Im Jahr 1968, als in Westeuropa so viele junge Leute den Aufstand probten, war ich 20 Jahre alt und bald mittendrin im politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Geschehen, in dem und durch das wir alle Werte auf den Kopf zu stellen meinten. Wir waren voller Widerspruchsgeist gegenüber überkommenen Strukturen in Kindererziehung, Studium, Gesellschaft und Politik, voller Energie davon überzeugt, dass es uns gelingen würde, den zutiefst ungerechten, nur an Profit orientierten Kapitalismus über den Haufen zu rennen und basisdemokratische, solidarische Gemeinwesen an seiner Stelle zu schaffen. Heute erinnere ich mich, wie wenig wir damals über unser eigenes Verwurzeltsein in den autoritären Strukturen nachdachten, aus denen wir gekommen waren. Bei allem Enthusiasmus gingen wir grob, unaufmerksam und oft gewaltsam mit uns selbst und miteinander um. Wir urteilten schnell und hart, und meinten immer genau zu wissen, wer richtige und wer falsche Meinungen vertrat. Unter den linken Klassikern und Gegenwartsautoren, die wir lasen, nahm Erich Fromm eine Sonderstellung ein. Er polarisierte nicht, sondern schuf positive Utopien, von denen wir träumen konnten. Als ich vor kurzem wieder begann, mich mit seinen Texten zu beschäftigen, konnte ich daran anknüpfen; ich möchte durch diesen Beitrag deutlich machen, was er mit säkularem Buddhismus zu tun hat. Fromm kam im Jahr 1900 als Sohn einer orthodox jüdischen Kaufmannsfamilie in Berlin zur Welt. Er studierte Rechtswissenschaften und Soziologie und wurde Mitarbeiter am renommierten Institut für Sozialforschung. Als junger Mann studierte er den Talmud, später absolvierte er eine Psychoanalyse und ließ sich zum Analytiker ausbilden. Die praktische Ausübung seiner Religion stellte er ein, nachdem er nähere Bekanntschaft mit den Schriften Sigmund Freuds und Karl Marx‘ gemacht hatte. Er emigrierte im Jahr 1934 in die USA und wurde später US-amerikanischer Staatsbürger. Ab 1950 lehrte er an der Universität von Mexiko und engagierte sich politisch in der amerikanischen Friedensbewegung. In den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts kehrte er nach Europa zurück und lebte in der Schweiz, wo er sich vor allem seiner schriftstellerischen Arbeit widmete. Er starb kurz vor seinem 80. Geburtstag. Fromm hat zahlreiche Bücher verfasst, die international ein breites Publikum fanden, vor allem unter jungen Linken 1. Erich Fromm dachte mit seinem eigenen Kopf, und er hat vor allem in jüngeren Jahren Konflikte nicht gescheut. Vom „Institut für Sozialforschung“, zu dessen wichtigsten Mitarbeitern er gezählt hatte, trennte er sich im Jahr 1939 wegen inhaltlicher Differenzen. Sigmund Freud, mit dem er sich intensiv auseinandergesetzt hat, kritisierte er u.a. wegen seines Kulturpessimismus und der Prädominanz der Sexualität in seinen Schriften; das führte dazu, dass Fromm unter Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytikern, die eng mit Freud verbunden waren, ein Außenseiter blieb. Der Erforschung der jüdischen und christlichen Geisteswelt auf unorthodoxe Weise widmete er viel Aufmerksamkeit. Sein Weltbild und seine Lebenseinstellung erarbeitete er sich aus Teilen jüdischer und christlicher Tradition, Elementen der Frühschriften von Karl Marx, den theoretischen Erkenntnissen und der praktischen Anwendung von empirischer Sozialforschung und Psychoanalyse, aus buddhistischem Gedankengut und meditativer Praxis. Er hat lebenslang einen demokratischen, sozialistischen Humanismus vertreten. Ein erstes Mal intensiv mit dem Buddhismus auseinandergesetzt hat sich Erich Fromm in den Fünfzigerjahren des 20. Jahrhunderts 2. In seiner Theoriebildung und seiner persönlichen Praxis haben später seine Begegnungen mit Nyanaponika deutliche Spuren hinterlassen. Nyanaponika, 1901 in Deutschland unter dem Namen Siegmund Feniger geboren, war 57 Jahre lang buddhistischer Mönch und verbrachte einen großen Teil seines Lebens in einer Einsiedelei auf Sri Lanka. Er verfasste zahlreiche Schriften über Buddhismus der Theravada-Schule, am bekanntesten wurde sein Buch „Geistestraining durch Achtsamkeit“. 