Das Selbst ist kein Ding, eher ein Vorgang

Philosophie und Neurowissenschaften haben sich in den letzten Jahren intensiv mit dem „Selbst“ beschäftigt. Zwei Ansätze möchte ich als Beispiele nennen und die Positionen skizzieren.   Julian-Baggini-breaking-the-law-by-knowingly-evading-tax-is-always-immoral-Shrewsbury-AccountantsDer Engländer Julian Baggini bringt in seinem Buch „The Ego Trick“ 1 viele Beispiele dafür, wie sich das, was wir „Selbst“ zu nennen gewohnt sind, im Laufe des Lebens wandelt. Besonders deutlich macht er das anhand der Lebensgeschichten von Menschen, die sich einer Geschlechtsumwandlung unterzogen haben. Als Gewährsmann für die buddhistische Tradition des anatta, des „Nicht-Selbst“, hat er Stephen Batchelor befragt. Dieser beschreibt zuerst atman, einen Begriff, der die Philosophie der Brahmanen zu Buddhas Lebenszeit beherrscht hätte. Damit sei eine Art entpersönlichtes Selbst gemeint gewesen, das sich im Augenblick des Todes mit brahman, dem Göttlichen, vereinige. Und dagegen hätte Buddha sich gewandt; er hätte sich mit der Welt der wahrnehmbaren Erscheinungen beschäftigt und nichts „Absolutes“ über diese hinaus angenommen, sagt Batchelor. Buddha hätte also diese eingeschränkte Sichtweise von „Selbst“ abgelehnt, den Begriff aber im alltäglichen Sinn von dem, wofür wir uns halten, durchaus gebraucht. Batchelor erwähnt in diesem Zusammenhang Vers 80 aus dem Dhammapada 2, in dem der Buddha die Arbeit des Weisen am Selbst mit der Tätigkeit eines kundigen Handwerkers vergleicht – es ist also etwas, das wir schaffen 3. Baggini stellt fest, dass die Vorstellung von „Selbst“, wie sie in den meisten buddhistischen Schulen entwickelt wurde, mit den neuesten Erkenntnissen der Neurowissenschaften übereinstimme. Er vertritt die Position, dass das Selbst keine Illusion sei, wohl aber die Vorstellung von seiner unveränderlichen, unsterblichen Essenz. Was ohne dieses übrigbleibe, seien – in buddhistischer Terminologie – die fünf Daseinsfaktoren oder Skandhas: Körper, Gefühle, Wahrnehmungen, Geistesformationen 4 und Bewusstsein. wolkeBaggini vergleicht das Selbst mit einer Wolke: von weitem gesehen sehe es wie ein Objekt mit ziemlich klaren Konturen aus, doch je näher man komme, desto unschärfer werde es, bis man schließlich wahrnehme, dass es eine Ansammlung von Wassertropfen sei. Diese Realität zu kennen bedeute nicht, dass es deshalb anders aussehe oder sich anders anfühle. coque iphone 8 Mechanismen in unserem Bewusstsein ließen uns glauben, wir wären beständiger, als wir tatsächlich sind. Wir machten uns Illusionen darüber, was wir in Wirklichkeit sind.

thomas metzingerAuch der deutsche Philosoph und Bewusstseinsforscher Thomas Metzinger beschäftigt sich seit Jahren mit dem Begriff des „Selbst“ und hat dazu zahlreiche Veröffentlichungen vorgelegt. 5

Metzinger sagt: es gibt kein Ding, das „das“ Selbst ist. Was wir früher „das“ Selbst genannt haben, ist ein undurchschaubares und vergängliches Gewirr von Vorgängen, und nichts anderes macht uns Menschen eigentlich aus.

Er spricht von einem „Selbstmodell“ im menschlichen Gehirn, einer begrifflichen Hilfskonstuktion, die wir aber nicht als solche erfahren könnten. Daher hielten wir Menschen daran fest, so etwas wie einen „harten Kern“ zu haben. Wir hätten das Gefühl eines Selbst, aber das gehöre nur zu einem vom Gehirn erzeugten Modell. Zu uns gehöre der Körper, ein Volumen im Raum und eine Abgrenzung nach außen. Das Grundgefühl, das uns das Gehirn manchmal vermittle, sei: jemand zu sein. Da sei aber nichts Dauerhaftes, keine Seele oder Ähnliches, wie wir es uns immer vorstellten. Es sei eher eine Art vorübergehende Simulation. Im traumlosen Tiefschlaf zum Beispiel gebe es das nicht.

