Der Dharma ist gut für uns, aber er ist kein Wellnessprogramm
Martine und Stephen Batchelor im österreichischen Scheibbs

Das „study and meditation-seminar“ mit Martine und Stephen ist wie in früheren Jahren anregend und erfrischend. Schon am ersten Abend gelingt es den beiden, eine Atmosphäre herzustellen, die ich als gleichzeitig konzentriert, ernsthaft und entspannt empfinde. In dem mit knapp 40 Personen gut gefüllten Haus verbringen Menschen aus Ungarn, der Slowakei, Italien, Russland, Deutschland und Österreich ein paar Tage meditierend und zuhörend, manchmal auch nachfragend und kommentierend, aber meist in freundlichem Schweigen. Buddhistisches Zentrum Martine spricht vor allem über Meditation und über ihre beiden Hauptaspekte: Konzentration (Samatha) und Einsicht (Vipassana). Immer wieder betont sie, ein/e jede/r von uns sollte aus dem vielfältigen Angebot, das sie in Praxis und Theorie vorstellt 1, auswählen, was persönlich am besten passt. Durch die Flexibilität dieses Angebots werden unser Verständnis und unser Gespür geschärft und die Verantwortung für die Praxis in unsere eigenen Hände gelegt. Martine und Stephen BatchelorStephens Vorträge möchte ich kurz zusammenfassen:

In unserer Praxis geht es nicht darum, persönliche Ziele, wie „Erleuchtung“ zu erreichen. Es geht darum, unser ganzes Leben neu „aufzusetzen“, einen neuen, anderen Zugang zu finden. In der technologischen Weltsicht, an die wir uns gewöhnt haben, tendieren wir zu der Meinung, die Praxis des Dharma wäre ein Mittel, Probleme zu lösen. Eine Wissenschaft vom Leben ist Buddhismus aber nicht. Im Dharma geht es darum, uns unserer eigenen Existenz und ihren Widersprüchen zu stellen. Wie wird man ein/e Übende/r? Man trifft eine Entscheidung, anders zu leben, nicht immer wieder im Kreis seiner Konditionierungen zu gehen – nichts anderes ist Samsara, gleichbedeutend mit „Hölle“. Es gibt einen Moment des Entsagens – Buddha nannte es: das Heim verlassen und in die Heimatlosigkeit gehen. Die Legende, wie der junge Siddharta Gotama der Krankheit, dem Alter und dem Tod begegnet, ist ein Mythos von starker Wirkung; er geht uns alle an, aber er sitzt uns nicht tief genug in den Knochen. Wir wehren uns stark dagegen, und Routine hat uns dann von neuem im Griff. Hilfreich kann sein, sich immer wieder zu verpflichten. Dazu gibt es in der buddhistischen Tradition die „vier Gelübde“:

– die Lebewesen sind zahllos – ich gelobe, sie alle zu befreien – die Versuchungen sind unerschöpflich – ich gelobe, sie alle zu überwinden – die Tore zum Dharma sind unüberschaubar – ich gelobe, sie alle zu durchschreiten – der Weg des Buddha ist unvergleichlich – ich gelobe, ihn zu gehen

