Unsere Leserinnen und Leser sind mit Recollective Awareness 1 vertraut: es geht dabei darum, sich selbst und anderen die inneren Vorgänge während der Meditation im nachhinein bewusst zu machen, durch Einzel- und Gruppengespräche und das Führen eines Tagebuchs. Diese Praxis, entwickelt von Jason Siff 2, üben wir in unserer Sangha in Wien. Vor ein paar Wochen ist in unseren Gesprächen die Frage aufgetaucht, was dieser Zugang zur Meditation, bei dem ohne alle Vorgaben dazu eingeladen wird, den Geist laufen zu lassen, wie er will, mit dem Dharma zu tun habe.
Darüber haben sich auch schon andere Gedanken gemacht. In einem Talk unseres australischen Dharmafreunds und Gewährsmanns Winton Higgins geht es genau darum 3:
„Die Frage, was Recollective Awareness mit dem Dharma zu tun hat, ist berechtigt angesichts der Tatsache, dass sie sich stark von Meditationspraktiken mit formelhaften Anleitungen des buddhistischen Mainstreams, vor allem im Vipassana, unterscheidet. Meine kurze Antwort: Recollective Awareness hat alles mit dem Dharma zu tun. Sie nimmt nämlich den direkten Weg zurück zum Dharma ohne den labyrinthischen Umweg über den Abhidhamma 4. Wir sollten unseren Geist einladen, alle seine Inhalte zu offenbaren, sodass wir das ganze Muster unserer komplexen, vielschichtigen Erfahrung sehen können und dabei unsere Meditationspraxis mit der größtmöglichen Vertrautheit mit dem Kern des Dharma verknüpfen. Der Dharma, wie Buddha ihn lehrt, stellt uns die Sprache zur Verfügung, mit der wir schrittweise zum klaren Verständnis unserer Praxis kommen. Darum geht es in der Kultur des Erwachens, die wir sowohl innerlich als auch gemeinsam zu pflegen versuchen. Meditation ist nicht nur ein intimer Vorgang, sondern auch ein gemeinsames Unternehmen, ein vermittelbarer und interpretierbarer Prozess. Welche Wurzeln hat Recollective Awareness im Dharma? Die Satipatthana Sutta ist die grundlegende Lehrrede des Buddha zur Meditation im allgemeinen und zur Einsichtsmeditation des Vipassana im besonderen. Recollective Awareness bietet eine Alternative zu Vipassana-Schulen, die aus dem Abhidhamma entstanden sind. Das ist eine späte und einschneidende Neuinterpretation von Buddhas Lehre, von Mönchen für Mönche gemacht; Meditationstechniken des Vipassana stützen sich stark darauf und nicht auf die Sutta. Die Grundstruktur der Satipatthana Sutta bildet das, was Buddha die vier Aspekte von Sati nennt. Sati ist wahrscheinlich das wichtigste Wort, das Buddha gebrauchte. Seine ursprüngliche Bedeutung ist ’sich erinnern‘, aber Buddha gebrauchte es auch im Sinn von Achtsamkeit, Wachsamkeit. Recollective Awareness, ’nachvollziehendes Bewusstmachen‘, ist also wahrscheinlich die beste Übersetzung von ’sati‘, die wir haben. Buddha spricht in der Sutta häufig von ‚klarem Verständnis‘ – das bedeutet, unsere Erfahrung in Echtzeit nachzuvollziehen. Wenn wir uns unserer Erfahrung derart zuwenden, sehen wir, dass sie sehr komplex und vielschichtig ist. Zweifellos hat Buddha aus diesem Grund pragmatischerweise vorgeschlagen, wir könnten sie nach vier Aspekten aufschlüsseln:
- körperliche Erfahrung,
- Färbung der Wahrnehmung,
- Geisteszustände und Stimmungslagen,
- kognitive Inhalte des Geistes.
