Die „Kürzere Lehrrede über die Leerheit“ beginnt mit einer Frage, die Buddhas persönlicher Begleiter Ānanda stellt: “Du lebtest einst in Sakiya, Herr, unter deinen Verwandten in der Stadt Nāgaraka. Dort hörte ich von deinen eigenen Lippen, wie du sagtest: Nun weile ich vorwiegend in Leerheit. Habe ich das richtig gehört?” “Ja,” antwortet Gotama. “Damals, so wie heute, weile ich vorwiegend in Leerheit.” Das Wort, das einem hier ins Auge springt, ist “weilen”, aus dem Pali „viharati“ übersetzt. Die Substantivform ist vihāra, “Wohnsitz” oder “Aufenthaltsort”, und hat die Bedeutung “Kloster” angenommen – das heißt, ein Wohnsitz für Mönche. Nun beschreibt aber “weilen” oder “wohnen” eine ursprüngliche Beziehung zu dieser Erde auf der wir leben. Leerheit ist zuerst und vor allem ein Zustand, in dem wir weilen, wohnen und leben. Eine andere Lehrrede in Pali beschreibt diese Leerheit als “Wohnstätte einer bedeutenden Person.” Leerheit scheint also eine Perspektive zu sein, ein Empfindungsvermögen, eine Lebensform in dieser überwältigenden, ungewissen Welt. Die “bedeutende Person” wäre jemand, der ein solches Empfindungsvermögen entwickelt hat, dass es völlig natürlich geworden ist. Leerheit ist also nicht die Negation des “Selbst”, sondern enthüllt die Würde einer Person, die erkannt hat, was es bedeutet, ein Mensch in seiner ganzen Fülle zu sein. Eine solche Leerheit ist weit davon entfernt, eine letzte Wahrheit zu sein, die durch logisches Schließen zu verstehen und dann in einem Zustand nicht-begrifflicher Meditation direkt zu erkennen ist. Es ist ein Empfindungsvermögen, in dem jemand weilt, nicht ein vorrangiges erkenntnistheoretisches Objekt, das einem durch Wissen Erleuchtung des Bewusstseins verschafft. Die „Kürzere Lehrrede über die Leerheit“ erzählt die Geschichte eines Mannes, der nach einem Weg suchte, authentisch auf Erden zu leben. Gotama beginnt seine Lehrrede mit dem, was am nächsten liegt: das Landhaus, in dem er sich mit seinen Bettelmönchen aufhält. “Da das Haus leer ist von Elefanten, Rindern und Pferden, leer von Gold und Silber, leer von Mengen an Frauen und Männern,” führt er aus, “gibt es nur eine Sache, von der dieses Landhaus nicht leer ist: diese Gruppe von Bettelmönchen.” Aber ein Bettelmönch, der diese Gemeinschaft als zu laut und störend empfindet, wird die Einsamkeit des Waldes aufsuchen, die “leer ist von jeder Wahrnehmung von Dörfern oder Menschen.” Der Bettelmönch betrachtet also den Wald als “leer von dem, was nicht da ist, und von dem, was übrig ist, weiß er: ‘Das ist, was da ist.’” Obwohl der Bettelmönch nicht länger vom Trubel der Welt irritiert wird, stellt er fest, dass er zu Ängstlichkeit neigt, die durch das Leben im Wald erzeugt wird. Um diese Ängstlichkeit zu überwinden, versetzt sich der Bettelmönch in zunehmend verfeinerte Zustände meditativer Versenkung: über die Ausdehnung der Erde, den grenzenlosen Raum, grenzenloses Bewusstsein, das Nichts, und das Weder-bewusst-noch-unbewusst-Sein. Aber in jedem Stadium stellt er fest, dass es noch immer etwas in ihm gibt, was Unbehagen entstehen lässt. Also gibt er die tiefen, tranceähnlichen Zustände auf für “merkmallose Konzentration des Herzens.” Aber auch da erkennt er, dass er noch immer zu der Angst neigt, die davon kommt, dass er die sechs Wahrnehmungsfelder eines lebenden Körpers hat.” Worin auch immer der Wert seiner merkmallosen Konzentration besteht, so ist sie dennoch “produziert und willentlich herbeigeführt” und