Dieser Essay lotet die Möglichkeit einer vollständig säkularen Neudefinition von Buddhismus aus. Er argumentiert, dass eine solche säkulare Re-Formation über das Modifizieren einer traditionellen buddhistischen Schule, Praxis oder Ideologie hinausgehen würde, welches nur auf ihre Vereinbarkeit mit der Moderne abzielt, sondern ein grundlegendes Überdenken der Kernideen beinhalten würde, auf denen die Konzeption des «Buddhismus» beruht. Beginnend mit einer kritischen Interpretation der vier edlen Wahrheiten, wie sie in Buddhas erster Lehrrede dargelegt werden, schlägt der Autor vor, Erwachen nicht im Sinne von «Wahrheiten» zu begreifen, die zu verstehen sind, sondern als «Aufgaben», die zu vollenden sind. Solch eine pragmatische Herangehensweise macht es möglich, über die Grenzen einer auf Glauben beruhenden Metaphysik der klassischen indischen Erlösungslehre (Buddhismus 1.0) hinauszugehen, und zu einer praxisbezogenen, post-metaphysischen Vision des Dharmas (Buddhismus 2.0) zu gelangen.
1.
Ich werde den Begriff «säkular» in drei sich überlappenden Bedeutungen verwenden: (1) Im gewöhnlichen Sinne, so wie das Wort in den zeitgenössischen Medien gebraucht wird: «säkular» bezeichnet das, was im Kontrast oder Gegensatz zu dem steht, was auch immer als «religiös» bezeichnet wird. Wenn während einer Podiumsdiskussion über irgendein Thema, zB die Existenz Gottes, der Moderator eingreift: «Und jetzt möchte ich X einladen, zu dieser Frage eine säkulare Perspektive zu bieten», dann wissen wir, was gemeint ist, ohne vorher «säkular» oder «religiös» genauer definieren zu müssen. (2) Ich werde den Begriff auch im vollen Bewusstsein seiner etymologischen Wurzel im lateinischen «saeculum» gebrauchen, welches das «jetzige Zeitalter», das «gegenwärtige Jahrhundert», die «jetzige Generation» bedeutet. Ich verwende also «säkular», um Bezug zu unseren Anliegen in dieser jetzigen Welt zu nehmen, da heisst, auf alles, was die Qualität unserer persönlichen, sozialen und umweltbedingten Lebenserfahrung auf diesem Planeten betrifft. (3) Zugleich verstehe ich den Begriff in seinem westlichen, historisch-politischen Sinne, indem ich (in Don Cupitt’s Definition) auf «die Verlagerung der Herrschaft über einen gewissen Lebensbereich von der Kirche zur ‹diesseitigen Macht› des Staates» Bezug nehme. Cupitt weist darauf hin, wie über die letzten zwei-, dreihundert Jahre ein «umfangreicher und langfristiger Säkularisierungsprozess schrittweise unsere ganze Kultur transformiert, während der religiöse Bereich allmählich schrumpft, bis letztendlich die Mehrheit der Bevölkerung beinahe ihr ganzes Leben verbringen kann, und es auch tut, ohne an Religion auch nur einen Gedanken zu verschwenden,» (Cupitt 2011, 100).
Meine Absicht ist es aufzuzeigen, was passieren könnte, wenn «Buddhismus» oder «dharma» rigoros durch diese drei Bedeutungen des Begriffs «säkular» bestimmt werden. In anderen Worten, wie würde wohl ein nicht-religiöser, diesseitiger, säkularisierter Buddhismus aussehen? In welchem Ausmaß können wir diesen Säkularisierungsprozess bereits beobachten? Kann der Buddhismus – so wie er traditionell verstanden wird – diesen Prozess unversehrt überleben? Oder erleben wir das Ende des Buddhismus, zumindest so wie wir ihn kennen, und den Beginn von irgendetwas anderem?
2.
Geburt ist Leid, Altern ist Leid, Krankheit ist Leid, Sterben ist Leid, Ungeliebtem begegnen ist Leid, getrennt sein von Geliebtem ist Leid, nicht zu erhalten, was man sich wünscht, ist Leid, kurz gesagt, die fünf Gruppen des Anhaftens sind Leid.
Erste Lehrrede (Dhammacakkappavattana-Sutta, MV.I.06, 19)1
Kürzlich unterrichtete ich bei einem buddhistischen Lehrgang, der an einem Vipassana-Meditationszentrum in England durchgeführt wurde, eine Gruppe von Studenten. Wie im ersten Modul des Kurses üblich, stellten sich die Studenten vor und gaben Auskunft darüber, wie und warum sie sich eingeschrieben hätten. Eine junge Frau, «Jane», erzählte, wie sie zu ihrem Arzt gegangen sei, um nach einer Therapie gegen Schmerzen zu suchen, die durch Narben infolge schwerer Verbrennungen verursacht wurden. Der Arzt überwies sie an eine Schmerzklinik in London, welche ihr zwei Möglichkeiten anbot: eine Serie von Steroidinjektionen, oder einen achtwöchigen Kurs in Achtsamkeitsmeditation. Jane entschloss sich für die Achtsamkeit und fand, als sie den Kurs abgeschlossen hatte, dass es funktionierte,.
Das bedeutete nun nicht, dass der Schmerz wie durch ein Wunder verschwunden war, sondern dass Jane fähig war, auf eine Weise damit umzugehen, dass die damit verbundenen Leiden zurückgingen, und es ihr ermöglichte, ein erfüllteres und aktiveres Leben zu führen. Kein Zweifel, die meisten Patienten hätten es dabei bewenden lassen und die Achtsamkeit einfach als eine wirksame Technik im Umgang mit Schmerz angewendet. Andere, wie Jane, scheinen jedoch zu merken, dass die Fähigkeit, die sie gelehrt worden war, Auswirkungen hatte, die über eine simple Schmerzlinderung hinausgingen. Obwohl Ärzte und Therapeuten, welche die Achtsamkeit in einem medizinischen Setting anwenden, absichtlich jegliche Bezugnahme auf den Buddhismus vermeiden, muss man kein Raketeningenieur sein, um herauszufinden, woher das kommt. Eine Google-Suche wird einem sagen, dass Achtsamkeit eine Form von buddhistischer Meditation ist.
Jane ist nicht die einzige Person, die ich getroffen habe, deren buddhistische Praxis durch Einwirkung von Achtsamkeit bei einer medizinischen Behandlung begann. Bei jedem buddhistischen Meditationskurs, den ich in diesen Tagen leite, gibt es gewöhnlich ein bis zwei Teilnehmer, die es zum Retreat gezogen hat, weil sie ihre Praxis einer «säkularen Achtsamkeit» (wie es jetzt oft heisst) nun in einer Umgebung vertiefen möchte, die einen reicheren kontemplativen, philosophischen und ethischen Horizont anbietet. Für manche Leute ist eine unbeabsichtigte Folge solcher Achtsamkeitspraxis die Erfahrung eines ruhigen, lebendigen und losgelösten Gewahrwerdens, das mehr beinhaltet, als nur mit einem Schmerz fertig zu werden; es eröffnet eine neue Perspektive darauf, wie man mit der Gesamtheit der eigenen Existenz klar kommt: Das heißt, mit Geburt, Krankheit, Altern, Tod, und allem anderen, das unter die große Überschrift dessen fälltwas Buddha als dukkha bezeichnet hat. Bereits der einfache (wenn auch nicht zwangsläufig leichte) Schritt, Abstand zu nehmen und sich achtsam der eigenen Erfahrung auszusetzen, anstatt unkritisch von den Mustern gewohnheitsmäßiger Gedanken und Gefühle überwältigt zu werden, kann einen flüchtigen Eindruck auf eine innere Freiheit ermöglichen, die darin besteht, nicht (mehr) auf all das zu reagieren, worauf der eigene Geist insistiert, dass man es tut. Die Erfahrung solch einer inneren Freiheit, möchte ich behaupten, gibt einen Vorgeschmack auf nibbāna (Nirvana) selbst.
Diese Geschichte illustriert gut die drei Bedeutungen des oben erläuterten Begriffes «säkular/weltlich». Hier haben wir es (1) zu tun mit einer Praxis von Achtsamkeit, die ohne jeglichen Bezug zu Religion dargestellt und ausgeübt wird; (2) die sich umfassend mit der Qualität ihres oder seines Leben in dieser Welt, dieser Generation, dieses Jahrhunderts befasst; und (3) ist es ein Beispiel dafür, wie der «Staat», in Janes Fall in Form des Britisch National Health Service, von einem gewissen Lebensbereich Besitz ergriffen hat, der traditionellerweise in der Domäne einer «Kirche» lag, in diesem Fall des Theravada Buddhismus. Freilich, was Jane und andere betrifft, ihre Praxis einer säkularen Achtsamkeit hörte hier nicht auf, sondern öffnete ihnen unerwartete Tore in andere Lebensbereiche, von denen einige als die traditionellen Domänen der Religion bezeichnet werden könnten. Vielleicht ist das Eindringen der Achtsamkeit in das Gesundheitswesen so etwas wie ein buddhistisches trojanisches Pferd. Ausnahmsweise einmal ist Achtsamkeit in den Geist/Gehirn eines verständnisvollen Wirtes eingepflanzt worden; dharmische Meme können sich wie Viren verbreiten, schnell und unvorhersehbar.
3.
Diese Art Buddhismus, die von Jane und anderen auf Grund ihrer Achtsamkeits-Praxis ausgewählt wurde, mag, wenn überhaupt, wenig mit Buddhismus zu tun haben, wie er traditionellerweise verstanden und präsentiert wird. Unter «traditionellem Buddhismus» verstehe ich jede Schule oder jedes Lehrgebäude, das innerhalb der soteriologischen Weltsicht des alten Indien tätig ist. Sei es «Hinayana» oder «Mahayana» in seiner Ausrichtung, alle diese Formen von Buddhismus betrachten das Erreichen des nibbāna als letztes Ziel ihrer Praxis, das heisst das vollständige Loslassen des Verlangens (taṇhā), das den unablässigen Kreislauf von Geburt, Tod und Wiedergeburt antreibt. Solches Verlangen liegt an der Wurzel von Gier, Hass und Verwirrung, die einen veranlassen, Handlungen zu begehen, die ihrerseits verursachen, dass man nach dem Tod unter mehr oder weniger günstigen Bedingungen im Samsara wiedergeboren wird. Obwohl ich diese Formulierung der existenziellen Ausweglosigkeit und ihrer Auflösung in buddhistischen Begriffen dargestellt habe, wird das gleiche soteriologische Bezugssystem auch von den Hindus und Jainas geteilt. In allen diesen indischen Traditionen erlangen Adepten Erlösung oder Befreiung dadurch, dass sie den Mechanismus zu Ende bringen, welcher den Kreislauf von Geburt und Tod aufrechterhält, wodurch sie das «Todlose» (Buddhismus) oder die «Unsterblichkeit» (Hinduismus) erreichen – obgleich beide Begriffe eine Übersetzung des gleichen Wortes in Pali/Sanskrit sind: amata/amṛta. Buddhismus, Hinduismus und Jainismus unterscheiden sich bloß in ihren dogmatischen, meditativen und ethischen Strategien, die sie anwenden, um ans gleiche Ziel zu gelangen.