3 Erich Fromm, der Nyanaponika während dessen Reisen in die Schweiz mehrmals getroffen hat, schätzte dieses Buch und seinen Autor sehr und hat bei ihm Anleitung für eigene Meditationspraxis gefunden. Er sagte von ihm, er sei …ein Gelehrter, ein Lehrer, ein Helfer – kein Guru, kein Führer und kein Verführer, …der eine Lebensform lehrte und praktizierte, die an die besten Kräfte des heutigen ernüchterten, kritischen und dennoch sehnsüchtigen Menschen appelliert: an Rationalität, Unabhängigkeit, das Aufgeben von Illusionen, Verzicht auf Autoritäten, denen man sich unterwirft, und…das Sehen der Dinge entsprechend ihrer Realität 4. Etwa zur selben Zeit, als Fromm diese Würdigung verfasste, erschien: Haben oder Sein. 5. Als ich es vor kurzem wieder gelesen habe, war ich berührt von seiner Aktualität nach fast 40 Jahren. Mit dieser so prägnanten wie umfassenden Formulierung präsentiert Fromm hier seine Sicht der Menschen und der Gesellschaft, ihres Bedarfs nach und ihrer Möglichkeiten für tief greifende Veränderungen. Buddhistisches Gedankengut ist in keinem seiner Werke so präsent wie in diesem. Das Buch beginnt mit nüchterner Analyse: Das Industriezeitalter habe seine Versprechen nicht eingelöst. Glück entstehe nicht aus der Befriedigung aller Wünsche. Unsere Gedanken und Gefühle würden durch Massenmedien beherrscht. Wirtschaftlicher Fortschritt bleibe auf reiche Nationen beschränkt, technischer Fortschritt bringe unabsehbare ökologische Gefahren und die Bedrohung durch einen Atomkrieg. Eroberungsdrang und Feindseligkeit hätten die Menschen blind gemacht für die Tatsache, dass die Welt endlich sei, und zum ersten Mal in der Geschichte hänge nun das physische Überleben der Menschheit von einer radikalen seelischen Veränderung der Menschen ab. Er schreibt: Wir sind eine Gesellschaft notorisch unglücklicher Menschen: einsam, von Ängsten gequält, deprimiert, destruktiv, abhängig – jene Menschen, die froh sind, wenn es ihnen gelingt, jene Zeit „totzuschlagen“, die sie ständig einzusparen versuchen. Im weiteren Verlauf des Buches geht es um die detaillierte Auseinandersetzung mit den beiden, wie Fromm schreibt, grundlegend verschiedenen Formen menschlichen Erlebens, des Habens und des Seins. Dem Zustand des Habens entspräche Konsumieren in allen Lebensbereichen, das vermindere vordergründig menschliche Angst, zwinge aber auch dazu, immer mehr zu konsumieren, weil die Befriedigung durch materielle Güter bald nachlasse. Haben bedeute das Festhalten an Dingen, wozu wir durch eine marketing-orientierte Umgebung, in der es um den vordergründigen schönen Schein gehe, erzogen würden. Psychologisch gesehen bedeute die Orientierung am „Markt“, dass es nicht um das eigene Selbst gehe – also um die tatsächlichen Fähigkeiten, Gefühle und Gedanken, sondern um das, was sich verkaufen lasse, was ankomme. Sein aber bedeute, das wirkliche Bild vom Selbst, von anderen Menschen und der Umwelt wahrzunehmen, gelten zu lassen und zu pflegen. Dieses Bild ändere sich laufend, und Erlebnisse von Angst, Schwäche und Leid wären Teil davon. Die Vorstellung eines „Ich“, das man auf Dauer besitzen könne, beruhe auf der Illusion einer unvergänglichen, unzerstörbaren Substanz, die Menschen aufrecht erhalten wollten, weil der Gedanke ständigen Wandels schwer zu akzeptieren sei. Diese Illusion werde durch eine Kultur der Besitzorientierung, durch den Primat des Privateigentums in der gegenwärtigen Gesellschaft gestützt und genährt. Haben beziehe sich nicht nur auf Gegenstände, sondern ebenso auf Werte, Wissen und Überzeugungen. Eigen-tum entstehe dann nicht durch Entfaltung der eigenen Person, sondern durch unverarbeitete Aneignung äußerer Einflüsse; das Haben-Wollen trete an die Stelle des Sein-Wollens. Seine Grundaussagen belegt der umfassend gebildete Autor mit Zitaten aus vielen Quellen quer durch die Geistesgeschichte. Angesichts drohender psychischer, ökonomischer und ökologischer Katastrophen hofft er auf tief greifende charakterologische Veränderungen. Fromm schreibt: Ich bin überzeugt, dass sich der menschliche Charakter in der Tat ändern kann, wenn die folgenden Voraussetzungen gegeben sind:
- Wir leiden und sind uns dessen bewusst
- Wir haben die Ursache unseres Leidens erkannt
- Wir sehen eine Möglichkeit, unser Leiden zu überwinden
- Wir sehen ein, dass wir uns bestimmte Verhaltensnormen zu eigen machen und unsere gegenwärtige Lebenspraxis ändern müssen, um unser Leiden zu überwinden.
