Über das Kranksein

Ich bin krank. Das wirft seit Wochen meine Programme über den Haufen: viele Ideen und Pläne musste ich zurückstellen, Aktivitäten sind nach und nach schwierig und dann unmöglich geworden. Bewegung und Sport im Freien gehen nicht mehr. Zeitweise starke Schmerzen und Schlaflosigkeit setzen mir zu. Für die Art meiner Krankheit kann ich dankbar sein, und bin es auch: mein linkes Hüftgelenk ist kaputt, der Termin für die Operation in 10 Tagen unter optimalen Bedingungen steht fest. „Ärmel aufkrempeln“ war mein erster Impuls, im Leben oft und auch erfolgreich geübt. Unter meinen persönlichen Bedingungen reicht das jetzt nicht mehr. Angesagt ist: genau das zu tun, was noch möglich ist und was Körper und Geist erlauben. Mit dem Auto fahren und nicht mit dem Rad, die meiste Zeit zuhause sitzen oder liegen, auf die Gartenarbeit im Frühling verzichten. Was geht? Also, beispielsweise einen Lieblingstext von mir herauszusuchen, zu bedenken und zu genießen: On being ill von Virginia Woolf 1:Virginia Woolf

Bedenkt man, wie allgemein Krankheit ist, wie gewaltig die geistige Veränderung, die sie bringt, wie erstaunlich die unentdeckten Länder sind, die sich erschließen, wenn das Licht der Gesundheit schwindet, welche Öden und Wüsten des Innern ein leichter Grippeanfall vor Augen führt, welche Abgründe und mit leuchtenden Blumen bestreute Wiesen ein leichter Anstieg der Temperatur offenbart, welche uralten, unbeugsamen Eichen durch das Ereignis der Krankheit in uns entwurzelt werden, wenn wir das alles bedenken, – und wir sind so häufig dazu gezwungen – dann erscheint es wahrlich seltsam, dass nicht die Krankheit mit der Liebe und dem Kampf und der Eifersucht zusammen ihren Platz eingenommen hat unter den Hauptthemen der Literatur. Aber nein; mit wenigen Ausnahmen tut die Literatur ihr möglichstes zur Wahrung des Anspruches, es gehe ihr um den Geist; der Körper sei eine klare Glasscheibe, durch welche die Seele klar und offen herausschaut, und sei, abgesehen von ein, zwei Leidenschaften wie Lust und Gier, null und nichtig und vernachlässigbar und nicht vorhanden. Nichtsdestotrotz, das genaue Gegenteil trifft zu. Den ganzen Tag und die ganze Nacht hindurch mischt sich der Körper ein; macht stumpf oder schärft, färbt oder macht farblos, wird in der Juniwärme zu Wachs, härtet sich im Februar düster zu Talg. Das Geschöpf drinnen kann nur durch die Scheibe starren – verschmutzt oder rosig, keinen einzigen Augenblick kann es sich vom Körper wie die Scheide vom Messer trennen oder wie die Schote von den Erbsen; es muss die ganze endlose Wechselfolge durchlaufen, Hitze und Kälte, Behagen und Unbehagen, Hunger und Sättigung, Gesundheit und Krankheit, bis die unausweichliche Katastrophe da ist: der Körper wird in tausend Stücke zerschmettert , und die Seele (so heißt es) entfleucht….

Ja, ich sehe Dinge anders als ich gewohnt bin: schärfer oder eben verschwommener. Ziele, an die ich gewohnt war, loszulassen, bedeutet auch Entlastung und den freien Blick auf Dinge, für die ich „keine Zeit“ hatte; das alles unter der privilegierten Bedingung der verläßlichen Annahme, dass die Krankheit in absehbarer Zeit vorbei sein wird. Und den Alltag nehme ich viel genauer: welche Bewegung lässt sich wie am schonendsten ausführen, und welche Tabletten tun mir wann gut? Achtsam zu sein schreibe ich mir jetzt nicht vor: es ergibt sich von selbst. Man muss die Krankheiten gewähren lassen schreibt mein hochgeschätzter Michel de Montaigne. Ihn plagten Nierensteine, und er schreibt, dass er besonders die schmerzfreien Situationen zu schätzen gelernt habe – ich kann es ihm nachvollziehen. Es geht um nichts anderes als: den Schmerz zu umarmen. montaigneMontaigne schreibt auch: wenn einem der Arzt nicht zusage, müsse man sich einen anderen besorgen. Da klingt doch die Kalama-Sutta an. Ich bin in der glücklichen Lage, dass mir meine Ärztinnen und Therapeuten zusagen, aber ich prüfe jede ihrer Empfehlungen, bevor ich sie umsetze. Pema Chödrön, eine US-amerikanische Lehrerin des tibetischen Buddhismus, hat sich aus eigener Betroffenheit sehr viel mit dem Umgang mit Krankheit auseinandergesetzt Sie litt an chronischer Müdigkeit und schrieb einem davon ebenfalls Betroffenen:

Der Schlüssel dazu, mit dem zu arbeiten, was so unerwünscht ist, liegt darin, die Ideen und Gedanken darüber loszulassen, dass wir doch nicht krank sein sollten und was mit uns geschehen wird, wenn wir krank bleiben. Wir müssen die Krankheit irgendwie respektieren, sie willkommen heissen, in sie eintreten. Wir geben nach und sagen, okay, was kann ich von dir lernen? Über das Loslassen von Kontrolle, über das Verlangsamen…über das Auskosten der vollen Erfahrung eines jeden Moments: des Lichts, des Klangs, der Qualität meiner Erfahrung, meines Schmerzes, der Anblick von Staub oder von Vögeln oder von nichts Besonderem…all das zu respektieren. Sie ist eine Art von Tod, diese Krankheit, und die beste Art von Tod, wenn wir sie einfach zulassen. Es ist der Tod alter eingefahrener Muster und Ansichten und Gewohnheiten und gibt Raum für etwas Neues, das in uns entstehen soll. Wirklich, du kannst dich drauf verlassen. Etwas Neues wird in dir entstehen, wenn du zulässt, dass die Krankheit dir zeigt, wo du den Griff lösen sollst. Und bitte schimpfe nie mit dir, wenn es dir manchmal misslingt.

Pema chödrön Na gut.

  1. zitiert aus: Virginia Woolf: Das große Lesebuch, hrsgg. als Fischer Taschenbuch Mai 2005

4 Antworten auf „Über das Kranksein“

  1. Liebe Evamaria,
    ich war erschrocken, zu lesen, daß eine Hüftoperation bei Dir notwendig ist.
    Danke, daß Du uns an Deinem Ergehen Anteil nehmen läßt, und uns wissen läßt, was Dich stärkt.
    Von Herzen: Sarva mangalam!
    Chrisja

  2. Hallo Evamaria,
    ich wünsche Dir alles Gute für Deine Operation am Linken Hüftgelenk.
    Es besteht dadurch ja die Hoffnung, dass Du wieder beschwerdefreier und beweglicher wirst.
    Mit freundlichen , empathischen , aberglaubensfreien , buddhistischen
    Grüßen ! Uwe

  3. hallo Evamaria,

    vor deiner krankheitsbedingten „Auszeit“ hast du uns ja gut
    mit textmaterial zum nachdenken versorgt –
    danke dir dafür.
    hoffe, es geht dir gut.
    und ansonsten: auch dieses wird vergehen
    (nur zum erinnern, für die sicherlich auch
    vorkommenden „harten“ Zeiten).

    grüße,
    paula

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