So sehr ist dieses indische soteriologische Bezugssystem im Buddhismus eingebettet, dass Buddhisten es unverständlich finden könnten überhaupt zu erwägen,
es in Frage zu stellen. Denn der Verzicht auf solche Schlüsseldoktrinen wie Wiedergeburt, das Gesetz des Karma und Befreiung vom Kreislauf von Geburt und Tod, würde gewiss das ganze Gebäude des Buddhismus selbst unterminieren. Jedoch für die, die außerhalb der indischen Kultur aufgewachsen sind, und die sich in einer durch die Naturwissenschaften geprägten Moderne zu Hause fühlen, also denen zu predigen, dass man das Dharma nicht «wirklich» praktizieren kann, außer man hält an den Grundsätzen der antiken indischen Soteriologie fest, macht wenig Sinn. Der Grund, dass Leute diese Glaubensvorstellungen nicht mehr akzeptieren können, liegt nicht notwendigerweise darin, dass sie diese als falsch zurückweisen, sondern weil solche Vorstellungen zu sehr von allem übrigen abweichen, was sie über ihre eigene Natur und über die Welt wissen und glauben. Diese Glaubensvorstellungen funktionieren ganz einfach nicht mehr, und die intellektuellen Turnübungen, die man machen muss, um sie irgendwie stimmig zu machen, scheinen kasuistisch und für viele nicht überzeugend. Es sind metaphysische Glaubenssätze, die (wie der Glaube an Gott) weder überzeugend bewiesen noch widerlegt werden können. Man muss sie auf gut Glauben annehmen, wenn auch mit so viel Vernunft und empirischen Beweisen, wie man aufzubringen imstande ist, um sie für sich zu bestätigen.
Um eine Analogie aus der Welt der Informatik zu gebrauchen, so sind die traditionellen Formen des Buddhismus mit Software-Programmen zu vergleichen, die auf dem gleichen Betriebssystem laufen. Ungeachtet ihrer offensichtlichen Unterschiede, teilen Theravada, Zen, Shin, Nichiren und Tibetischer Buddhismus dieselbe zugrundeliegende Soteriologie, nämlich die des alten Indien, wie oben ausgeführt. Diese verschiedenen Formen von Buddhismus sind wie «Programme» (z.B. Textverarbeitung, Tabellen, Bildbearbeitung etc.), die auf demselben Betriebssystem (eine Erlösungslehre) laufen, das ich «Buddhismus 1.0» nennen möchte. Auf den ersten Blick scheint die Herausforderung, die sich dem Dharma beim Eintritt in die Moderne stellt, darin zu bestehen, ein anderes Software-Programm zu schreiben, z.B. «Vipassana», «Soka Gakkai» oder «Shambala Buddhismus», welches eine traditionelle Form des Buddhismus verändern würde, um den Bedürfnissen der heutigen Praktizierenden auf angemessenere Weise zu begegnen. Jedoch ist die kulturelle Kluft, die traditionellen Buddhismus von der Moderne trennt, so groß, dass dies kaum genügen dürfte. Es mag wohl eher nötig sein, das Betriebssystem selbst neu zu schreiben, mit dem Ergebnis, das wir «Buddhismus 2.0» nennen könnten.
4.
Mit welcher Begründung wäre solch ein Buddhismus 2.0 imstande zu behaupten, dass er «Buddhismus» sei und nicht irgendwas anderes? Klarerweise müsste er auf kanonischen Quellentexten beruhen, eine kohärente Interpretation der Schlüssel-Praktiken, Glaubenssätze und ethischen Vorschriften anbieten, und ein genügend reichhaltiges und integriertes theoretisches Modell des Dharma zur Verfügung stellen, um als Basis für eine gedeihende menschliche Existenz zu dienen. Einen Buddhismus 2.0 zu kreieren ist zugegebenermassen ein ambitioniertes Unterfangen, und was nun folgt, kann nicht mehr als ein vorläufiger Entwurf sein. Aber wenn diese Anstrengung nicht unternommen wird, dann glaube ich, dass das Dharma sich zu einer zusehends marginalen Existenz in der Mainstream-Kultur verdammt finden könnte, nur noch auf jene ausgerichtet, die willens sind, die Weltsicht des alten Indien anzunehmen. Was für ein Potential die Lehren des Buddha auch immer haben könnten, um positive Beiträge zu den vielen, drängenden Problemen unseres Zeitalters zu liefern, es könnte dadurch minimiert oder überhaupt nicht realisiert werden.
Die Geschichte des Buddhismus ist die Geschichte seiner eigenen fortlaufenden Interpretation und Darstellung seiner selbst. Jede buddhistische Tradition behauptet, dass sie allein die «wahre» Interpretation des Dharma besitze, während alle anderen Schulen entweder dieser Wahrheit nicht gerecht würden oder «falschen Ansichten» erlegen seien. Heute, aus einer historisch-kritischen Sicht her, erscheinen diese Arten von Behauptungen schrill und hohl. Denn wir erkennen an, dass jede historische Form des Buddhismus abhängig ist von der Vielzahl besonderer und einzigartiger Umstände, in denen sie entstanden ist. Die Idee, dass es einer solchen Schule irgendwie gelungen sei, das unverfälscht zu erhalten, was der Buddha gelehrt habe, während alle anderen gescheitert seien, ist nicht mehr glaubwürdig. Ob es uns gefällt oder nicht, Buddhismus ist unwiderruflich pluralistisch geworden. Es existiert kein unabhängiges buddhistisches Rechtswesen, welches ein Urteil fällen könnte darüber, welche Ansichten richtig und welche falsch sind.
In Bezug auf meine eigene Theorie über Buddhismus 2.0 muss ich vor der Tendenz auf der Hut sein, in genau diese Falle zu tappen, die ich kritisiere. Je mehr ich durch die Kraft meiner eigenen Argumente verführt werde, desto mehr bin ich versucht mir einzubilden, dass meine säkulare Version von Buddhismus das sei, was Buddha ursprünglich gelehrt habe, was die traditionellen Schulen entweder aus den Augen verloren oder verfälscht haben. Dies wäre ein Fehler; denn es ist unmöglich, die Gedanken des historischen Buddhas zu lesen, um in Erfahrung zu bringen, was er «tatsächlich» gemeint oder beabsichtigt hat. Gleichwohl hat jede Generation das Recht und die Pflicht, die Lehren, die sie geerbt hat, neu zu interpretieren. Wenn wir so vorgehen, können wir möglicherweise Bedeutungen in diesen Texten entdecken, die nicht nur klar zu unserem eigenen Zeitalter sprechen, sondern deren sich die ursprünglichen Autoren und ihre Nachfolger nicht bewusst gewesen sein mögen. Wie der Begriff selber nahelegt, enthält «Buddhismus 2.0» natürlich einen Hauch von Ironie. Was ich sage, meine ich zwar mit der größtmöglichen Ernsthaftigkeit, aber ich erkenne an, dass es ebenso bedingt und unvollkommen ist, wie irgendeine andere Interpretation des Dharma.
5.
Wenn irgendein Glaubenssatz als grundlegend für Buddhas Lehre betrachtet werden kann, dann dürften es die vier edlen Wahrheiten sein, wie sie in der Ersten Lehrrede formuliert worden sind, von der angenommen wird, dass sie im Wildpark bei Isipatana (Sarnath) verkündet worden ist, nicht lange nach seinem Erwachen in Uruvelā (Bodh Gaya). Doch wenn wir den Text in der Fassung lesen, in der er uns überliefert wurde (es gibt siebzehn Versionen in Pali, Sanskrit, Chinesisch und Tibetisch), erscheint er auf den ersten Blick fest in der Erlösungslehre des Buddhismus 1.0 verwurzelt zu sein. Das Leiden in Form von Geburt, Krankheit, Altern und Tod (die erste edle Wahrheit) hat seinen Ursprung im Verlangen (die zweite edle Wahrheit). Nur wenn dieses Verlangen durch die Erfahrung von nibbāna (die dritte edle Wahrheit) zu einem Halt gebracht werden kann, wird das Leiden, das durch Verlangen verursacht wird, gleichfalls zu einem Ende kommen. Und der einzige Weg, diese endgültige Befreiung vom Leiden zu verwirklichen, besteht darin, dem edlen achtfachen Pfad zu folgen (die vierte edle Wahrheit). Das Ende vom Leiden ist deshalb nur zu erreichen, indem das Verlangen beendet wird, welches das Rad der Wiedergeburt antreibt. In der Tat verkündet der Buddha gegen Ende der Rede, dass «dies die letzte Geburt» sei. So lange man in dieser Welt als verkörpertes Lebewesen verbleibt, ist das Höchste, das man erreichen kann, eine gewisse Linderung des Leidens. Denn, damit Leiden tatsächlich aufhört, muss man den Prozess der Wiedergeburt überhaupt anhalten.
Eine solche Lesart der Lehrrede würde anscheinend wenig Raum für eine säkulare Auslegung des Textes übrig lassen, wenn überhaupt. Denn diese Welt der Geburt, Krankheit, Altern und Tod, welche unser saeculum ausmacht, ist genau das, was notwendigerweise zu einem Ende gebracht werden muss, wenn wir jemals echte Erlösung oder Befreiung erreichen wollen. Orthodoxer Buddhismus zeigt sich hier im Grunde der indischen asketischen Tradition verpflichtet, die das Leben in dieser Welt als etwas betrachtet, das jenseits von Erlösung ist und dem entsagt werden soll. Der wichtigste Wert der menschlichen Existenz besteht darin, dass sie im Ablauf der unendlichen Runde der Wiedergeburten den günstigsten Zustand darstellt, um geboren zu werden, weil sie eben die besten Bedingungen bietet, der Wiedergeburt überhaupt zu entfliehen. Und das ist nicht nur die Sicht des «Hinayana»-Buddhismus. Die «Mahayana»-Traditionen sagen genau das gleiche, der einzige Unterschied besteht darin, dass der mitfühlende Bodhisattva so lange auf seine oder ihre endgültige Befreiung von der Wiedergeburt verzichtet, bis nicht zuerst auch alle anderen fühlenden Wesen sie erreicht haben.
Dennoch, bei genauerer Analyse dieser Lehrrede treten gewisse Ungereimtheiten in der Struktur des Textes zu Tage. Die Erste Lehrrede kann nicht als wortwörtliche Niederschrift von dem, was der Buddha im Wildpark lehrte, behandelt werden, sondern als ein Dokument, das sich über eine unbestimmte Zeit entwickelt hat, bis es die Form erreichte, in der es heute in den Kanons der verschiedenen buddhistischen Schulen vorgefunden wird. An diesem Punkt kommt uns die moderne, historisch-kritische Wissenschaft zu Hilfe, als ein Mittel, einige der altehrwürdigen Ansichten buddhistischer Orthodoxie zu erschüttern.
6.
Der britische Philologe K.R. Norman ist einer der weltweit führenden Experten auf dem Gebiet der «Mittleren Indo-Ᾱryan Prakrits», d.h. der gesprochenen Sprachen (Prakrits), die aus dem Sanskrit abgeleitet sind, und die nach der klassischen Periode und vor der Neuzeit in Indien verwendet wurden. Zu diesen gehört Pali, die Sprache, in der die Lehrreden, welche dem Buddha zugeschrieben werden, in der Theravada-Schule erhalten sind. In einer aus 1992 stammenden Arbeit unter dem Titel «The Four Nobles Thruths» bietet Norman eine detaillierte philologische Analyse der Ersten Lehrrede an und kommt zu dem überraschenden Schluss, dass «die früheste Fassung dieses Sutta das Wort ariya-saccaṃ (edle Wahrheit) nicht enthalte» (Norman 2003: 223). Aus grammatikalischen und syntaktischen Überlegungen zeigt er auf, wie der Ausdruck «edle Wahrheit» unfachmännisch zu einem späteren Zeitpunkt als dem der ursprünglichen Abfassung in den Text interpoliert worden war. Aber weil kein solcher Originaltext bis auf unsere Tage überliefert ist, können wir nicht wissen, was er wirklich aussagte. Alles was vernünftigerweise gefolgert werden kann, ist, dass statt der Rede von vier edlen Wahrheiten, der Text lediglich von «vier» sprach.
