von Stephen Batchelor
„Wer mir nachfolgt, sollte sich kranken Menschen zuwenden“, sagte Gotama zu einer Gruppe von Anhängern, die einen von ihnen, der an der Ruhr litt, nicht beachtet hatten. Als er bei der Gemeinschaft ankam, fanden er und sein Gefährte Ananda in einer Behausung einen Pilger alleine am Boden liegend in einer Lache seiner Exkremente. Sie säuberten und badeten ihn, hoben ihn auf und legten ihn auf eine Bettstatt. Dann tadelte Gotama die anderen, weil sie die ethische Pflicht gehabt hätten, einem von ihnen zu helfen.
Indem er sich mit dem kranken Pilger identifiziert, zeigt er, dass das Erwachen, das er verkörpert und für das er steht, in unserer Fähigkeit wurzelt, uns um die konkreten Leiden anderer Menschen zu kümmern. Die Episode zeigt, dass diese Fürsorge ein spontaner, empathischer und von Herzen kommender Akt war. Sie zeigt auch, wie ein Heiler auf dringliche Bedürfnisse einer anderen Person reagiert: er stellt keine abstrakte Diagnose, warum dieser Mensch in Not ist. In Gotamas Lehrreden finden wir öfters Vergleiche mit einem kundigen Arzt, um zu illustrieren, wie man den Dharma praktizieren kann.
Gotama lud seine Anhänger ein, sich an vier Aufgaben zu halten, die miteinander in Beziehung stehen: sie sollten Schmerz akzeptieren, ihre reaktiven Emotionen sein lassen, wahrnehmen, wie die Reaktivität aufhört und mit Sorgfalt und Fürsorglichkeit handeln.
Angesichts der drohenden Klimakatastrophe ist es möglich, dass intelligentes Leben auf der Erde nicht fortbestehen kann. Das würde auch die Möglichkeit umfassen, dass wir ausgelöscht werden. Wir sollten uns nicht von Angst lähmen lassen, sondern in einem Zustand angstfeier Aufmerksamkeit verharren und von dort aus angemessen auf die Herausforderungen reagieren, die uns und kommenden Generationen bevorstehen. Was kann das konkret bedeuten? Nach der Überlieferung waren Gotamas letzten Worte : die Dinge fallen auseinander; beschreitet den Pfad mit Sorgfalt und Fürsorglichkeit. Für ihn waren das die Kardinaltugenden, die alle anderen umfassen.
Dafür ist es nicht notwendig, an Wiedergeburt und an das Gesetz des Karma zu glauben oder daran festzuhalten, dass Anhaften der Grund des Leidens ist und Nirwana dessen Ende. Solche Glaubenssätze können uns beim Engagement angesichts der drohenden Klimakatastrophe im Weg stehen. Der Dalai Lama wurde in einem Interview im Jahre 1989 gefragt, ob ein Buddhist sich Sorgen über die Zerstörung der Umwelt machen sollte. Seine Antwort war: Ein Buddhist würde sagen: Das ist nicht wichtig. Denn sogar wenn die Welt immer unbewohnbarer würde und das Auslöschung von einer Vielzahl von Lebewesen zur Folge hätte, würden die, die untergingen, nach dem Gesetz des Karma in anderen Gefilden oder einem anderen Universum wiedergeboren werden. Buddhisten könnten sehr wohl tiefes Mitgefühl empfinden gegenüber denen, die unter den Konsequenzen des Klimawandels leiden und ihr Bestes tun, dieses Leiden zu lindern; schlussendlich würde irgendeine Art von Bewusstsein den Tod überdauern und wiedergeboren werden. Was wirklich zähle: sich vom Zyklus der Wiedergeburten zu befreien und ewigen Frieden in Nirvana zu finden.
Für orthodoxe Buddhisten (wie auch für Hindus und Jains) wäre es besser, nicht geboren zu werden und nicht zu sterben. Daher ist Nirvana, das Ende des Leidens, auch das Ende des Lebens. Allerdings verzichten Mahayana-Buddhisten auf Nirvana und geloben, aus Mitgefühl mit anderen so lange nicht wiedergeboren zu werden, als fühlende Wesen noch immer im Zyklus von Geburt und Tod gefangen sind. Wenn der Bodhisattva alle diese Lebewesen befreit hat, geht sie/er auch in Nirvana ein und wird nicht mehr wiedergeboren. Auch wenn das eine nicht messbare Zeit lang dauere, bleibt das Prinzip das Gleiche: Nichtleben ist dem Leben vorzuziehen.