Buchstäblich sind diese Gelübde unmöglich zu erfüllen, aber sie lenken unsere Aufmerksamkeit auf die paradoxe Natur unserer Praxis zwischen Bemühen und Widerstreben. Buddha gebraucht das Bild vom Fußabdruck eines Elefanten für das, was alle Aspekte des Dharma umfasst: damit meint er einerseits „apamada“ – im Englischen „care“: Fürsorge und Sorgfalt, andererseits die „vier Aufgaben“ (in orthodoxer Überlieferung die „vier Noblen Wahrheiten“ genannt): 1. Aufgabe: „So ist das Leben“ – dieser Satz, schließt eine tragische Dimension ein. Buddha fordert uns auf: umarme das Leben. Das ist es, was wir in der Meditation üben. In spontaner Reaktivität zeigen wir oft Gier, Hass und Ichbezogenheit – und es geht um ein Leben ohne diese Muster. Um das Leben zu umarmen, brauchen wir sowohl Weisheit als auch Mitgefühl. Daraus ergibt sich das erste der vier Gelübde: alle Wesen zu befreien. 2. Aufgabe: Lass los: Gier, Hass und Ichbezogenheit. Buddha nennt diese drei „Feuer“. Wenn wir spontan mit diesen Mustern reagieren, sollen wir uns deshalb nicht schuldig fühlen – wir sollen ihnen nur nicht unbesonnen nachgeben. Diese Art von Reaktivität hindert uns daran, voll zu leben. Meditation kann einen Raum schaffen, in dem diese Feuer ausbrennen können. Wir wissen ja: alles, was entsteht, vergeht. Wir können Gier, Hass und Ichbezogenheit in uns beobachten, und brauchen nicht ihre Opfer zu werden. In diesem Sinn ist das zweite Gelübde gemeint: alle Versuchungen zu überwinden. Buddha sagt über den Dharma: er ist klar sichtbar, unmittelbar, einladend, erhebend und kann von Weisen persönlich erfahren werden. Er macht klar, dass wir Gier, Hass und Ichbezogenheit sowie deren Abwesenheit in uns wahrnehmen können. Das heißt: wir kennen diesen Zustand des Nichtausgeliefertseins – und nichts anders ist für Buddha „Nirvana“. Nirvana ist immer da, wenn wir nicht Opfer unserer Reaktivität sind. Nirvana ist kein fremder Zustand, den wir vielleicht irgendwann erreichen – wir kennen ihn schon. Und der Dharma ist nichts anderes als das. Dieser Zustand ist unmittelbar – es braucht keine lange Zeitspanne, um ihn zu erreichen. Wir erleben ihn immer dann, wenn keine Kräfte wirksam sind, die uns auf unsere Eigeninteressen reduzieren. Hehre Erhabenheit wurde dem Begriff „Nirvana“ erst in späteren Texten verliehen. Nirvana – oder: der Dharma – ist klar sichtbar; das bedeutet aber nicht, dass es einfach wäre, ihn zu sehen. 3. Aufgabe: Sieh, wie Reaktivität endet. Nirvana tritt vielleicht nur für ein paar Momente ein. Es geht darum, jene Augenblicke im Leben wertzuschätzen und zu voller Geltung zu bringen, in denen wir nicht reaktiven Mustern folgen. Oft wissen wir nicht, wie wir das tun sollen. Buddha sagt: „Leere“ ist der Raum, in dem wir wohnen sollen. Dieser Gedanke ist in orthodoxer Tradition in den Hintergrund getreten und „Leere“ wurde zu einer absoluten Wahrheit. Leere ist Nirvana, und der buddhistische Philosoph Nagarjuna sagt darüber: Leere ist das Aufgeben von Meinungen. Nirvana ist auch ein Synonym für „Todlosigkeit“: eine Praxis, die uns von den Kräften des Todes befreit und es uns möglich macht, zu gedeihen. Im dritten Gelübde geht es um die Tore zum Dharma – sie eröffnen die Räume von Nirvana und Leere. In einem nicht-reaktiven Raum zu wohnen, wie er hier gemeint ist, bedeutet einfach, sich laufend darum zu bemühen, sich selbst und anderen kein Übel zuzufügen. Und dabei ist jede Lebenssituation unsere Lehrerin. Die 4. Aufgabe: bahne dir einen Pfad – folgt aus alldem. Nirvana ist nicht das Ende eines Prozesses, sondern sein Mittelpunkt, von dem aus Handeln beginnt. Es ist der Zustand, der Möglichkeiten eröffnet. Ein Pfad ermöglicht es uns, uns ohne Hindernisse zu bewegen. Ein Pfad hat etwas Prozesshaftes – er wurde von anderen eröffnet und wir – indem wir ihn gehen – halten ihn für Nachkommende offen. Buddha nannte dies auch: in den Strom eintreten; dieser Strom ist der „achtfache Pfad“. Und er betont: jetzt seid ihr nicht mehr von anderen abhängig. Wörtlich sagte Buddha: „Wenn ihr in die Welt geht, sollen nicht zwei von euch demselben Weg folgen“. Genau das tun wir in der temporären Sangha dieses Retreats. Unser Handeln soll nicht mehr von Gesetzen bestimmt sein, sondern von Situationen. Es geht nicht darum, das Richtige zu tun, sondern aus Liebe zu handeln. Das kann auch riskant werden; jedenfalls hat es nichts mit Lohn und Strafe zu tun. Es geht um angemessenes Handeln. Und so ist das vierte Gelübde zu verstehen: Buddhas Weg zu gehen. Das eröffnet uns die Möglichkeit zu einem Leben in Fülle. Als ein berühmter Ausspruch des Buddha ist überliefert: Ich lehre „Dukkha“ und das Ende von Dukkha. Nun ist klar: solange wir in diesem Körper leben, gibt es auch Leiden für uns. Buddha lehrt uns, damit umzugehen, indem wir uns für alles Lebendige öffnen. Vielleicht hieß sein Satz ursprünglich: Ich lehre Dukkha und das Ende von Reaktivität, also von Gier, Hass und Ichbezogenheit. Die Praxis kann unsere Sicht der Welt verändern: die Dinge können strahlender, lebendiger für uns werden. Reaktivität hat die Eigenschaft, uns unempfindlich zu machen – die Welt wird trüb und flach und langweilig. Zur Zeit wird oft von Buddhismus als der Wissenschaft vom Geist gesprochen und geschrieben. Was Beschäftigung mit dem Dharma bewirken kann, geht darüber hinaus: wie große Kunstwerke uns direkt zu Herzen gehen und ansprechen, auch wenn es um Schmerzhaftes geht, so kann es auch Buddhas Lehre. Elemente dieser Lehre – wie „Achtsamkeit“ – haben in den letzten Jahrzehnten den Weg in den Mainstream westlichen Denkens gefunden. Daran anschließend geht es heute darum, eine Kultur des Dharma neu zu entwickeln, in einer Gesellschaft, die auf Nicht-Gier, Nicht-Hass, und Nicht-Ichbezogenheit basiert.