Der Begriff «Edle Wahrheit» wird so sehr als selbstverständlich angenommen, dass wir seinen polemischen, sektiererischen und arroganten Ton gar nicht bemerken. Alle Religionen behaupten, dass das, was sie und nur sie allein lehren, sowohl «edel» als auch «wahr» ist. Dies ist die Art von Rhetorik, wie sie im Religionsgeschäft verwendet wird. Man kann sich leicht vorstellen, wie im Laufe der Jahrhunderte nach Buddhas Tod seine Anhänger, im Laufe des Sich-gegenseitig-übertrumpfen-Wollens der konkurrierenden Sekten im alten Indien, zunehmend überhöhte Ansprüche bezüglich der Überlegenheit der Doktrinen ihres Lehrers machten, was in der Einführung des Ausdrucks «edle Wahrheit» resultierte, um das Dharma zu privilegieren und von dem, was ihre Mitstreiter lehrten, zu unterscheiden.
Eine Implikation von Norman’s Entdeckung ist, dass der Buddha sich möglicherweise überhaupt nicht mit Fragen der «Wahrheit» beschäftigt hat. Sein Erwachen dürfte wenig damit zu tun gehabt haben, eine wahrhaftige Erkenntnis der «Realität» zu gewinnen, oder ein privilegiertes Verständnis darüber, wie die Dinge wirklich sind. Zahlreiche Passagen im Kanon bezeugen, wie sehr der Buddha sich weigerte, die großen metaphysischen Fragen anzusprechen: Ist die Welt ewig, nicht ewig, endlich, unendlich? Sind Körper und Geist dasselbe oder unterschiedlich? Gibt es eine Existenz nach dem Tod, oder nicht, oder keines von beiden, oder beides?2 Statt sich in solchen Diskussionen zu verlieren, bestand er darauf, einen therapeutischen und pragmatischen Weg zu enthüllen, welcher die Kernfrage des menschlichen Leidens betraf. Er erkannte, dass man endlos über die Wahrheit oder Falschheit von metaphysischen Behauptungen diskutieren könnte, ohne jemals zu einer endgültige Entscheidung zu gelangen, und darüber versäumen würde, mit der weit dringenderen Angelegenheit der eigenen Geburt und des Todes, sowie der der anderen, klarzukommen.
Sobald die verführerische Vorstellung von «Wahrheit» den Diskurs des Dharma zu durchdringen beginnt, entsteht die Gefahr, dass der pragmatische Schwerpunkt der Lehre durch spekulative Metaphysik ersetzt wird, und Erwachen wird so als das Erreichen eines inneren Geisteszustandes gesehen, der irgendwie mit einer objektiven metaphysischen «Realität» übereinstimmt. Diese Tendenz wird dann noch ausgeprägter, wenn «Wahrheit» weiter qualifiziert wird, entweder als eine «absolute» (paramattha) oder als eine nur «relative» (samutti) Wahrheit. Obwohl diese Zwei-Wahrheiten-Lehre von zentraler Bedeutung für das Denken aller buddhistischen Orthodoxien ist, kommen die Begriffe «absolute Wahrheit» und «relative Wahrheit»nicht ein einziges Mal im den Sutta oder Vinaya Pitakas (Körbe) des Pali Kanons vor. Doch für die meisten buddhistischen Schulen – einschliesslich des Theravada – wird Erleuchtung heute als das Gewinnen eines direkten Einblicks in die Natur irgendeiner ultimativen Wahrheit verstanden.
Dieses Privilegieren von «Wahrheit», würde ich sagen, ist einer der wichtigsten Indikatoren dafür, wie der Dharma allmählich von einer befreienden Praxis des Erwachens in das religiöse Glaubenssystem namens Buddhismus transformiert wurde.
7.
Öffne ein einführendes Buch über Buddhismus und du wirst üblicherweise auf den ersten paar Seiten eine Aufzählung der vier edlen Wahrheiten finden. Ausnahmslos werden sie in der Form von vier Aussagen vorgestellt werden, ungefähr wie folgt:
1. Leben ist Leiden.
2. Ursprung des Leidens ist Verlangen.
3. Beendigung von Leiden ist nibbāna.
4. Der edle achtfache Pfad ist der Weg, der zur Beendigung des Leidens führt.
Genau durch die Art und Weise, in der diese Information meistens vorgestellt wird, wird der Leser herausgefordert zu überlegen, ob diese Aussagen wahr oder falsch sind. Am Anbeginn jeden Engagements für das Dharma erfährt man sich selber als Spieler des Sprachspiels «Auf der Suche nach der Wahrheit». Die unausgesprochene Annahme besteht darin, dass du dann qualifiziert bist, ein Buddhist zu sein, wenn du glaubst, dass diese Aussagen wahr sind, während du es nicht bist, wenn du sie als falsch erachtest. So wird man stillschweigend aufgefordert, den nächsten Schritt zu tun und eine Unterscheidung zwischen «Gläubiger» und «Ungläubiger» zu bekräftigen, d.h. zwischen denen, die den Zugang zur Wahrheit erlangt, und denen, die ihn nicht erreicht haben. Dies führt die Art von Trennung ein, die letztendlich ebenso zu kultischer Solidarität führen kann als auch zu Hass gegen andere, die nicht die eigenen Ansichten zu teilen. «[W]enn das Wort Wahrheit geäußert wird», bemerkte der italienische Philosoph Gianni Vattimo, «dann wird auch ein Schatten von Gewalt geworfen».3 Aber, falls Mr. Norman Recht hat, dann dürfte der Buddha seine Ideen überhaupt nicht im Sinne von «Wahrheit» dargelegt haben.
Jede dieser Aussagen ist ein metaphysisches Statement, in seiner Art nicht unterschieden von «Gott ist die Liebe», «Schöpfung entsteht durch den Odem des Einen», «Glückseligkeit ist ewige Verbindung mit Brahman», oder «Du kommst zum Vater nur durch mich». Vielleicht wegen der eher psychologisch klingenden und nicht-deistischen Begriffswelt des Buddhismus (ganz zu schweigen von der weit verbreiteten Überzeugung, Buddhismus sei «rational» und «wissenschaftlich») mag man die offensichtlich metaphysische Natur der Behauptungen der vier edlen Wahrheiten nicht bemerken, bis man beginnt, sie entweder zu beweisen oder zu widerlegen.
«Verlangen ist die Ursache von Leiden». Wie ist dann Verlangen die Ursache von Alter? Wie soll Verlangen die Ursache der Schmerzen eines Babys sein, das mit zystischer Fibrose geboren wurde? Wie ist Verlangen die Ursache dafür, in einem Unfall von einem Lastwagen überfahren zu werden? Ich habe festgestellt, dass heutige buddhistische Lehrer, die sich vielleicht mit der Metaphysik von kamma und Wiedergeburt nicht so wohl fühlen, oft versuchen werden, dies psychologisch zu erklären. «Verlangen ist natürlich nicht die Ursache von physischem Schmerz des Alters oder des zerquetscht Werdens unter den Rädern eines 3,5 Tonnen schweren Fahrzeuges», werden sie sagen. «Aber es ist durch das Verlangen, diese Dinge mögen nicht passieren, und durch das Unvermögen, das Leben so zu akzeptieren, wie es uns begegnet, dass wir uns selber unnötigen mentalen Kummer bereiten, zusätzlich zum physischen Schmerz.» Es ist offensichtlich, dass wir uns selbst oft auf diese Weise unnötigen seelischen Schmerz bereiten, und eine Anzahl von Passagen im Pali Kanon kann zitiert werden, um solch eine Lesart zu stützen. Doch wenn der Buddha in der Ersten Lehrrede erklärt, was er unter dukkha versteht, dann beschreibt er es nicht als «unnötigen seelischen Schmerz», sondern als Geburt, Krankheit, Alter und Tod, sowie die «fünf Bündel des Anhaftens» selbst. In anderen Worten: die Gesamtheit unserer existenziellen Situation in dieser Welt. Wenn wir den Text so nehmen, wie er dasteht, dann ist die einzige vernünftige Interpretation der Aussage «Verlangen ist die Ursache von Leiden» die traditionelle: Verlangen ist die Ursache von Leiden, weil Verlangen das ist, was verursacht, dass man sich Taten hingibt, die dazu führen, dass man geboren, krank und alt wird und stirbt. Aber natürlich ist dies Metaphysik: eine Wahrheitsbehauptung, die weder überzeugend bewiesen noch widerlegt werden kann.
In meinem Buch Buddhismus für Ungläubige (1997) habe auch ich den Fehler begangen, dukkha im Sinne von Verlangen zu interpretieren, welches dieses verursachen soll. Ich überlegte, wenn dukkha von Verlangen herrührt, dann muss es sich auf den seelischen Schmerz beziehen, der durch den Griff des Verlangens erzeugt wird. Deshalb übersetzte ich dukkha als «seelischen Schmerz» [in der deutschen Übersetzung des Buches wurde das englische Wort «anguish» mit «Angst» übersetzt, was den Übersetzern dieses Textes aber als besonders unpassend erscheint]. Ungeachtet dessen, ob Verlangen solchen seelischen Schmerz hervorruft oder nicht, das ist nicht wie dukkha in der Ersten Lehrrede dargelegt wird. Als ein Ergebnis dieser Art Interpretation wird dukkha als ein rein subjektives Problem gesehen werden, das durch korrekte Anwendung der Techniken von Achtsamkeit und Meditation «gelöst» werden kann. Denn dukkha ist genau dasjenige Leiden, dass unnötigerweise zu den unausweichlichen Schmerzen und Frustrationen des Lebens hinzugefügt wird. Diese psychologische Lesart dreht die Praxis des Dharmas zusehends nach innen, weg von der Sorge um ein allgegenwärtiges dukkha des Lebens und der Welt, hin zu einer exklusiven, sogar narzisstischen Angelegenheit mit subjektiven Gefühlen von Mangel und Kummer.
8.
Der Begriff «Wahrheit» ist so sehr in unserem Diskurs über Religion verankert, und wird weiter noch verstärkt durch die dem Buddhismus eigene Darstellung der Lehre, dass man es schwierig, sogar bedrohlich, finden könnte, zu «verlernen», (nur) in dieser Weise über das Dharma zu denken und zu sprechen. Doch dieses Verlernen ist genau das, was getan werden muss, wenn wir den Übergang von einem glaubens-basierten Buddhismus (Version 1.0) zu einem praxis-basierten Buddhismus (Version 2.0) unternehmen wollen. Wir müssen uns bis zu dem Punkt trainieren, an dem unsere erste Reaktion beim Hören oder Lesen eines Textes aus dem Kanon nicht mehr «ist das wahr?», sondern «funktioniert das?» ist.