daher “vergänglich und dem Aufhören unterworfen.” Erst hier, nachdem er die Möglichkeiten der Meditation in Waldeinsamkeit ausgeschöpft hat, erkennt er, dass all diese Übungen letztlich vergeblich sind, weil sie enden werden. Er scheint zum Ausgangspunkt zurückgekehrt zu sein. Aber genau diese Einsicht in die Vergänglichkeit verschafft ihm die Ruhe des Geistes, die er die ganze Zeit gesucht hat. “Indem er solches weiß und sieht,” fährt Gotama fort, “ist sein Herz befreit von den Trieben (āsava) der Sinne, des Werdens und des Nicht-Wissens”. Aber das ist nicht das Ende der Geschichte. “Ohne all die Ängste, die durch Triebe bedingt sind,” überlegt der Bettelmönch, “neige ich immer noch zu der Angst, die daraus entsteht, dass ich die sechs Wahrnehmungsfelder eines lebenden Körpers habe. Dieser Bewusstseinszustand ist leer von jenen Trieben. Was nicht leer ist, ist: die sechs Wahrnehmungsfelder eines lebenden Körpers.” Die „Kürzere Lehrrede über die Leerheit“ schließt mit dieser Einsicht: in Leerheit zu weilen bedeutet, den körperlichen Raum der eigenen sinnlichen Erfahrung auszufüllen, aber auf eine Art, die nicht mehr von der eigenen gewohnheitsmäßigen Reaktivität bestimmt ist. In einer solchen Leerheit zu weilen bedeutet nicht, dass man nicht mehr leiden wird. Solange jemand Körper und Sinne hat, wird er “geneigt sein zur Angst”, die davon kommt, eine bewusste, fühlende Kreatur aus Fleisch, Knochen und Blut zu sein. Und das dürfte für Gotama genauso wahr gewesen sein wie für uns heute. Leerheit ist hier nicht eine Wahrheit – schon gar keine letzte Wahrheit – deren richtiges Verständnis ein Mittel wäre, Nicht-Wissen zu vertreiben und so Erleuchtung zu erlangen. Für Gotama kommt es nicht darauf an, Leerheit zu verstehen, sondern in ihr zu weilen. In Leerheit zu weilen bringt uns sicher zur Erde herunter und zu unseren Körpern zurück. Es ist ein Weg, uns zu ermöglichen, unsere Augen zu öffnen und gewöhnliche Dinge wie zum erstenmal zu sehen.
Dieser Text ist ein (noch nicht lektorierter) Auszug aus Stephen Batchelors neuestem Buch „Nach dem Buddhismus – den Dharma für ein säkulares Zeitalter neu denken“ (Arbeitstitel), das im Herbst 2016 in der edition steinrich erscheinen wird. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages. [1. Eine deutsche Übersetzung der Cúlasuññata Sutta – „Kürzere Lehrrede über die Leerheit“ gibt es z. B. unter: http://www.phathue.de/buddhismus/mittlere-sammlung/mn121/. coque iphone Der englische Originaltitel von Batchelors Buch lautet: After Buddhism – Rethinking the Dharma for a Secular Age, 2015, Yale University Press, New Haven & London.
Batchelor hilft mir sehr mit seiner Auffassung der Leerheit!
Gut wäre zu erwähnen, dass der Mahayana Buddhismus etwas ziemlich anderes daraus gemacht hat. Im Mahayana Buddhismus wird unter Leerheit die Abwesenheit eines unabhängig existierenden Selbst bei Personen und Phänomenen verstanden. Es entspricht also eher der Lehre des anatta.
Stephens Interpretation von Leerheit als etwas, das ermöglicht, „gewöhnliche Dinge wie zum ersten Mal sehen“ ist eine ziemlich „klassiche“ Mahayana-Position, finde ich. Vielmehr war gerade im frühen Buddhismus Leerheit (eigentlich weitaus häufiger im Pali-Kanon „leer“ als Adjektiv) wesentlich enger mit anatta assoziiert. Hier ist eine Übersicht über die verschiedenen Interpretation von Leerheit in den verschiedenen Schulen: https://en.wikipedia.org/wiki/%C5%9A%C5%ABnyat%C4%81#Mahayana_Buddhism