Metzinger nennt seine Grundidee einfach, bescheiden und ziemlich konservativ: Im philosophischen Denken sei die Annahme einer eigenständigen Einheit „Selbst“ verzichtbar, und das werde durch neue Forschungen der Neuro- und Kognitionswissenschaften bestätigt, wie er mit experimentellen Beispielen belegt. Sein Anliegen sei, auf begrifflicher Ebene die notwendigen und hinreichenden Bedingungen dafür herauszuarbeiten, dass in einem informationsverarbeitenden System – unserem Gehirn – ein Ich-Gefühl entsteht.

Er nennt das „Selbstmodell“ ein faszinierendes und hochkomplexes Gebilde, das in vielen wichtigen Schichten erst von außen erzeugt werde. Unsere Ich-Erfahrung werde intensiv beeinflusst von Gesellschaft und Kultur, in der wir leben. Deren Einflüsse nähmen wir in unsere gedachte Persönlichkeit auf, in unser Bild von uns selbst. Auf die Frage eines Interviewers, welchem Zweck diese Hilfskonstruktion „Selbstmodell“ diene, antwortet Metzinger:

…Offenbar hat uns ein Hang zum Wahn in der Evolution erfolgreicher gemacht. Selbsttäuschung lässt uns besser bluffen und vergangene Niederlagen vergessen, sie erhöht Motivation und Selbstvertrauen. Genauso scheint es vorteilhaft zu sein, unbeirrbar an die eigene Unsterblichkeit zu glauben – oder eben das Selbst als Ding und nicht als Vorgang anzusehen.

Es gebe dabei jedoch einen großen Nachteil:

…dass wir unter diesem Selbstmodell oft sehr leiden. Eigentlich ist es eine ziemlich perfide Erfindung von Mutter Natur. Denken Sie nur daran, wie verletzlich wir doch sind. Ständig versuchen wir, unser Selbstwertgefühl hochzuhalten, etwa in dem wir anderen die Anerkennung verweigern. Und es nutzt wenig, sich mit dem Verstand davon zu distanzieren: Sobald wir glauben, dass ein anderer Mensch uns missachtet, sind wir verletzt, wir verteidigen uns fast automatisch…

Für mein alltägliches Leben sehe ich keinen Anlass, mich zwischen der Einsicht relativer oder absoluter Überschätzung meines Selbst entscheiden zu müssen. Wichtiger scheint mir: wie lässt sich dieser Fiktion vom „harten Kern“, der irgendwo in mir verborgen sei, beikommen zugunsten des Bilds von Vorgängen in diesem Körper, der sich unaufhörlich verändert? Ein paar Anregungen dazu folgen im nächsten Eintrag.

  1. Die Originalausgabe erschien 2012. Auf https://www.youtube.com/watch?v=Q80MfH7xPPE steht ein kurzer, informativer Talk von Baggini darüber – mit deutschen Untertiteln
  2. Das Dhammapada ist eine Sammlung von Aussprüchen des Buddha, in denen Wichtiges aus seiner Lehre zusammengefasst ist
  3. s. den Blog-Eintrag „Stephen Batchelor über das Selbst“ auf dieser Website
  4. damit sind, vereinfacht gesagt, positive und negative Willensäußerungen wie Interessen, Sehnsüchte und Absichten gemeint
  5. Auch unter Nicht-Philosophen bekannt geworden ist sein Buch: Der Ego-Tunnel. Eine neue Philosophie des Selbst: Von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik. coque iphone Zusammenfassungen seiner Thesen finden sich in Interviews, z. B. in: http://www.zeit.de/campus/2012/02/sprechstunde-thomas-metzinger, in: http://www.heise.de/tp/artikel/36/36357/1.html und in diesem Video auf YouTube: https://www.youtube.com/watch?v=xLXhPgSKS3U.

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