Wie bin ich denn? So – oder doch vielleicht anders?
Wie unser Selbstbild unser Leben beeinflusst. 1. Teil
von Victor von der Heyde

strichmännchen1„Glaub nicht alles, was du denkst“, schreibt David Loy in einem kürzlich veröffentlichten Beitrag. Ohne die Geschichten, die wir uns selbst und anderen über uns selbst und die Welt erzählen, können wir nicht leben. 1 Es könnte aber hilfreich sein, wenn wir uns bewusst machen, dass alle Narrative Konstrukte sind, die auch umgebaut, anders beleuchtet, aus ungewohnten Blickwinkeln gesehen werden können. Unsere Geschichten und die Art, wie wir sie erzählen, können Dukkha in unserem Leben steigern oder verringern. Darüber spricht der australische Dharmalehrer Victor von der Heyde in dieser Rede 2:

Ein Element unserer Praxis ist, dass wir lernen können, Situationen und uns selbst anders als bisher zu sehen. Manchmal sind wir einfach festgefahren und sehen uns automatisch auf eine bestimmte Weise. Wir könnten uns doch einmal unseren eigenen Gefühlen und Reaktionen bewusst und einfühlsam zuwenden. Vielleicht kennt jemand von euch die folgende Geschichte von Shantideva, dem Mahayana-Lehrer aus dem 8. oder 9. Jahrhundert. Er sagte: Wenn du einen Grobian siehst, der einen Mann mit einem Stock prügelt, wem weist du Schuld zu? Dem Stock? Wahrscheinlich nicht, denn es gibt etwas, was den Stock antreibt. Beschuldigst du den Arm? Nein, denn es gibt etwas, was den Arm antreibt. Nennst du die Person schuldig? Nun, die Person hat viele Eigenschaften – wie wäre es, der Wut, die die Person und den Arm antreibt, die Schuld zu geben? Das ist eine neue Sichtweise. So beurteilt man nicht einen ganzen Menschen, sondern eine Eigenschaft, die man dabei bewusst getrennt von der „Persönlichkeit“ betrachtet. In unserer Praxis können wir uns die Idee von unserem „Selbst“ genauer ansehen: was schreiben wir unserem Ich zu, wie definieren wir uns? Das ist manchmal recht vage und nicht sehr bewusst, wir haben nur eine ungefähre Vorstellung und schauen uns das nicht so genau an. Das kann aber hilfreich sein, denn wie wir uns selber sehen, hat oft Auswirkungen darauf, was wir sonst noch wahrnehmen können. Ich gebe euch ein paar Beispiele:

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Ihr kennt den Begriff der ökologischen Schulden. Wenn du mehr als deinen fairen Anteil der begrenzten natürlichen Ressourcen verbrauchst, häufst du ein ökologisches Schuldenkonto an. Die meisten von uns tun das durch ihren Lebensstil. In einer Studie des Londoner Instituts für Psychoanalyse wurde festgestellt, dass Menschen sich damit nicht näher beschäftigen wollen, weil das ihr Selbstbild, sozial verantwortungsbewusst zu sein, in Frage stellen würde. Das wäre ein Beispiel dafür, wie eine bestimmte Sichtweise auf dich selbst deine Aufnahmefähigkeit beeinflusst. Ein anderes Beispiel wäre die Art, wie viele depressive Menschen die Welt und das, was ihnen widerfährt, wahrnehmen. Auch wenn ihnen recht positive Dinge geschehen, können sie dies nicht zur Kenntnis nehmen. Auch hier werden durch bestimmte Vorstellungen von sich selbst die Möglichkeiten beschränkt, etwas anzunehmen und zu integrieren. Noch ein Beispiel: ich kenne einen Mann, der an weit fortgeschrittenem Krebs erkrankt ist. Für lange Zeit konnte er – wie es oft vorkommt – nicht zur Kenntnis nehmen, dass er sterben wird. Er hat ein Bild von sich als einem Mann, der sich Herausforderungen stellt und entsprechend handelt. Der Gedanke an den eigenen Tod wurde durch dieses Selbstbild blockiert und der Mann brauchte lange, bis er sich der nahenden Realität stellen konnte. Es ist nicht so einfach, ein genaueres Bild von sich selbst zu entwickeln. Wir nehmen es einfach als einen Teil unseres Lebens und kümmern uns nicht weiter darum. Dazu kommt: manches an unserem Selbstbild hängt mit dem zusammen, was in unserer Gesellschaft oder Subkultur üblich ist. Bei uns wird viel Wert darauf gelegt, angenehm und gepflegt zu wohnen – es kann sich auf dein Selbstbild auswirken, wenn du nicht in einem solchen Heim lebst. Oder: in unserer Gesellschaft werden Paarbeziehungen sehr wichtig genommen – wenn du andere Akzente setzt, etwa auf die Natur oder die Gemeinschaft, kann dein Selbstbild davon beeinflusst werden, dass für viele Menschen in deiner Umgebung Zweier-Partnerschaften unabdingbar sind, damit sie sich als glückliche oder erfolgreiche Person sehen können. Die Frage wäre also: wie bekommen wir ein Gefühl für unser Bild von uns selbst? Der erste Schritt könnte sein, es stärker in unser Bewusstsein zu heben, und zwar eher durch Formen von Kontemplation als durch meditative Praxis im engeren Sinn.

Im nächsten Teil dieser Übersetzung, der demnächst folgt, gibt Victor ein paar konkrete Vorschläge, wie wir lernen können, unser Selbstbild deutlicher werden zu lassen und es zu beeinflussen.

  1. Stephen Batchelor stellt seinen „Confessions of a Buddhist Atheist“ ein Zitat des deutschen Filmemachers Wim Wenders voran: „Stories are impossible, but it’s impossible to live without them. That’s the mess I’m in“.
  2. Näheres über von der Heyde und die Originalaufnahme mit dem Titel: „Honouring our empty Selves“ unter: www.dharma.org.au/v/ . Mit Zustimmung des Autors leicht gekürzte Übersetzung von Evamaria Glatz

2 Antworten auf „Wie bin ich denn? So – oder doch vielleicht anders?
Wie unser Selbstbild unser Leben beeinflusst. 1. Teil
von Victor von der Heyde“

  1. „Glaub nicht alles, was du denkst“ – ich kenne dieses Zitat, allerdings dachte ich, es stammt von Byron Katie, Begründerin von „the work“? Zumindest kommt es bei ihr immer wieder vor – und das ist auch die Basis von „the work“ – eine systematisierte Fragemethode, eigene Gedanken, Glaubenssätze etc. zu hinterfragen, zu transformieren oder auch aufzulösen…

    1. David Loy schreibt, er hätte „Glaub nicht alles, was du denkst“ auf einem Aufkleber an einem Auto gelesen.
      Danke für den Hinweis auf Byron Katie als Urheberin! Du hast mich angeregt, bei ihr nachzulesen. Vielleicht magst Du ja auch ihren Ansatz etwas genauer schildern?
      Evamaria

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