Es gibt hier eine Abfolge. Es beginnt mit der grundlegenden und konkretesten Art von Erfahrungen, die mit dem Körper und den Sinnen zu tun haben und schreitet dann zu immer subtileren Erfahrungen fort. Aber es ist eine Abfolge und keine Hierarchie, weil unsere Körperlichkeit der Resonanzboden für jede Erfahrung bleibt. Färbungen der Wahrnehmung, Stimmungen und Gedanken wirken sich darauf aus, wie wir uns in unserem Körper fühlen. Meditation geht wirklich nicht nur in unseren Köpfen vor sich. Klares Verständnis bedeutet nicht einfach, eine Liste machen zu können, sondern Erfahrungen im Kontext und dynamisch nachzuvollziehen. Auf einer ganz fundamentalen Ebene stellen wir fest, dass alle Erfahrungen entstehen, für eine Weile anhalten und dann vergehen. Nichts bleibt, und nichts hat also einen realen, dauerhaften Kern oder eine Substanz. Vielleicht stellen wir auch fest, dass alle unsere Erfahrung unstet ist, weil sie aus unserer grundlegenden conditio humana hervorgeht; wir sind verletzliche, begehrende und sich laufend verändernde Wesen, die unter Bedingungen leben, die sich unabhängig von uns selbst wiederum dauernd ändern. Wenn wir ein wenig Basiswissen im Dharma haben, kann uns das auf dieses dynamische Muster aufmerksam werden lassen: wir erfahren aus erster Hand diese grundlegende kleine Liste der Charakteristika unserer Existenz: Unbeständigkeit, dukkha und Nicht-Selbst. Diese Liste ist nicht Bücherweisheit – sie ist real! Wir könnten auch feststellen, dass unsere Erfahrung sich in vernetzten Beziehungen von Ursache und Wirkung entfaltet: aha, bedingtes Entstehen – der zentrale philosophische Gedanke des Buddha – ist auch Realität! Die Meditierenden, denen Buddha diese Rede hielt, kannten die Grundlagen des Dharma schon. Es war spät in seinem Leben, und Buddha hatte die wesentlichen Lehren schon Jahrzehnte früher entwickelt. Nun arbeitete er sie aus und brachte sie direkt mit der Praxis der Meditation in Beziehung. Und als er zum vierten Aspekt kam (den kognitiven Inhalten des Geistes – Gedanken, Bilder, Geschichten usw.) schlug er vor, seine Zuhörer sollten sie entsprechend seinen Listen ordnen, die ihnen bis dahin gut bekannt waren: die fünf Hindernisse, die fünf Skhandas, die sechs Sinnesbereiche, die sieben Faktoren des Erwachens und die vier großen Aufgaben. All das hatten sie im kleinen Finger. In dieser Weise enthält und spiegelt die Sutta (und die Praxis, die in ihr vorgeschlagen wird), die gesamte Lehre des Buddha. Mit anderen Worten: der Buddha hatte die Grundlagen einer Kultur des Erwachens schon gelegt, und hielt die Lehrrede auf dieser Basis. Offenkundig fürchtete er nicht, das Wissen über diese Grundlagen könnte die Meditationserfahrung seiner Zuhörer verzerren. Im Gegenteil, er schlägt vor, dass sie diese Grundlagen so vollständig wie möglich ausschöpfen, um ihre eigene Erfahrung klar zu verstehen. Und gibt er ihnen spezielle Techniken und Formeln, die sie schrittweise anwenden sollten? Füttert er sie mit dem Löffel? Er denkt nicht daran! Er spricht nicht von body scan, primären und sekundären Objekten, Atembeobachtung an der Nase oder am Bauch, oder von den 17 ‚rechten Einsichten‘ – diese Utensilien stammen nicht aus dieser Sutta, sondern aus dem Abhidhamma. Seine Pädagogik ist das Gegenteil von Löffelfütterung. Er benützt die vier Aspekte der Achtsamkeit als Gelegenheit, ein Füllhorn von Möglichkeiten zu eröffnen, wie unsere meditative Erfahrung sich entfalten und was wir aus ihr machen könnten. Am Anfang der Sutta beschreibt er diese Praxis als ‚den