichte der Traditionen mit ihren Doktrinen und Philosophien und Institutionen und Machtstrukturen beiseite zu stellen und komplett neu anzufangen. Ich will das differenzieren: ich denke nicht, dass gemeint ist, die Traditionen zu entwerten, sondern die buddhistischen Institutionen mit ihren hierarchischen Strukturen, die aus den Traditionen und parallel zu ihnen gewachsen sind. Hat Buddha nicht genau gewusst, was er tat bzw. eben nicht tat, als er keinen Nachfolger bestellte?
Schlüsselbegriff ist für mich Macht. Wer mit seiner inneren Einstellung, sei sie philosophisch, politisch oder sonstwie gefärbt, stark Position bezieht, ist immer in Gefahr, Macht in unangemessener Weise auszuüben. Meinung verwendet Gewalt, schrieb Blaise Pascal, und Humberto Maturana formulierte: Gewalt ist, eine Meinung in einer Weise für wahr halten, dass die Meinung der anderen unwahr ist und sich ändern muss.
Im Übrigen hat Batchelor sich sein Leben lang immer wieder mit Texten der Tradition auseinandergesetzt, die nicht aus dem Pali-Kanon stammen (Nagarjuna, Shantideva etc.). Er spricht bis heute davon, dass er religiös sei (Higgins würde es säkulare Religion nennen), und auch in diesem Artikel formuliert er seine Wertschätzung gegenüber Mönchen und Nonnen. Joan Halifax, mit der er auch gemeinsam öffentlich auftritt, nennt er seine Freundin.
Für mich formuliert er hier eine Art Koan: Wie können wir uns in demokratischen Strukturen organisieren, um das Gedankengut zu pflegen, das uns wichtig ist, uns geprägt hat und das wir weiterentwickeln wollen, in dem gleichzeitigen Wissen, dass Institutionalisierung paradoxerweise eine enorme Einschränkung für alle Arten von Veränderung bedeutet?
Dass er auf dieses Paradox keine Antwort hat, nimmt mich für ihn ein.
Hallo liebe säkulare Dharma-praktizierende,
macht euch das Leben nicht noch komplizierter und schwerer als
es ist.
Zum letzten Beitrag auf eurem Blog:
Wie man das Leben ohne Überzeugungen lebt.
Ein Vortrag von Stephen Batchelor, basierend auf frühen Texten aus
dem Pali-Kanon. Mit der Fragestellung:
Wie soll denn das gehen?
Ganz einfach, es geht nicht ohne Überzeugungen.
Menschenwürde, Menschenrechte und theologisch-freie Ethik sind in
unserer heutigen Zeit unabdingbar für eine humanistisch funktionierende
Gesellschaft.
Ich möchte bei der Gelegenheit darauf hinweisen, dass die Interpretation
der ältesten buddhistischen Texte aus dem Pali-Kanon, auch bei den säkularen
Buddhisten zu stark im Vordergrund steht, so dass daraus schon wieder
ein Dogma entsteht. Keiner von uns weiß, was Buddha wirklich alles
damals gesagt hat oder nicht. Auch wenn es in den ältesten überlieferten Texten
geschrieben worden ist, können wir davon ausgehen, dass dort keine authentische
Wiedergabe drin steht. Zusätzlich können wir davon ausgehen, dass Fälschungen
stattgefunden haben, dass Aberglaubens-Inhalte dazu gefügt worden sind. Und
darum geht es, wir sollten uns von diesen Aberglaubens-Inhalten befreien bzw.
reformieren.
Wir sollten einen praktizierbaren buddhistischen Weg gehen, der hilft, weniger
Leiden in dieser heutigen Welt verursacht und eine humanistisch funktionierende
Gesellschaft schafft.
Genau das beinhalten Buddhas aberglaubensfreie, zeitlose, hilfreiche und
wirksame Weisheiten.
Du sprichst mir aus dem Herzen!!
In der Meditation ist es hilfreich, sich immer wieder von allem zu lösen, also auch von allenTraditionen, Ansichten und Einstellungen. Das Zen-Ideal der völlig offenen, wertfreien Haltung ist förderlich bei unserem alltäglichen Tun.
Ich vermute, in diesem Vortrag ging es Batchelor primär darum.
Geht es jedoch um engagiertes Handeln, sind angemessene Einstellungen eine conditio sine qua non. Nur wenn Meditation und bewußtes Leben im Hier und Jetzt mich fähiger machen zum Engagement, sind sie Zeichen eines erwachten Lebens.
Stephen Batchelors Bedenken, gegenüber den institutionalisierten Buddhismus,
habe ich genauso. Auch ich bin dafür , einfach die ganze Geschichte der Tradi-
tionen mit ihren Doktrinen , Philosophien , Aberglauben und Machtstrukturen
beiseite zu stellen und komplett neu anzufangen ; es wäre sinnvoll und notwendig!
Die neuen Strukturen dieses reformierten Buddhismus müssten dann so demo-
kratisch praktiziert werden , dass durch eine dauerhaft wachsame Reflexion eine
Institutionalisierung verhindert wird.
Wer nicht aus der Geschichte lernt , wird ihre Fehler wiederholen.