Diese vier Punkte entsprechen den Vier Edlen Wahrheiten, die den Kern der Lehre Buddhas über die allgemeinen menschlichen Existenzbedingungen bilden… Der Autor hat diesen Text wie alle seine anderen Bücher als ein politischer Denker geschrieben; als einer, der zeitlebens tief greifende gesellschaftliche Veränderungen für notwendig gehalten und erhofft hat. Niemals hat er sich dabei auf die Seite einer politischen Partei gestellt. Aus dem obigen Zitat wird deutlich, wo er ansetzt: bei der persönlichen Veränderung jedes Einzelnen, und möglichst Vieler gemeinsam. Erich Fromm war weder ein Wissenschaftler in traditionellem Sinn, noch war er ein Träumer. Seine Stärke lag darin, dass es ihm – der seine eigene Person auch als Produkt einer deformierten und deformierenden Gesellschaft wahrnahm – lebenslang um Selbsterkenntnis und persönliche Reifung ging. Lösungsvorschläge, die er stets im Auge hatte, suchte er in der Kunst des Lebens. Die war für ihn gekennzeichnet durch Liebesfähigkeit, Autonomie, Selbstreflexion und die Fähigkeit, sich selbst und die Wirklichkeit in aller Ambivalenz anzunehmen. 6 Dass die Welt sich ändern soll und muss, darin waren wir Jungen uns mit Erich Fromm schon in den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts einig. Dass das nur geschehen wird, wenn wir selber uns ändern, war schwerer zu verstehen.
Evamaria, 11. 4.
- Besonders bekannt wurden: Die Kunst des Liebens, Psychoanalyse und Ethik und Anatomie der menschlichen Destruktivität. Eine vollständige Liste seiner Publikationen findet sich auf: http://www.erich-fromm.de, der offiziellen Website des Erich-Fromm-Dokumentationszentrums in Tübingen ↩
- Dies geschah anlässlich einer Tagung, die er als Professor für Psychoanalyse in Mexiko organisierte; daraus entstand das Buch: Fromm, Erich, Suzuki, Daisetz Teitaro und Martino, Richard de: Zen-Buddhismus und Psychoanalyse, Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch, München 1963 ↩
- Der Text ist im Internet frei zugänglich unter: http://www.palikanon.com/diverses/satipatthana/satipattana.html. ↩
- Aus: „Des Geistes Gleichmaß“, Festschrift zu Nyanaponikas 75. Geburtstag aus dem Jahr 1976, in der auch Erich Fromm einen Beitrag verfasste, zitiert nach einem Artikel von Ludger Lütkehaus in der Neuen Zürcher Zeitung vom 21. 7. 2001 ↩
- Fromm, Erich: To have or to Be, Erstausgabe in amerikanischem Englisch 1976, deutsch: Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft, München 1976 ↩
- Funk, Rainer, Meyer, Gerd und Johach, Helmut (Hrsg.): Erich Fromm heute – Zur Aktualität seines Denkens, München 2000. In diesem Sammelband setzt sich Funk, sein langjähriger Assistent und Nachlassverwalter, neben den inhaltlichen auch mit Aspekten der Persönlichkeit Fromms auseinander. ↩
Liebe Evamaria, meine Schwester begegnete Nyanaponika auf SriLanka, etwa 1970, sie war tief beeindruckt von seiner Bescheidenheit, trotz seiner Klugheit, er wirkte so, als sei er gar niemand Besonderes. Darüber mußte ich immer wieder nachdenken, irgendwie mißfiel es mir damals, und ich dachte, ach so , dazu führt also der Buddhismus, daß man sein individuelles Selbst nicht lebt, seine Persönlichkeit nicht entfaltet. Erst als ich viel später selbst zum Buddhismus fand, begriff ich, wie wunderbar es ist, die Last des Ego abzulegen, und daß es wichtig ist, mich von meiner Gier, interessant und beeindruckend zu wirken, zu lösen. Allerdings fand ich damals sein Buch über Geistestraining sehr trocken und langweilig, und dachte, vielleicht hat er als Mönch doch seelisch zu eingeschränkt gelebt. Deshalb hab ich mich gefreut, nun zu erfahren, daß Fromm, dessen Bücher ich damals verschlang, ihn so schätzte.- Danke für Deinen Beitrag! Ja, Erich Fromm gehört ganz sicher zu unserer“ lineage“. Liebe Grüße. Chrisja