direkten Weg zur Erkenntnis‘, aber es ist eindeutig ein ‚Do-it-yourself‘-Weg und keine Ameisenkarawane. Uns wird gesagt, worum es bei der Reise geht, was entlang des Weges auftauchen könnte, und wir erhalten einen Kompass. Jede und jeder von uns bahnt sich ihren und seinen eigenen Weg, abhängig vom eigenen Leben und seinen Neigungen. Jede und jeder von uns muss selbst die Verantwortung für die eigenen Praxis übernehmen, in Anwendung der Möglichkeiten, die die Sutta eröffnet. Meditation mit Recollective Awareness, nachvollziehendem Bewusstmachen, ist ein Ansatz, diese Lehre in der Praxis umzusetzen. In welchem Geist sollten wir Meditierende im Westen uns dem Dharma annähern? Wir sollten nicht nur lesen oder hören, was der Buddha sagte, sondern auch die Gesamtsituation, in der er sprach, in Betracht ziehen, einschließlich seiner Zuhörerschaft. Sie lebten in einer vor-literarischen Gesellschaft, die sich auf mündliche Überlieferung stützte, doch waren sie gebildete Leute. Ein gebildeter Mensch war in jener Zeit jemand, der ‚eine Menge gehört hatte‘. Und vermutlich auch innerlich verarbeitet hatte – das kommt von allein, wenn du Lehren in deinem Kopf herumträgst und nicht in einem Buch oder Ipod. Es war eine Art in sich aufsaugenden Lernens, das von manchen bis heute geschätzt wird. Wir brauchen eine innere Bibliothek von Formen, Metaphorik, Rhythmus und Tonfall, auf die wir uns für unsere eigene Arbeit beziehen können. Meditation ist nicht nur eine persönliche, sondern gleichzeitig eine gemeinschaftliche Praxis. Es geht auch um die Sangha, die dritte Zuflucht, in der wir miteinander in gemeinsamer Sprache, gemeinsamen Ausdrücken, gemeinsamen Werten kommunizieren können. Ohne das können wir nicht einmal mit uns selbst kommunizieren, da uns sonst das Vokabular fehlt, unser inneres Leben zu artikulieren. Beim Prozess der Recollective Awareness, des nachvollziehenden Bewusstmachens, werden wir im Einzel- und Gruppengespräch zum Austausch ermutigt. Wir werden auch dazu ermutigt, unsere meditative Erfahrung aufzuschreiben. Es kann zum ‚klaren Verständnis‘ verhelfen – unserer Erfahrung nachzuspüren und sie zu interpretieren. Und wenn wir sie schriftlich festgehalten haben, macht das im Geist Platz für Neues, anstatt des endlosen Umrührens in Altbekanntem. Es ist eine Art des Loslassens, eine Art, unser Leben zu verarbeiten, wie jede erfahrene Tagebuchschreiberin bestätigen kann. Zum Abschluss Meditation mit Unterstützung von Recollective Awareness, nachvollziehendem Bewusstmachen, ist eine zentrale Praxis im Dharma. Unsere Kultur des Erwachens ist von der gemeinschaftlichen Natur unserer Praxis abhängig, und beide hängen davon ab, dass wir den Dharma als die zentrale Ressource in uns aufnehmen. Eine meditierende Person, sagte mir einer meiner Lehrer, sollte wie eine Spinne sein, die in der Mitte ihres Netzes sitzt. Beim kleinsten Zittern weiß die Spinne genau, woher in ihrem großen und komplizierten Netz die Störung kommt, und läuft hin.
- eine passende deutsche Übersetzung wäre vielleicht: nachvollziehendes Bewusstmachen ↩
- eine genaue Beschreibung von ihm selbst findet sich auf der Seite „Das Meditieren entlernen“ auf dieser Website. ↩
- das englische Original ist auf unserer neuseeländischen Schwesterwebsite http://secularbuddhism.org.nz/ unter dem Titel: The dharmic foundations of the recollective awareness approach nachzulesen; die mit Wintons Zustimmung gekürzte Übersetzung stammt von Evamaria Glatz. ↩
- für eine erste Begriffsklärung: https://de.wikipedia.org/wiki/Abhidhammapitaka. ↩