Gleichzeitig müssen wir auch eine kritische Analyse der Texte selbst unternehmen, um, so gut wir aus dieser zeitlichen Entfernung noch können, die zentralen Begriffe und narrativen Strategien zu entdecken, die eine bestimmte Passage oder Lehrrede prägen. Wenn wir die Worte «edle Wahrheit» aus dem Satz «vier edle Wahrheiten» subtrahieren, bleibt bloß das Wort «vier» übrig. Und die knappste Formulierung der vier, die überall in den buddhistischen Traditionen gefunden wird, ist folgende:
Leiden (dukkha)
Entstehen (samudaya)
Aufhören (nirodha)
Weg (magga)
Sobald der Satz des Epithetons «edle Wahrheit» beraubt und nicht mehr in behauptender Sprache formuliert wird, gelangen wir zu den vier Grundpfeilern, auf denen sowohl Buddhismus 1.0 als auch Buddhismus 2.0 aufgebaut sind. Genau so wie es vier Nukleobasen (Cytosin, Guanin, Adenin und Thymin) gibt, aus denen DNS, die Nukleinsäure zusammengebaut ist, welche die genetischen Informationen für alle lebenden Organismen enthalten, so könnte man sagen, dass «Leiden», «Entstehen», «Aufhören» und «Pfad» die vier Nukleobasen sind, die das Dharma, den Korpus an instruktiven Ideen, Werten und Praktiken ausmachen, die alle Spielarten des Buddhismus entstehen lassen.
9.
Verlangen ist repetitiv; es suhlt sich in Anhaften und Gier, obsessivem Schwelgen in diesem und jenem: Das Verlangen nach sinnlichen Gelüsten, Verlangen nach Sein, Verlangen nach Nicht-Sein.
Erste Lehrrede
Carol S. Anderson (1999) folgend übersetze ich samudaya lieber mit dem Ausdruck «Entstehen» als mit dem vertrauteren «Ursprung». Ich stelle auch fest, dass I.B. Horner (1951) es in ihrer Übersetzung der Ersten Lehrrede als «Aufstehen» wiedergibt. Während es unbestreitbar ist, dass von einer frühen Periode an die buddhistische Orthodoxie samudaya so verstanden hat, dass es «Ursprung» oder «Ursache» (von dukkha) bedeute, scheint dies bei näherer Betrachtung eine ziemlich gekünstelte Interpretation. Während der Satz: «Verlangen ist der Ursprung des Leidens» zumindest logisch sinnvoll ist (ob man es glaubt oder nicht), dann ist es plump und unklar, wenn man behauptet: «Verlangen ist das Entstehen von Leiden». In der Ersten Lehrrede wird Verlangen (taṇhā) mit samudaya: «entstehen» identifiziert. Doch wenn man in gewöhnlicher Rede sagt, etwas «entsteht», dann suggeriert dies, dass es aus etwas anderem folgt, wie bei «Rauch entsteht aus Feuer». In der traditionellen Formulierung der vier edlen Wahrheiten jedoch ist dieses allgemeine Verständnis auf den Kopf gestellt: Verlangen, mit samudaya gleichgesetzt, ist nicht das, was aus dukkha entsteht, sondern das, was Anlass gibt, dass dukkha entsteht.
Dass Verlangen das ist, was entsteht, ist hingegen von zentraler Bedeutung für einen anderen klassischen buddhistischen Lehrsatz: für die der zwölf Glieder des bedingten Entstehens (paṭiccasamuppāda). Verlangen, so heißt es, ist das, was aus Empfindungen (vedana) entsteht, die wiederum durch Kontakt, die sechs Sinne, nāmarūpa, und Bewusstsein entstehen. [Vgl. S. 12:1] Gemeinsam beschreibt die Kette von Ursachen, die ihren Höhepunkt in der Entstehung von Verlangen findet, in linearer Abfolge die Gesamtheit der existentiellen conditio humana, die im Buddhismus gemeinhin durch die «fünf Bündel des Anhaftens» (Körperlichkeit, Empfindungen, Wahrnehmungen, Neigungen und Bewusstsein) zusammengefasst werden. Da nun die Erste Lehrrede diese fünf Bündel als Kürzel für das, was mit dukkha gemeint ist, ansieht, dann ist es, entsprechend der zwölf Glieder-Theorie, klar, dass Verlangen das ist, was aus dukkha entsteht, anstatt umgekehrt. «Verlangen» beschreibt alle unsere gewohnheitsmäßigen und instinktiven Reaktionen auf die flüchtigen, tragischen, unzuverlässigen und unpersönlichen Bedingungen des Lebens, mit denen wir konfrontiert sind. Wenn etwas angenehm ist, sehnen wir uns danach, es zu besitzen, und wenn etwas unangenehm ist, sehnen wir uns danach, es loszuwerden. Die Praxis der Achtsamkeit trainiert uns dahin, zu bemerken, wie diese reaktiven Muster aus unserer empfundenen Begegnung mit der Welt entstehen, so dass wir aufhören, von ihren Anweisungen geknechtet zu sein, und wir dadurch die Freiheit erlangen, auf andere Art und Weise zu denken und zu handeln.
Natürlich hören die zwölf Glieder hier nicht auf: Es heisst, dass Verlangen Anlass zum Anhaften (upādāna) gibt, das wiederum Anlass zum Werden (bhava) gibt, was zu Geburt, Altern und Tod führt, womit die Abfolge vollständig ist. Dadurch bestätigt diese Theorie den orthodoxen Glauben, dass Verlangen der Ursprung von Geburt, Krankheit, Altern und Tod ist, d.h. dukkha. Während es nicht schwer ist zu sehen, wie Verlangen zu Anhaften führen dürfte, habe ich nie verstanden, wie Anhaften Anlass zu Werden geben sollte, das seinerseits Anlass zu Geburt gäbe.4 Wie sollen Emotionen wie Verlangen und Anhaften Anlass geben zu einem existenziellen Zustand des Werdens, welches dann irgendwie als Bedingung dafür diente, dass man sich innerhalb einer befruchteten Eizelle wiederfindet? Die empirische Präzision, welche die Glieder von «Bewusstsein» und nāmarūpa zu «Verlangen» charakterisiert, wird in den darauffolgenden Gliedern durch etwas ersetzt, das metaphysische Spekulation zu sein scheint.
Warum waren die frühen Buddhisten so darauf versessen zu insistieren, dass Verlangen die Ursache von Geburt, Krankheit, Altern und Tod sei? Eine Antwort könnte sein: Damit buddhistisches Denken eine überzeugende Darstellung der Schöpfung liefern konnte, die mit dem Weltbild des alten Indien und den impliziten, tröstlichen Schemata übereinstimmen würde.5 Zu sagen, «Verlangen ist die Ursache von Leiden», ist einfach ein Wiedererzählung des vorherrschenden indischen Verständnis über den Ursprungs der Welt, wie es in den Veden und Upaniṣaden vorgefunden wird. In der Ṛg-Veda finden wir einen Bericht über die Schöpfung, welcher beschreibt, dass «es am Anfang das Begehren (kāma) gab» (X.129 –unveröffentlichte Übersetzung von Dr. John Peacock). Die vorbuddhistische Bṛhadāranyaka Upaniṣad geht noch darüber hinaus und erklärt, wie eines Menschen Begierden (kāma) zu Handlungen (karma) führen, die wiederum dazu führen, dass er in die Welt wiedergeboren wird, während «jemand, der vom Begehren befreit ist», eins wird mit Brahman und nach dem Tod «zu Brahman eingeht» (IV. 4:5–6). Das buddhistische Zwölf-Glieder-Modell bietet eine nicht-deistische Version des gleichen Prozesses: Verlangen führt zu Wiedergeburt und das Stoppen von Verlangen resultiert in Befreiung von Wiedergeburt. Obwohl Buddhisten den Begriff taṇhā (Verlangen) statt kāma (Begierde) verwenden, ist kāma nichts desto trotz eine der drei Arten von taṇhā, wie sie in der Ersten Lehrrede beschrieben werden. Kāmataṇhā bezieht sich auf das Verlangen nach sinnlicher Begierde, während bhavataṇhā mit der narzisstischen Sehnsucht nach Beständigkeit zu tun hat, und vibhavataṇhā die von sich selbst angewiderte Sehnsucht nach Vergehen bedeutet.
Doch wenn wir bedenken, was wahrscheinlich eine frühere Version der Glieder-Theorie des bedingten Entstehens ist, beschrieben im Sutta-Nipāta (Sn. 862–74), dann werden uns da nicht zwölf sondern sechs Glieder präsentiert. Anstatt zu erklären zu versuchen, wie Altern und Tod entstehen, versucht diese Version bescheidener zu beschreiben, wie «Zank, Streitigkeiten, Klagen und Trauer, zusammen mit Geiz, Stolz, Arroganz und Verleumdung» entstehen. Sie bietet nichts mehr als eine empirische Analyse von menschlichen Konflikten. Der Buddha stellt fest, dass Konflikte aus dem entstehen, was einem hohen Stellenwert beigemessen wird, dass ein hoher Stellenwert aus Sehnsucht (chanda) entsteht, dass Sehnsucht daraus entsteht, «was angenehm und unangenehm in der Welt ist», was wiederum aus Kontakt entsteht, welcher sich seinerseits aus nāmarūpa ergibt, d.h. dem In-der-Welt-Sein. Angesichts der Tatsache, dass religiöse Lehrsätze dazu tendieren, im Laufe der Zeit eher länger als kürzer zu werden, ist diese Sechs-Glieder-Version wahrscheinlich näher an dem, was ursprünglich gelehrt wurde. Sie bietet eine Untersuchung der Ursprünge von Konflikten in dieser Welt an, ohne Bezug auf irgendwelche metaphysischen Begriffe wie bhava oder Wiedergeburt. Es ist auch erwähnenswert, dass anstelle von «Verlangen» (taṇhā) das Sutta-Nipāta den neutraleren Begriff chanda verwendet – die einfache «Sehnsucht», «Wunsch», oder «Verlangen» nach etwas.
10.
Yaṃ kiñci samudayadhammaṃ sabbaṃ taṃ nirodhadhammam. Dies sind die letzten Worte der Ersten Lehrrede, geäußert von Koṇḍañña, einem der fünf Asketen, an welche die Lehrrede gerichtet war, als eine Bekundung seiner Einsicht, über die der Buddha sprach. Sie bedeuten wörtlich: «Was immer ein entstehendes Dhamma ist, das ist ein vergängliches Dhamma», oder, prägnanter und umgangssprachlicher: «Was immer entsteht, das vergeht». Auch Sāriputta, welcher der führende Schüler Buddhas wurde, soll diesen Satz als eine Bekundung seiner Einsicht nach dem ersten Hören einer Zusammenfassung des Dharmas geäussert haben. [Horner (1951), p. 54]
Man wird bemerken, dass der Satz zwei Begriffe der vier enthält, nämlich den zweiten und den dritten: Entstehen (samudaya) und Vergehen (nirodha). Im Kontext des sutta ist klar, dass Koṇḍañña nicht eine banale Verallgemeinerung nach dem Motto «Was hinauf geht, muss herunterkommen» äußert. Er beschreibt die zentrale Verschiebung, man könnte sogar sagen den «Angelpunkt», um den sich die Vier drehen, die er eben für sich selber erfahren hatte («das leidenschaftslose, makellose Dharma-Auge entstand in Koṇḍañña»).
Die Erste Lehrrede definiert Vergehen als:
Das spurlose Ausklingen und Vergehen von diesem Verlangen, sein Loslassen und Aufgeben, die Freiheit und Unabhängigkeit von ihm.
Weil ausdrücklich festgestellt wird, dass das, was vergeht, das Verlangen ist, ist somit klar, dass das, was entsteht, auch Verlangen ist. Koṇḍañña’s Äußerung bietet das stärksten Indiz, dass sich samudaya auf das Entstehen von Verlangen bezieht, nicht auf das Entstehen von Leiden, wie es traditionellerweise gelehrt wird. Weil Verlangen etwas ist, das entsteht, ist Verlangen auch etwas, das vergeht ‒ dies ist Koṇḍañña’s Einsicht, nämlich die «Öffnung» seines «Dharma-Auges», welche der erste flüchtige Blick auf die Freiheit des nibbāna ist: das Vergehen von Verlangen, wenn auch nur für einen Moment.