Im Gegensatz dazu fordern die vier Aufgaben direktes Engagement im Leben selbst, ohne sich um irgendwelche vorgefassten Meinungen über den Anfang und das Ende des Leidens oder über die Natur des Selbst zu kümmern. Indem man eine in kontemplative, empathische und existielle Beziehung mit die Leid dieser Welt tritt, versucht man, mit situationsangepasstem Mitgefühl zu reagieren. Die Herausforderung in der gegenwärtigen Krise, die ohne Vorbild ist, besteht darin, kreative Antworten zu finden, die auch ohne Vorbild sind. Wir sollten die Rolle der psychologischen Faktoren wie Gier, Hass und Dummheit in Rechnung stellen, und es sollte unsere größte Sorge sein, auf die biologischen, sozialen, ökonomischen, religiösen und politischen Bedingungen zu antworten, die der Krise zugrunde liegen und die zu ihr beitragen.
Die Meditation eines traditionellen Buddhisten über den Tod erfordert, dass die Sicherheit des Todes ins Auge gefasst wird und zugleich die Unsicherheit über dessen Zeitpunkt; und dann bei der Frage zu verweilen, wie wir jetzt angesichts der Bedingung der Sterblichkeit leben sollten. Diese persönliche Reflexion des Homo Sapiens würde etwa so aussehen:
Auslöschung ist sicher
der Zeitpunkt der Auslöschung ist unsicher
wie sollten wir jetzt leben?
Auslöschung ist sicher. Entweder wird die menschliche Rasse sich zu einer Lebensform entwickeln, die wir uns jetzt noch gar nicht vorstellen können, oder wir schaffen es, in einer mehr oder weniger humanoiden Form zu überleben und dann hinweggefegt zu werden, wenn die Sonne etwa in einer Milliarde von Jahren so heiß geworden ist, dass Leben unter ihr nicht mehr möglich sein wird. Aber keines dieser Szenarios ist sicher. Ein massiver Meteoriteneinschlag, eine sehr ansteckende Krankheit, Vulkanausbrüche, Zerstörung durch nukleare Waffen oder die Auswirkungen des Klimawandels könnte der menschlichen Existenz schon früher ein Ende bereiten, vielleicht schon in diesem Jahrhundert.
So wie der Tod unsere Aufmerksamkeit darauf richtet, was für uns als Individuen wichtig ist, richtet Auslöschung unsere Aufmerksamkeit auf das, was für uns als Gattung Mensch wichtig ist. Wenn wir der Auslöschung ins Auge sehen, werden wir intensiv gewahr, dass wir komplexe, denkende, fühlende, empfindende und fürsorgliche Wesen sind, die vor Millionen von Jahren durch Evolution und natürliche Selektion entstanden sind. Für selbstbewusste Tiere wie du und ich kann die Betrachtung der Auslöschung dazu führen, dass sich ein Raum des Wunderns eröffnet über die Herrlichkeit, überhaupt am Leben zu sein.
Aber ist es lebenswert, einfach nur am Leben sein? Ist die Entstehung und Entwicklung vom Leben einer Kaulquappe zu einem Silberrücken-Gorilla ein Gut, das für sich selbst steht? Oder ist “ kostbare menschliche Wiedergeburt“ nur deshalb so schätzenswert, weil sie es uns ermöglicht, uns von den sinnlosen ewigen Wiederholungen von Samsara ( in alle Ewigkeit von der Hölle in den Himmel und wieder zurück ) zu befreien und Nirwana zu erreichen, wo es Geburt und Tod nicht mehr gibt?
‘Embracing Extinction: Will Buddhism change to face humanity’s impending peril?’
Published with the kind permission of Tricycle magazine and Stephen Batchelor
Übersetzung aus dem Englischen von Eva-Maria Glatz