Einführung 1
Dieser Workshop schließt an einige der wertvollen Ideen an, die Stephen Batchelor kürzlich präsentiert hat, teils in seinen Vorträgen, teils in den Workshops und Seminaren, die er und Martine Batchelor unter dem Titel „Säkularer Buddhismus“ in Australien gehalten haben. Seine Arbeiten haben vor allem zu einem säkularen Verständnis von Buddhas eigenen Lehren beigetragen und gleichzeitig Bezüge zu alten und modernen westlichen Denkern hergestellt, deren Ideen mit denen des Buddha zusammen stimmen und für Praktizierende im Westen in ihrer Kultur zur Verfügung stehen.
Ich möchte in diesem Workshop unsere Sinne für diese Übereinstimmungen schärfen und dafür, wie sie uns beim Weiterentwickeln von säkularem Dharma und von Praxisgemeinschaften wirksam helfen können, abgestimmt auf unsere eigene Zeit, unsere Kultur und moderne westliche Lebensformen. Sie helfen uns, sammã ditthi (angemessene Sichtweise) zu entwickeln, den ersten Teil des Achtfachen Pfades, denn unsere Perspektive (oder unsere Weltsicht) durchzieht und prägt unsere gesamte Praxis.
Ich werde die Lektüre von Stephens Texten großteils voraussetzen und die Grundlagen von säkularem Dharma nicht behandeln, sondern eher versuchen, ein Spiegelbild von Stephens letzten Arbeiten zu bieten. Das heißt, ich werde wichtige Themen modernen westlichen Denkens präsentieren und ihre Nützlichkeit für einen säkularen Dharma herausarbeiten. Diese Untersuchung führt uns in Grenzbereiche, das heißt in solche, die zwiespältig und umstritten sind, wo zwei oder mehr unterschiedliche Lebensformen aufeinander treffen – daher der Titel des Workshops.
Glücklicherweise helfen uns zwei kürzlich veröffentlichte Bücher bei diesem Unternehmen sehr: Peter Watson, The age of atheists: how we have sought to live since the death of God 2 und Terry Eagleton, Culture and the death of God 3. Sie singen keineswegs aus demselben Gesangbuch, sondern bieten kontrastierende Gewichtungen und Einschätzungen der Gott-ist-tot-Literatur, aber sich auf die Spannungen zwischen ihnen einzulassen, kann sehr lehrreich sein.
Wir leben und praktizieren in einer Kultur, die von christlichen religiösen Konzepten und Institutionen geprägt ist, also müssen wir uns in unserer nach-christlichen Welt orientieren. Ich werde mich stark auf diese beiden Bücher beziehen.
1. Vortrag: Religion nuanciert betrachten
Es scheint, dass in gewissen säkular-buddhistischen Kreisen militante Aversionen gegen Religion gepflegt werden. Die „neuen Atheisten“ – Richard Dawkins, Daniel Dennett, Christopher Hitchens und Sam Harris, die Leute also, deren Bücher sich auf Flughäfen gut verkaufen – werden als Verbündete in einer Art Kreuzzug gegen die traditionellen Religionen, vermeintliche Mächte der Finsternis, dargestellt. In dieser Allianz wird angenommen, man könne Religionen auf ihre Wahrheitsansprüche und Glaubenssätze, die schon vor langer Zeit von der Wissenschaft als unwahrscheinlich entkräftet worden sind, reduzieren. Der unmittelbare Fehler liegt hier darin, dass die vorrangige Bedeutung von Religion als kultureller Praxis übersehen wird 4. Sie war auf diesem Planeten immer die universellste, einflussreichste und populärste kulturelle Praxis und wird es wahrscheinlich bleiben, auch wenn Leute im Westen sie nun schon seit einiger Zeit für weniger nützlich halten als früher5. Genauso wie Kulturen variieren auch Religionen; aber alle stützen sich auf Mythen, Glaubenssätze, Rituale, gemeinschaftliche Formen, moralische Normen und Ähnliches, so wie das alle Einrichtungen der Gesellschaft tun – von Familien bis zu Nationen.
In der Praxis repräsentieren Religionen gelebte Erfahrungen ihrer Anhänger: ihre Bindungen an die Gemeinschaft, ihr emotionales Leben, ihre Sehnsüchte, Passionen, menschlichen Beziehungen und wichtigen Lebensereignisse – ihre Qual und ihre Begeisterung. Durch diese Prozesse haben Religionen vitale menschliche Entwicklungen inspiriert und geprägt, wie etwa Sprache, Literatur, Philosophie, Musik, Architektur, Malerei, Medizin, Wissenschaft und die Entwicklung von Staaten.
Ein Beispiel: die englische Sprache gut zu beherrschen, bedeutet, ihren anerkannten Ahnen viel zu verdanken: Shakespeare und den Autoren der King James Bible. Aber woher hatten die ihre Poesie? Von nirgends sonst als von Thomas Cranmers brillantem Book of Common Prayers (1549), das sie, gesetzlich dazu verpflichtet, jeden Sonntag gebraucht und auf diese Weise auswendig gelernt haben 6.