In der Lehrrede an Kaccānagotta finden wir erneut die beiden Begriffe samudaya und nirodha, nun als Teil von Buddhas Aufzählung über das, was «vollständige Sicht» (sammādiṭṭhi) ausmacht:
Diese Welt, Kaccāna, hängt zum größten Teil von einer Dualität ab ‒ von der Vorstellung «es ist» (atthita) und der Vorstellung «es ist nicht» (natthita). Aber für einen, der das Entstehen (samudaya) der Welt, wie es sich abspielt, mit vollständigem Verstehen (sammāpañña) sieht, gibt es keine Vorstellung von «es ist nicht» in Bezug auf die Welt. Und für einen, der das Vergehen (nirodha) der Welt mit vollständigem Verstehen sieht, wie es sich abspielt, gibt es keine Vorstellung von «es ist» im Bezug auf die Welt. …… «Alles ist», Kaccāna, ist eine Sackgasse. «Alles ist nicht», Kaccāna, ist eine andere Sackgasse. Ohne sich zu einer dieser Sackgassen zu drehen, lehrt der Tathāgata das Dharma durch die Mitte … [S. 12:15]
Diese Textpassage, die später als die alleinige explizite kanonische Basis für Nāgārjuna’s Philosophie des mittleren Weges dienen sollte [MMK. 15:6–7], dehnt die Anwendung von samudaya und nirodha über das Entstehen und Vergehen von Verlangen hinaus zum Entstehen und Vergehen der Welt aus. Solch eine Sicht befreit einen von dem, was an der Wurzel des Verlangens liegt, nämlich die Verdinglichung der Vorstellungen von «ist» und «ist nicht», die bei Verwendern von Sprache fest verwurzelt ist. Denn einer, der die bedingte, fließende und prozesshafte Natur des Lebens versteht, realisiert, dass die Kategorien von «ist» und «ist nicht» nicht im Stande sind, eine Welt adäquat zu beschreiben, die ein endloses Entstehen und Vergehen ist, und sich immer einem konzeptuellen Begreifen entziehen wird. Das ist, was Nāgārjuna und seine Nachfolger meinen, wenn sie sagen, dass Personen und Dinge «leer von einem Selbst (bzw. Aus-Sich-Heraus-Sein)» (svabhāvaśūnya) sind.
Eine solche Einsicht zu gewinnen, bedeutet, zu einer «vollständigen Sicht» zu gelangen, auch bekannt als eine «Öffnung des Dharma-Auges», welche das erste Element des achtfachen Pfades ist. Und der achtfache Pfad, oder der mittlere Weg, das ist es, wie die Erste Lehrrede den vierten Begriff der vier definiert: Pfad (magga). Wir sind nun in der Lage zu sehen, wie die vier eine Bahn beschreiben: Leiden (dukkha) ist das, was zum Entstehen (samudaya) von Verlangen führt, mit dessen Vergehen (nirodha) die Möglichkeit eines Pfades (magga) entsteht.
11.
Die erzählerische Struktur des Textes der Ersten Lehrrede liefert weitere Belege für diese Lesart der Vier im Sinne eines Umrisses eines Verlaufs der Praxis anstatt der konzeptionellen Grundlagen für ein Glaubenssystem. Der Text gliedert sich in vier hauptsächliche Stufen:
1. Die Deklaration eines mittleren Weges, der Sackgassen vermeidet.
2. Die Definitionen der Vier.
3. Die Präsentation der Vier als Aufgaben, die erkannt, durchgeführt und vollendet werden müssen.
4. Die Erklärung, dass unvergleichliches Erwachen durch die Erkenntnis, Durchführung und Vollendung dieser Aufgaben erreicht wird.
Der Schlüssel zum Verständnis der Ersten Lehrrede liegt darin zu sehen, wie jede Stufe des Textes die Voraussetzung für die nächste Stufe ist, und wie die Praxis der einzelnen Elemente der Vier die Voraussetzung für die Ausübung des nächsten Elementes der Vier ist. Diese narrative Strategie ist eine Demonstration des Kernprinzips des bedingten Entstehens (paṭiccasamuppāda) selbst, d.h. «wenn dies ist, wird jenes; wenn dies nicht ist, wird jenes nicht» [M. 79]. In diesem Licht betrachtet, erläutert der Text nicht eine Theorie der «vier Wahrheiten», sondern zeigt uns, wie wir «vier Aufgaben» durchführen sollen.
Wie nun müssen die Vier als vier Aufgaben erkannt, durchgeführt und erfüllt werden? Dies ist, was der Text der Ersten Lehrrede im Wesentlichen sagt:
«So ist dukkha. Es kann vollständig erkannt werden. Und es ist vollständig erkannt worden.
«So ist das Entstehen. Es kann losgelassen werden. Und es ist losgelassen worden.
«So ist das Aufhören. Es kann erfahren werden. Und es ist erfahren worden.
«So ist der Weg. Er kann kultiviert werden. Und er ist kultiviert worden.»
Jedes Element der vier soll (a) als solches erkannt werden, dann (b) damit auf eine bestimmte Weise gehandelt werden, bis (c) diese Handlung vollendet ist. So wird jedes zu einer bestimmten Aufgabe, die in einer bestimmten Art und Weise durchgeführt werden soll. Während dukkha vollständig erkannt werden soll (pariññā), das Entstehen (von Verlangen) losgelassen werden soll (pahāna), soll sein Aufhören erlebt werden, wörtlich: «mit eigenen Augen gesehen» (sacchikāta), und der Weg soll kultiviert, wörtlich: «ins Leben gerufen» (bhāvana) werden.
Wir benötigen nichts weiter als den Text der Ersten Lehrrede selbst um zu entdecken, wie die Vier die Kern-Praktiken des Dharma darstellen: dukkha annehmen, das Verlangen, das in Reaktion darauf entsteht, loslassen, das Verblassen und Aufhören dieses Verlangens erleben, was es erlaubt, den achtfachen Pfad zu beginnen und zu pflegen. Entsprechend dieses Textes ist auch Buddhas Erwachen in diesem Sinne zu verstehen, dass er diese vier Aufgaben selber erkannt, durchgeführt und erfüllt hat. Anstatt seine Erfahrung unter dem Baum bei Uruvelā als einen transzendenten Einblick in die endgültige Wahrheit oder das Ewige zu beschreiben, sagt der Buddha in der Ersten Lehrrede:
Solange mein Wissen und meine Vision über diese zwölf Aspekte der Vier nicht ganz klar war, habe ich nicht den Anspruch geltend gemacht, ein unvergleichliches Erwachen in dieser Welt erlebt zu haben…
Erwachen ist kein singulärer Einblick in das Absolute, vergleichbar mit den transzendenten Erfahrungen, von denen die Mystiker der deistischen Traditionen berichtet haben, sondern eine komplexe Abfolge von miteinander verbundenen Errungenschaften, gewonnen durch die Umgestaltung der Kern-Beziehung zu Leiden, Entstehen, Aufhören und zum Pfad.
Diese Lesart der Ersten Lehrrede beantwortet auch eine Frage, die viele verwirrt hat: Warum werden die vier «Edlen Wahrheiten» in der Abfolge dargestellt, wie wir sie vorfinden? Warum führt der Text zuerst Leiden (eine Wirkung) an, um dann zurück zu gehen und seine Ursache (Verlangen) darzustellen? Und dann, warum bringt er das Ende des Leidens (eine Wirkung), und geht dann zurück, um seine Ursache (den achtfachen Pfad) anzuführen? Diese Abfolge von «Wirkung, Ursache, Wirkung, Ursache» wird allgemein als ein Beispiel von Buddhas «therapeutischem» Ansatz interpretiert. Zuerst muss man erkennen, dass man krank ist, dann geht man zu einem Arzt, der die Ursache der Krankheit diagnostiziert, dann wird der Arzt einem versichern, dass es eine Heilung für die Krankheit gibt, und schließlich ein Heilmittel verabreichen. Diese Metapher ist allerdings nirgendwo in den Lehrreden oder monastischen Ausbildungstexten des Pali Kanons gefunden worden. Es ist ein späterer – und, meiner Meinung nach, ein bemühter – kommentierender Kunstgriff mit autoritärem Unterton, der eingeführt wurde, um die inkongruente Reihenfolge der vorgelegten Wahrheiten zu rechtfertigen. Aber wenn man die vier eher als Aufgaben denn als Wahrheiten versteht, ist das Rätsel gelöst. Die Vier sind in dieser Reihenfolge aufgeführt, weil das die Reihenfolge ist, in der sie als Aufgaben auftreten, die durchgeführt werden sollen: Das Leiden voll zu erkennen führt zum Loslassen von Verlangen, was zur Erfahrung von seinem Aufhören führt, was schließlich zur Kultivierung des Weges führt.
12.
Dieses Gestalt-Kippen (wie ein «Kippbild», das vom Bild einer Vase in eines mit zwei Gesichtern im Profil kippt), das die vier Wahrheiten in vier Aufgaben verwandelt, ist dieselbe Veränderung der Wahrnehmung, die Buddhismus 1.0 zu Buddhismus 2.0 macht. Es ist eine Frage der Neukonfiguration der «Nukleobasen» von dukkha, Entstehen, Aufhören, und Pfad. Anstatt sie als Schlüssel-Elemente eines metaphysischen Glaubens zu behandeln, begegnet man ihnen als zentrale Elemente einer Lebenspraxis für diese Welt.
Für Buddhismus 2.0 es ziemlich unerheblich, ob die Behauptungen «Leben ist Leiden», «Verlangen ist der Ursprung von Leiden», «nibbāna ist das Ende von Leiden», oder «der edle achtfache Pfad führt zum Ende des Leiden» wahr sind oder nicht. Das Ziel der eigenen Praxis besteht nicht darin, solche altehrwürdigen Dogmen zu bestätigen oder zu widerlegen, sondern in einer radikal anderen Weise damit umzugehen, was sich in jedem Moment abspielt. Wenn Leiden in jemandes Leben vorkommt – ob das der infolge einer Grippe passiert, oder weil man nicht den Job bekommt, den man wollte –versucht man vielmehr, es vollständig zu erkennen, anstatt es abzulehnen oder zu verleugnen. Anstatt dich mit Phantasien oder Sorgen abzulenken, konzentrierst du deine Aufmerksamkeit ruhig auf die gefühlte Empfindung dessen, was geschieht. Sobald du diese Aufgabe ausführst, wirst du des «Entstehens» deiner Reaktionen und des Ausmaßes ihrer Kraft intensiv bewusst. Auch sie sollen in dieselbe weite, stille Akzeptanz einbezogen werden. Du wirst dich von narzisstischen oder selbstverachtenden Sehnsüchten durch deren Unterdrückung nicht befreien, sondern durch deren Annahme als das Aufkommen von gewohnheitsmäßigen Neigungen, die psychologisch, kulturell, religiös oder instinktiv bedingt sein mögen.