  1. s. auch in ihrem Buch „Meditation“ und auf dieser Website die Seite über „Meditation“

5 Antworten auf „Der Dharma ist gut für uns, aber er ist kein Wellnessprogramm
Martine und Stephen Batchelor im österreichischen Scheibbs“

  1. Besonders spannend fand ich auch Stephens Vergleich der Dharma-Praxis mit der eines Künstlers oder einer Künstlerin: Auch da geht es nicht darum, Wahrheit zu finden oder Schönheit zu erschaffen, sondern eine authentische, vielleicht neue, Sicht auf die Welt zu eröffnen. Und das ebenfalls auf Basis einer Auseinandersetzung mit dem Leben und von einem Raum aus, der nicht von Reaktivität geprägt ist. Höhepunkte der Kunst sind für Stephen solche, in denen auch bei der Rezipientin oder beim Rezipienten ein Gefühl für das „Sublime“ erahnbar wird, die ganze flirrende Pracht und gleichzeitige Tragik des Lebens, die dem lateinischen Wortursprung nach „unter der Schwelle“ spürbar werden. Reaktivität mag uns ein Gefühl der Sicherheit geben, wirkt aber auch als Anästhetikum, und stumpft uns nicht nur für die Nöte anderer ab, die nicht zu „uns“ gehören, sondern auch im Wortsinn gegenüber der Ästhetik, des Sublimen. Eine ästhetische Praxis, wie sie z.B. auch von den ostasiatischen buddhistischen Traditionen gepflegt wird, kann daher für Stephen durchaus eine Dharma-Praxis sein.

  2. Danke, Evamaria, daß Du diesen Text übersetzt und für uns zusammengefasst hast.
    Er zeigt den Dharma als „klar sichtbar, unmittelbar, einladend, erhebend…“
    Fühle mich heute, am Sonntagmorgen, durch ihn erhoben, beglückt und inspiriert!
    Danke!

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