Leiden vollständig zu erkennen ist nicht ein Ziel für sich, sondern eine Voraussetzung, um das Verlangen, das gewöhnlich in Reaktion auf Leiden entsteht, loslassen zu können. In Buddhismus 2.0 besteht das Problem mit Verlangen nicht darin, dass es Leiden bewirkt (obwohl es dies natürlich manchmal tut), sondern dass es verhindert, dass man in den achtfachen Pfad eintritt. In diesem Sinne ist Verlangen ein Hindernis (nīvaraṇa), etwas, das die ungehinderte Bewegung einer Entwicklung blockiert. Solange man bewusst oder unbewusst den Befehlen der Wünsche zustimmt, die von dukkha ausgelöst werden («Ich will das!» «Ich will nicht das!»), wird man gefangen bleiben in den mächtigen Zyklen sich wiederholender Gedanken und Handlungen, die jeden Versuch unterminieren, sich auf einen Weg des Lebens einzulassen, der nicht mehr von ihnen bestimmt wird. Paradoxerweise wird das Loslassen von Verlangen nicht durch willentliches Verzichten auf es erreicht, sondern durch die Vertiefung und Erweiterung der Annahme der «großen Angelegenheit von Leben und Tod» – wie die Chinesen dukkha nennen –, die das Leben ausmachen.
Im vollständigen Wissen um Geburt, Krankheit, Altern und Tod, wird man die zwangsläufig vergängliche, tragische und unpersönliche Natur der menschlichen Existenz verstehen. Im Laufe der Zeit erodiert dies die unterschwelligen Begründungen von Verlangen: Nämlich dass diese Welt für meine persönliche Befriedigung existiert, und wenn ich meine Karten richtig spiele, indem ich alles erreiche, was ich will, und alles loswerde, was ich hasse, dann werde ich das dauerhafte Glück finden, nach dem ich mich sehne. Eine solche Welt ist, leider, nicht die, die wir bewohnen. Sobald diese Erkenntnis zu dämmern beginnt, werden die Absurdität und Vergeblichkeit der Ambitionen des Verlangens enthüllt. Die Sehnsüchte, Ängste und Animositäten, die gewohnheitsmäßig entstehen, beginnen von selbst weg zu fallen (oder, wenn sie nicht wirklich wegfallen, dann verlieren sie ihre Macht über uns, was ziemlich aufs Gleiche herauskommt), und kulminieren in Augenblicken, in denen sie vollständig aufhören, sodass sich die Möglichkeit zu einem Lebensweg eröffnet, der nicht mehr von ihren Forderungen angetrieben wird, und uns frei macht, anders zu denken, zu sprechen, zu handeln und zu arbeiten.
Dieser Vorgang kann der Einfachheit halber unter dem Akronym ELSA zusammengefasst werden:
Erfassen, Annehmen
Loslassen,
Stoppen, Aufhören
Agieren, Handeln
Man nimmt dukkha an, welche Umstände das Leben auch immer mit sich bringen sollte, lässt das Verlangen los, das in Reaktion darauf entsteht, stoppt das Reagieren, so dass man handeln kann, ohne durch Reaktivität konditioniert zu sein. Dieses Verfahren ist eine Vorlage, die über das gesamte Spektrum der menschlichen Erfahrung angewendet werden kann, von jemandes ethischer Vision bezüglich dessen, was ein «gutes Leben» ausmacht, bis zu jemandes tagtäglichen Interaktionen mit Kollegen am Arbeitsplatz. Buddhismus 2.0 hat kein Interesse daran, ob eine solche Lebensweise zu einem endgültigen Ziel namens «nibbāna» führt oder nicht. Worauf es ankommt, ist ein immer tieferes, immer breiteres Engagement für einen Prozess der Praxis, in der jedes Element von ELSA ein notwendiger und wesentlicher Bestandteil ist. «Aufhören» wird nicht mehr als das Ziel des Weges gesehen, sondern als jene Momente, in denen Reaktivität aufhört (oder aufgehoben wird), sodass die Möglichkeit eines Pfades sich offenbaren und «ins Leben gebracht» werden kann. Genauso wie dukkha das Verlangen entstehen lässt (statt umgekehrt), so lässt das Aufhören des Verlangens den achtfachen Pfad (statt umgekehrt) entstehen. Folglich stellt der Buddhismus 2.0 den Buddhismus 1.0 auf den Kopf.
13.
«Gerade so, ihr Bhikkhus», sprach der Buddha, «wie wenn ein Mann, in der Wildnis im Walde wandernd, eine alte Straße erblickte, einen alten Weg, von Menschen früherer Zeit begangen. Und er folgte der Straße, und ihr folgend erblickte er eine alte Stadt, eine alte Residenz, von Menschen früherer Zeit bewohnt, mit Gärten ausgestattet, mit Hainen ausgestattet, mit Teichen ausgestattet, mit Dämmen versehen, voll Anmut. Und der Mann, ihr Bhikkhus, berichtete das dem Könige oder einem hohen Beamten des Königs: ‹Nimm gütigst Kenntnis, Herr! Ich erblickte, in der Wildnis im Walde wandernd, eine alte Straße, einen alten Weg, von Menschen früherer Zeit begangen. Ich folgte der Straße, und ihr folgend erblickte ich eine alte Stadt, eine alte Residenz, von Menschen früherer Zeit bewohnt, mit Gärten ausgestattet, mit Hainen ausgestattet, mit Teichen ausgestattet, mit Dämmen versehen, voll Anmut. Lasse du, Herr, diese Stadt (wieder) aufbauen!› Und es liesse, ihr Bhikkhus, der König oder der hohe Beamte des Königs die Stadt (wieder) aufbauen, und es wäre die Stadt in der Folgezeit reich und blühend, wohl bevölkert und gedrängt voll Menschen, zu Wachstum und Gedeihen gekommen …» [S. 12:65]
(übernommen aus www.palikanon.com, die Übersetzer)
Zur Erläuterung dieser Geschichte sagt der Buddha, dass der «alte Weg» sich auf den «achtfachen Pfad» bezieht, während die «alte Stadt» sich auf die Vier und das bedingte Entstehen6 bezieht. Er vergleicht sich mit dem Mann, der wandernd in den Wald ging und diese Dinge entdeckte, dann in die Welt zurückkehrte und mit der Hilfe von Königen und Ministern das Dharma und die Sangha einrichtete, die jetzt im ganzen Land aufblühen.
Die narrative Struktur dieses auffallend säkularen Gleichnisses spiegelt eng die narrative Struktur der Ersten Lehrrede wider. Auch sie hat vier wichtige Stufen, die mit denen der Ersten Lehrrede, wie oben in Abschnitt 11 beschrieben, korrespondieren.
1. Die Entdeckung des Waldweges (= die Darlegung eines mittleren Weges).
2. Die Entdeckung der antiken Stadt (= die Darlegung der Vier).
3. Sich betätigen in der Aufgabe der Wiederherstellung der Stadt (= Aufzeigen der Vier als Aufgaben, die erkannt, durchgeführt und abgeschlossen werden sollen)
4. Abschliessen der Aufgabe der Wiederherstellung der Stadt (= Erreichen des unvergleichlichen Erwachens als Folge der Erfüllung der Aufgaben).
Während die Erste Lehrrede diese vier Stufen in Bezug auf das individuelle Erwachen darstellt, bringt die Stadt sie in Bezug zu einem sozialen Projekt, das konkret in der Welt realisiert werden soll. Ebenso wie sie als eine Vorlage zur Führung des eigenen Lebens angeboten werden, werden die Vier nun angeführt, um eine Vorlage für gemeinschaftliche Unternehmungen zu bieten, um eine andere Art von Gesellschaft zu verwirklichen. Die Praxis des Dharma ist daher nicht reduzierbar auf das Erreichen des Erwachens nur für sich. Es ist eine Praxis, die notwendigerweise ein kooperatives Verhalten mit anderen beinhaltet, um Ziele zu erreichen, die erst lange nach dem eigenen Tod verwirklicht werden können.
Beide Texte legen nahe, dass der achtfache Pfad nicht als lineare Abfolge von Phasen zu sehen ist, die in einem endgültigen Ziel resultieren, sondern als eine positive Rückkopplungsschleife, die selbst das Ziel ist. In der Stadt, da führt der achtfache Pfad zur Entdeckung der Vier, aber das vierte der Vier ist der achtfache Pfad selbst, welcher, nach dem Wortlaut, zu den Vier führt, für immer ad infinitum. Um dies klar zu stellen: Leiden vollständig zu erkennen führt zum Loslassen von dem, was entsteht, was zu Momenten führt, in denen aufhört, was entsteht, was eine «vollständige Ansicht» eröffnet, dem ersten Schritt des achtfachen Pfad. Eine solche Sicht bestimmt dann, wie wir denken und Entscheidungen treffen (Schritt 2), was dazu führt, wie wir sprechen (Schritt 3), handeln (Schritt 4) und arbeiten (Schritt 5), was einen ethischen Rahmen bereitstellt, wie man sich anstrengt (Schritt 6), Achtsamkeit (Schritt 7) und Konzentration (Schritt 8) zu kultivieren. Aber worauf soll man achtsam sein? Auf was soll sich einer konzentrieren? Man ist achtsam und konzentriert auf das Leben, wie es sich in jedem Moment bietet, was bedeutet, dass man Leiden vollständig erkennt. Folglich kehrt man mit einem vertieften Grad an Verständnis und einfühlendem Bewusstsein zur ersten Aufgabe der Vier zurück, die zur zweiten Aufgabe führt usw.
Diese Schleife, die ich beschreibe, ist jedoch nicht zyklisch. Wäre es so, würde man sich immer wieder dort wiederfinden, wo man begonnen hat, was analog zu Samsara wäre, dem Kreislauf der wiederholten Geburten und Tode, von dem Buddhisten traditionell Befreiung suchen. Ich vergleiche den Prozess von ELSA mit einer positiven Feedback-Schleife, ähnlich der Kontraktionen bei der Geburt, die das Hormon Oxytocin ausschütten, das wiederum weitere Kontraktionen anregt, was schliesslich zur Geburt eines Kindes führt.7
14.
Und dies ist der Weg: der achtfache Weg: Ganzes Verständnis, ganzes Denken, ganze Rede, ganzes Handeln, ganzer Lebenserwerb, ganze Anstrengung, ganze Achtsamkeit und ganze Konzentration.
Erste Lehrrede
«Wenn, ihr Bhikkhus, ein edler Schüler die Verwirrung über die Vier überwunden hat», erklärt der Buddha, «dann wird er ein Strom-Eingetretener (sotāpanna) genannt» [S. 24:1]. Anderswo definiert Sāriputta explizit den «Strom» als den achtfache Pfad und ein «Strom-Eingetretener» als einen, der einen solchen Weg zu seinem eigenen gemacht hat [S. 55:5]. Der Entfaltungsvorgang von ELSA ist vergleichbar mit dem fließenden Wasser eines Stromes. Eine solche Bildsprache bedeutet, dass, sobald einer sich auf ganze Erkenntnis von dukkha einlässt und dadurch die positive Feedback-Schleife auslöst, was der Weg ist, sich sein Leben nicht mehr so anfühlt, als wäre es irgendwie «eingeklemmt» oder «blockiert» oder «zum Stillstand gebracht». Es beginnt zu fließen. Du erkennst, dass die Frustration, an der Realisierung deiner tiefsten Sehnsüchte gehindert zu werden, dem instinktiven Verlangen geschuldet ist, das ungebeten entsteht und dich auf die ausschließliche Aufgabe fixiert, eine Begierde zu erfüllen oder eine Bedrohung abzuwehren, die deine Aufmerksamkeit ergriffen haben. Zu gewissen Zeiten lohnt es sich natürlich, solche instinktive Reaktionen zu beachten – schließlich sind sie da, weil sie
einen Überlebensvorteil dargestellt haben und immer noch darstellen. Aber diese Instinkte sind so tief verwurzelt, dass sie nun andere Belange überlagern und untergraben, was zu realisieren man sich verpflichtet hat.
Die vollste Darstellung des Strom-Eintrittes (sotāpatti) im Kanon findet sich im Sotāpattisaṃyutta – dem vorletzten Kapitel des Saṃyutta Nikāya. Ein Strom-Eingetretener, sagt dieser Text, ist derjenige, der «klares Vertrauen» (aveccappasāda) in Buddha, Dharma und Sangha besitzt und «die von den Edlen in Ehren gehaltenen Tugenden» verkörpert [S. 55:2]. Der erste Teil davon bezieht sich auf das, was gemeinhin die «Drei Juwelen» genannt wird. Doch anstatt sie als Objekte eines Rituals zu präsentieren, bei dem einer seine Identität als Anhänger der buddhistischen Religion bestätigt, werden sie hier wie die Parameter einer bewussten Neuausrichtung der eigenen ethischen Grundwerte verstanden. Einer, der dukkha «umarmt», Verlangen loslässt, Aufhören von Verlangen erfährt und damit in der Strom des achtfachen Pfad eintritt, ist einer, der zunehmende Klarheit und Vertrauen in eine Lebensweise gewinnt, die auf eine Reihe von Werten gegründet ist, die nicht von den Impulsen von Verlangen angetrieben werden. «Buddha» bezieht sich auf das Erwachen, nach dem einer strebt; «Dharma» auf den Korpus von Anweisungen und Praktiken, die zur Realisierung des Erwachens führen; und «Sangha» auf jene Männer und Frauen, die solche Ziele teilen und durch ihre Freundschaft die Verwirklichung von diesen unterstützen.
Zur gleichen Zeit, sagt man, fallen beim Eintritt in den Strom dieses Pfades drei «Fesseln» weg: Narzissmus (sakkāyadiṭṭhi), regelgebundene Moral und Bräuche (sīlabbata), und Zweifel (vichikicchā) [Sn. 231]. Eine sorgfältige Prüfung des eigenen menschlichen Zustandes lässt sehr wenig übrig, weswegen man narzisstisch sein könnte. Je genauer sich jemand die vergänglichen, tragischen und unpersönlichen Bedingungen der eigenen Existenz anschaut, desto mehr bricht das Spiegelbild des geliebten, faszinierenden Selbst-Bilds auseinander und löst sich auf. Puṇṇa Mantāniputta, der Neffe von Koṇḍañña und Lehrer von Ᾱnanda, vergleicht das Anhaften (upādāna), das aus Verlangen entsteht, mit der Art und Weise, wie «eine junge Frau oder ein Mann, auf Schmuck versessen, das Bild ihres Gesichts in einem Spiegel oder in einer Schüssel mit reinem, klarem Wasser betrachten würde» [S. 22:83]. Durch das Festhalten an ihrer Form in dieser Weise, so erklärt er, entsteht die Einbildung «Ich bin» (asmi). Sakkāyadiṭṭhi, was ich mit «Narzissmus» übersetzt habe, bedeutet wörtlich: «Blick auf den eigenen existierenden Körper».
Darüber hinaus, in dem Ausmaß, in dem man die Komplexität und Einzigartigkeit des eigentümlichen dukkha bei jedem moralischen Dilemma versteht, in dem Ausmaß erkennt man, wie die strengen moralischen Regeln der Religion nicht mehr als grobe Richtlinienfür das Handeln sein können. Einfühlsames Bewusstsein für das Leiden von jemand anderem verlangt eine Resonanz, die nicht von der Einbildung angetrieben wird zu wissen, was im Allgemeinen das Richtige sei, sondern durch mutige Bescheidenheit zu riskieren, was möglicherweise das Klügste und Liebevollste in diesem besonderen Fall ist. Und da der Prozess von ELSA in der Erfahrung aus erster Hand, anstatt im Glauben begründet ist, wenn dieser Weg einmal zum «eigenen» geworden ist, wird es schwierig, wenn nicht unmöglich, Zweifel an seiner Echtheit zu aufrecht zu erhalten.
Als eine religiöse Institution, beherrscht von einer professionellen Elite, hat der Buddhismus im Laufe der Zeit den Strom-Eintritt zu einer solch seltenen geistigen Höhe emporgehoben, dass er schließlich unerreichbar für die meisten engagierten Praktiker des Dharma wurde. Doch die Suttas weisen darauf hin, dass zahlreiche Strom-Eingetretene zur Zeit des Buddha «Männer und Frauen als Laienanhänger, in weißen Kleidern, Sinnesfreuden genießend» waren, die «jenseits des Zweifel gegangen» waren und «unabhängig von anderen in der Lehre» wurden [M. 73]. Vielleicht das verblüffendste Beispiel dafür ist das eines Trunkenboldes namens Sarakāni der Sakiyer, dem der Buddha bestätigte, ein Strom-Eingetretener zu sei, trotz der Einwände der lokalen Bevölkerung [S. 55:24].
15.
Genauso wie das Christentum damit gekämpft hat zu erklären, wie ein im Wesentlichen guter und liebender Gott eine Welt mit so viel Leid, Ungerechtigkeit und Schrecken erschaffen haben konnte, so hat der Buddhismus Schwierigkeiten gehabt, das Vorhandensein von Freude, Vergnügen und Entzücken in einer Welt zu erklären, die angeblich nichts anderes sei als ein Tal der Tränen. Beide Fälle zeigen die Grenzen von glaubensbasierten Systemen des Denkens auf. Sobald du dich verpflichtest, die Wahrheit metaphysischer Sätze wie «Leben ist dukkha» oder «Gott ist gut» aufrecht zu erhalten, wirst du in die endlose Aufgabe verwickelt werden zu versuchen, sie zu rechtfertigen. Im Christentum wird dies «Theodizee» genannt, während die buddhistische Entsprechung als «Dukkhodizee» bezeichnet werden könnte. Praxis-basierte Systeme vermeiden die Sackgasse solcher Rechtfertigungen durch die Verwurzelung in Aufforderungen, etwas zu tun, anstatt in Angeboten, etwas zu glauben. Anstatt deshalb zu versuchen, deine Überzeugung zu rechtfertigen, dass «Leben dukkha ist», versuchst du, «dukkha vollständig zu erkennen». Und anstatt sich abzustrampeln, um zu verstehen, wie «Verlangen der Ursprung von dukkha ist», versuchst du, «Verlangen loszulassen».
Die Suttas enthalten eine Reihe von Passagen, die diesen mehr pragmatischen und nuancierten Ansatz andeuten. «Ich sage nicht, dass der Durchbruch zu den Vier von Leiden begleitet wird», erklärt der Buddha im letzten Kapitel der Saṃyutta Nikāya. «Er ist nur von Glück und Freude begleitet» [S. 56:35]. Leiden vollständig zu umarmen, bedeutet nicht, Leiden zu verstärken, sondern steigert paradoxerweise deine Empfindung des Erstaunens, am Leben zu sein. Durch das «Ja»-Sagen zu Geburt, Krankheit, Alter und Tod, öffnest du dein Herz und Geist für das schiere Mysterium des Seins hier überhaupt erst: Dass du in diesem Moment atmest, den Wind in den Blättern der Bäumen rascheln hörst, du in den Nachthimmel aufschaust und in Staunen verloren bist. An einer anderen Stelle korrigiert der Buddha seinen Freund, den Licchavi Adeligen Mahāli, der am Irrglauben festhält, dass das Leben nichts als Leiden sei: «Wenn dieses Leben, Mahāli, ausschließlich von Leiden durchtränkt wäre», erklärt er, «und wenn es nicht auch von Freude durchdrungen wäre, dann wären Wesen nicht hingezogen zu ihm»[S. 22:60].
Und in einem anderen Text, ebenfalls aus dem Saṃyutta Nikāya, finden wir den Buddha, wie er über seine eigenen Motive für den Anfang seiner Suche nachdenkt. «Als ich noch ein Bodhisattva war», erinnert er sich, «fiel es mir auf: ‹Was ist die Freude (assādo) des Lebens? Was ist die Tragödie (ādhinavo) des Lebens? Was ist die Befreiung (nissaraṇaṃ) vom Leben?› Da, ihr Bhikkhus, fiel es mir auf: ‹Das Glück und die Freude, die durch das Leben bedingt entstehen, dies ist die Wonne des Lebens; dass das Leben vergänglich ist, dukkha und sich ständig verändert, dies ist die Tragödie des Lebens; das Entfernen und Aufgeben, sich an das Leben zu krallen (chandarāga), das ist die Emanzipation vom Leben›» [S. 35:13]. Erst als er alle diese drei Dinge verstanden hatte, kommt er zum Schluss, habe er sich selbst als einer betrachtete, der ein unvergleichliches Erwachen in dieser Welt erreicht hat.
16.
Stellen wir uns ein Kind vor, das im Jahr von Buddhas Tod geboren wurde. Wie der Buddha lebte das Kind auch an die achtzig Jahre, und im Jahr seines Todes wurde ein anderes Kind geboren. Wenn wir diese Sequenz bis bis zum heutigen Tag fortführen, zweieinhalb tausend Jahre später, werden wir feststellen, dass uns nur dreißig Menschenleben von Buddhas Zeit trennen. Aus dieser Perspektive sind wir in der Tat zeitlich nicht so weit weg von einer Zeit, die wir gewohnheitsmäßig, und manchmal ehrfürchtig, als die ferne Vergangenheit betrachten. Das «Alter» des Buddhismus dient als weitere Ausdrucksweise, seine Lehren zu einer größeren Autorität aufzupolieren (was noch weiter verstärkt wird durch den indischen Glauben an die «Degeneration der Zeit», der behauptet, dass die Dinge auf der ganzen Linie seit dem fünften Jahrhundert v. Chr. immer schlechter wurden). Doch was bei einigen der Lehrreden bemerkenswert ist, die in dieser «alten» Zeit entstanden sind, ist, wie direkt und klar sie über die Bedingungen unseres Lebens hier und jetzt im 21. Jahrhundert sprechen. In einem primären, existentiellen Sinn ist die menschliche Erfahrung heute nicht anders, als sie es in Buddhas Zeit war.
Diese Anpassung in der zeitlichen Perspektive stellt die Idee in Frage, dass wir in einem «das Dharma-beendenden Zeitalter» leben, in dem es nicht mehr möglich sei, die Früchte des Weges zu realisieren, wie es von den großen Adepten der Vergangenheit getan wurde. Man könnte solches Denken genauso gut in Feuerbach’schen oder marxistischen Begriffen als eine Instanz der voranschreitenden Entfremdung erklären, die auftritt, wenn ein etabliertes religiöses System, das oft als moralischer Arm einer autoritären politischen Macht dient, behauptet, der einzig wahre Besitzer jener menschlichen Werte wie Mitgefühl und Weisheit zu sein, welche die Tradition hochhält. Durch die Überhöhung des«Strom-Eintrittes», zum Beispiel, zu einer exklusiven spirituellen Errungenschaft, stellt man sie außerhalb der Reichweite des normalen Praktizierenden, und bestätigt dadurch sowohl die höhere Autorität der religiösen Institution und ihrer Vertreter als auch die Ohnmacht der unerleuchteten Laien.
Aber könnten wir uns nicht auch vorstellen, dass, anstatt an ein Ende zu kommen, der Buddhismus vielleicht gerade erst beginnt? Die Säkularisierung des Dharma, die derzeit im Gange zu sein scheint, wäre dann so nicht, wie seine Kritiker beklagen, ein weiteres Indiz für die endgültige Verwässerung und Banalisierung der Lehre des Buddha, sondern ein Zeichen der abnehmenden Macht der Orthodoxie, welche die Macht in den letzten zweitausend Jahren oder so innegehabt hat. Säkularisierung könnte in der Tat den Zusammenbruch des Buddhismus 1.0 markieren, aber sie könnte auch der Vorbote für die Geburt des Buddhismus 2.0 sein.
Für diejenigen, wie Jane und andere, die über den Buddhismus durch ihre Praxis der Achtsamkeit in der medizinischen Behandlung (hinein)stolpern (oder auch, zum Beispiel, durch ihre Wertschätzung der Philosophie des Nāgārjuna, durch ihre Liebe zu Zen Haikus und Tuschmalerei, durch ihre Bewunderung der Persönlichkeit des Dalai Lama oder durch die Sehnsucht nach sozialer Gerechtigkeit als ehemalige Unberührbare in Indien), bietet der Buddhismus 2.0 ein säkularisiertes Dharma, das von einer Soteriologie des alten Indien entbindet und dennoch auf einer kritischen Lektüre der wichtigsten kanonischen Texte wie der Ersten Lehrrede gegründet ist. Durch die Neukonfiguration des Arbeitsprogrammes der Vier bietet Buddhismus 2.0 eine andere Perspektive auf das Verständnis und die Praxis des Dharma, eine, die in der positiven Rückkopplungsschleife ELSA geerdet ist. Es bleibt abzuwarten, ob diese Re-Formation in der Lage ist, eine konsistente und kohärente Interpretation der buddhistischen Praxis, Philosophie und Ethik zu generieren, die als Grundlage für eine blühende menschlichen Existenz in der Art von Welt dienen könnte, in der wir heute leben.
Im Gleichnis vom Floß beschreibt der Buddha «einen Mann im Laufe einer Reise», der an ein Gewässer kommt, dass er überqueren muss. Da keine Boote oder Brücken zur Verfügung stehen, ist seine einzige Option, ein Floß aus «Gras, Zweigen, Ästen, Blättern», und was an anderen Materialien er zur Hand hat, zusammenzuzimmern. Nachdem er es zusammengebunden hat, und «sich mit seinen Händen und Füßen anstrengt», gelingt es ihm, das gegenüberliegende Ufer zu erreichen. Trotz seines offensichtlichen Nutzen, erkennt er, dass es keinen Sinn hat, das Floß weiter zu tragen, nachdem es seinen Zweck erfüllt hat. So lässt er es am Ufer zurück und setzt seinen Weg fort. Ähnlich kommt der Buddha zum Schluss: «Ich habe euch gezeigt, wie das Dharma ähnlich einem Floß dient, zum Zwecke des Überquerens, nicht zum Zweck des Festhaltens» [M. 22]. Diese Geschichte zeigt, wie das Dharma ein zweckmäßiges Hilfsmittel zur Verfügung stellt, um eine dringende Aufgabe zu erfüllen, nicht ein Ziel an sich, das um jeden Preis erhalten werden soll. Sie betont, wie man sich alles zu Nutze machen soll, was an Ressourcen zu einem gegebenen Zeitpunkt vorhanden ist, um das zu erreichen, was du zu tun hast. Es spielt keine Rolle, ob diese Ressourcen das sind, «was der Buddha wirklich gelehrt» oder nicht. Das einzige, was zählt, ist, ob eine solche Zusammenstellung verschiedener Elemente von jeglicher Hilfe ist, um dich über den Fluss zu bringen. So ist es mit dem Buddhismus 2.0. In Anbetracht dieses Gleichnisses macht es wenig Sinn zu fragen: «Ist das wirklich Buddhismus?» Die einzig relevante Frage ist: «Schwimmt es?»
Stephen Batchelor
Erschienen im Journal of Global Buddhism 13 (2012): pp87–107
Übersetzt von Guido Koller und Bernd Kaponig
Bibliographie
Abkürzungen:
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- Diese und alle weitere Zitate aus Buddhas erster Lehrrede sind aus meiner eigenen Übersetzung, die auf http://www.stephen batchelor.org/ index.php/en/stephen/study-tools zugänglich ist. Der Text findet sich im Mahavagga I. 6 (Horner, 1951), pp. 15-17, und auf S. 56:11. ↩
- Der Text lautet wörtlich: «Existiert der Tathāgata nach dem Tod oder nicht …». Meine Gründe, «Tathāgata» mit «jemand» zu ersetzen, sind in Batchelor (2010), p. 263 angeführt. ↩
- Vattimo (2011), p. 77. Vattimo fügt die Einschränkung hinzu: «Nicht alle Metaphysiker sind gewalttätig gewesen, aber ich möchte sagen, dass fast alle Verursacher von Gewalt in großem Maßstab Metaphysiker gewesen sind.» ↩
- Theravada Orthodoxie greift auf die Metaphysik von kamma und Wiedergeburt zurück, um diesen Punkt zu erklären: bhava wird in kammabhava (Handlungen, die Anlass zum Werden geben) und in upapattibhava (das Wieder-Entstehen, das sich aus diesen Handlungen ergibt) aufgeteilt. ↩
- Vgl. Gombrich (2009), Kapitel 3. ↩
- Die Stadt stellt die vier in Verbindung mit zehn Gliedern des bedingten Entstehens dar. Dieses Zehn-Glieder-Modell kommt nur zweimal im Kanon vor (vgl. die Mahāpadāna Sutta in der Dīgha Nikāya, ii. 32). Es ist das gleiche wie das zwölf Glieder-Modell, mit der Ausnahme, dass die ersten beiden Glieder der Unwissenheit (avijjā) und Neigungen (sankhāra) weggelassen werden. Es scheint, dass es eine dazwischenliegende Version ist, die während der Entwicklung der Theorie von sechs zu zwölf Gliedern entstanden ist. ↩
- Dass der Buddha die Praxis, die er lehrte, als ähnlich zur Geburt sah, wird durch eine merkwürdige Passage im Saccavibhanga Sutta (Erläuterung der Wahrheiten, M. 141) suggeriert. In diesem Diskurs kehrt der Buddha nach Isipatana zurück, wo er die Erste Lehrrede darlegte, in Gesellschaft seiner beiden wichtigsten Schüler Sāriputta und Moggallāna. Er ermutigt seine Zuhörerschaft, eine Freundschaft wie die der beiden in ihrer Praxis des Weges zu kultivieren, mit den Worten: «Sāriputta ist wie eine schwangere Frau (janetā); Moggallāna ist wie eine Hebamme (jātassa āpādetā)». Obwohl dieses Sutta, wie es heißt, eine Darstellung der vier «Edlen Wahrheiten» ist, wenn Sāriputta vom Buddha eingeladen wird, sie ihnen zu erklären, deckt sein Vortrag die Definition der vier ab, ignoriert aber die abschließenden Abschnitte der Ersten Lehrrede, die sie als vier Aufgaben beschreiben, die erkannt, durchgeführt und erfüllt werden sollen. ↩
Atheistischer Buddhist – gefällt mir!
Modi
Hallo, Modi,
danke für Dein Interesse und die Rückmeldung!
ich hoffe, Du findest noch andere Texte auf unserer Website, die Dir gefallen!
schöne Grüße
Evamaria
Reformierter Buddhismus
Der Reform-Buddhist Stephen Batchelor ist auf den richtigen Weg, wenn er sagt:
Das es heute Diskussionen gibt, das der Buddhismus sich säkularisieren sollte.
Es werden nicht mehr einfach unkritisch alte Überlieferungen und Regeln übernom-men, sondern nach dem Erkenntnissen und Erfordernissen der heutigen Zeit in Ein-
klang gebracht. Buddhas Worte, treffen hier sehr gut zu. ( Die Rede an die Kalamer, Auszug aus der Lehrrede und sprachliche Formulierung von Peter Riedl )
Geht nicht nach Hörensagen,
nicht nach Überlieferungen,
nicht nach der Autorität heiliger Schriften,
nicht nach der Autorität eines Meisters.
Geht nach der eigenen Erkenntnis.
Nach meiner Überzeugung sollte ein aufgeklärter reformierter Buddhismus, frei von Esoterik und Aberglauben sein, wie z.B. Wiedergeburten.
Frei von korrupten buddhistischen Orden bzw. Mönchen die es sogar fertig bringen, rassistisch gegen andere Religionen aufzuhetzen. Und es geht gar nicht, dass Frauen immer noch als nicht gleichberechtigte Menschen behandelt werden.
Auch im Buddhismus gilt die Regel: “ Was du nicht willst, das man dir tu , das füg auch keinem andern zu “
Mit freundlichen Grüßen
Uwe Meisenbacher
Gelobt sind Buddhas aberglaubens-
und korruptionsfreie Weisheiten.
Beginnend in Abschnitt 7 geht es in Stephens Text zentral um die Frage, ob Leiden durch Verlangen/Begehren entsteht (Lesart A) oder umgekehrt ein leidvoller Zustand zu einem Verlangen führt, dieser möge beendet werden (Lesart B), so dass dann hieraus unnötiger „seelischer Schmerz“ entsteht. die psychologische Lesart B ist meines Erachtens nach diejenige, die auch dem MBSR-Konzept zugrunde liegt und dessen Wirksamkeit begründet, weil wir dabei versuchen, unnötiges seelisches Leiden zu mindern, ohne auf die physischen Ursachen (z.B schwere Krankheit, Arbeitslosigkeit, Tod eines Angehörigen) Einfluss nehmen zu können. Ich halte dies für eine sehr wichtige, weil hilfreiche und leidvermindernde,“Tätigkeit“ und sehe es nicht als ’narzistiche Angelegenheit mit subjektiven Gefühlen von Mangel und Kummer‘ an, wie Stephen dies am Ende von Abschnitt 7 ausdrückt.
An späterer Stelle (9, Mitte) wird ja auch genau dieser Punkt als wertvoll angesehen: ‚Die Praxis der Achtsamkeit trainiert uns dahin, zu bemerken, wie diese reaktiven Muster aus unserer empfundenen Begegnung mit der Welt entstehen, so dass wir aufhören, von ihren Anweisungen geknechtet zu sein, und wir dadurch die Freiheit erlangen, auf andere Art und Weise zu denken und zu handeln.‘
Es geht also darum, Reaktivität zu unterbrechen und dadurch frei zu werden, auf andere Art auf eine Situation antworten zu können.
In Abschnitt 10 wird auch wiederum für diese Lesart B argumentiert – wenn der Wunsch verschwindet, etwas anders haben zu wollen als es aktuell ist, erleiden wir weniger seelischen Schmerz, und genau dies ist doch das Ziel: Leiden – in welcher Form auch immer – zu mindern. Wenn in Abschnitt 12 dann ELSA eingeführt wird, geht es wiederum um das bereits durch Lesart B Gesagte: Erfassen (was ist), Loslassen (des Verlangens, etwas anders haben zu wollen), Stoppen (der Reaktivität) und Agieren (als Möglichkeit bewussten Antwortens/Handelns). L+S bedeutet aber wiederum seelischen Schmerz zu mindern.
Dukkha (verstanden als physischer Schmerz etc.) lässt zwar das Verlangen (nach dessen Ende) entstehen, aber auch umgekehrt (seelischer Schmerz als andere Form von Dukkha) entsteht aus dem Verlangen, wenn wir dieses nicht als Reaktivität erkennen und loslassen.
Zusammengefasst scheint mir daher die Antwort auf die Frage, ob Dukkha aus Verlangen entsteht oder umgekehrt, lediglich eine sprachliche Differenzierung zu erfordern in oben beschriebenem Sinne. Lesart A und Lesart B sind dadurch miteinander verträglich und keine Gegensätze.