Der Tod Gottes
Der Angelpunkt christlicher Weltsicht, der einen großen Teil der kulturellen Entwicklung im Westen geprägt hat, ist ‚Gott‘. Gemäß der jüdisch-christlichen Darstellung hat er alles erschaffen und kontrolliert es bis heute. Aber seit der europäischen Aufklärung hat eine wachsende Anzahl von Intellektuellen den Verdacht gehegt, dass Gott nicht existiere (wobei sie darauf achteten, das nicht vor der Dienerschaft zu sagen) 7. 1882 verkündete Friedrich Nietzsche: „Gott ist tot“. Das ist wohl zum maßgeblichsten Aphorismus der Moderne geworden.
Wohlgemerkt: das war nicht mehr als eine Ankündigung, kein begründetes Argument für Atheismus. Nietzsche – der selbst weder ein Freund Gottes noch der Wissenschaft war – hat einfach beobachtet, dass die führenden europäischen Denker aufgehört hatten, sich auf Gott als eine Art ersten Prinzips zu beziehen, und das bedeutete einen Neuanfang. In den USA hat sich aus einem ähnlichen Gedankengang die pragmatische Philosophie entwickelt. In beiden Fällen begann eine neue Phase in der Entwicklung säkularen Gedankenguts.
Das Problem war, dass Gott – obwohl versichert worden war, dass er tot sei – sich einfach nicht hinlegte. Einfache Leute führten weiterhin ihr religiöses Leben und trafen sich, um ihn zu verehren und zu ihm zu beten. Gleichzeitig machte sich der überwiegende Teil der Intellektuellen, gewöhnt an ein großes, überwölbendes Prinzip, an dem sie sich mit ihren Gedanken orientieren konnten, auf die Suche nach Surrogaten, Vizekönigen, Notlösungen, Platzhaltern und Vertretungen für Gott 8. Wer oder was sollte nach dessen Niedergang die Rolle eines Garants von Einheit, Kohärenz und Bedeutung im Universum übernehmen?
Für altmodische Rationalisten des 19. Jahrhunderts war Wissenschaft und ihr transzendenter Materialismus die naheliegende Wahl, um das riesige gottesförmige Loch im Universum zu füllen. Ihre heutigen Erben (die neuen Atheisten) setzen sich weiterhin dafür ein. Aber viele fanden die Referenzen der Wissenschaft für diese Funktion nicht überzeugend und schlugen – viel radikaler – vor, dass die Funktion selbst keinen Sinn mehr mache und ausrangiert werden solle. Das begriffliche Universum musste auf andere Weise umstrukturiert werden, sodass es darin überhaupt kein gottesförmiges Loch mehr gab – kein Bedarf an einem ersten Prinzip oder einem zentralen Angelpunkt, der alles zusammenhalten sollte.
Die Sache wird noch unübersichtlicher: seit der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhundert entstanden im traditionellen Christentum theologische Strömungen, die dieser Sichtweise zustimmten: Gott ist tot, wir sollten ihn überhaupt nicht ersetzen, aber folgen wir weiterhin dem menschlichen Lehrer Jesus in einem Universum, das ohne Gott neu strukturiert ist. Mit anderen Worten: die Spitzenvertreter westlicher Religionen weigerten sich, still zu stehen, während die traditionellen Rationalisten aufs Geratewohl ihre Schüsse auf sie abfeuerten.
Eine Variation dieser theologischen Kreativität ist es, die Metapher ‚Gott‘ zu einem anderen Zweck zu nutzen, wie etwa für das, dem wir intuitiv höchsten spirituellen Wert für uns zuschreiben, oder für die Biosphäre, oder für das Universum 9.
Die Suche nach dem Vizekönig Gottes und die Entstehung der Phänomenologie
Bevor aber dieser Punkt erreicht war, wurde die Suche nach einem passenderen Vizekönig Gottes als dem wissenschaftlichen Materialismus fortgesetzt. Dieser disqualifizierte sich, indem er denselben Anspruch auf absolute Wahrheit stellte wie vor ihm ‚Gott‘ und daher genauso anfällig für Dogmatismus war. Im übrigen konnte er Bereiche, die ‚Gott‘ zugeordnet gewesen waren, nicht abdecken: menschliches Bewusstsein, Subjektivität, Verlangen, die Erfahrung des Erhabenen, und letztgültige ethische Werte.
Die anderen Kandidaten, die Eagleton aufzählt, – einschließlich der Vernunft, der Natur, dem Geist, der Kultur, der Nation, dem Staat, dem Menschen, der Lebenskraft und persönlicher Beziehungen – alle zu verschiedenen Zeitpunkten für die Rolle des verdrängten Göttlichen ins Spiel gebracht – wurden den Anforderungen auch nicht gerecht. Nichts davon konnte die symbolischen Ressourcen (Eagletons Ausdruck) und das Gefühl von Zugehörigkeit bieten, das traditionelle Religionen egal, wie unwahrscheinlich ihre Glaubenssätze waren, noch immer stabil zur Verfügung stellten. Atheismus ist nicht so einfach, wie er aussieht, betont Eagleton immer wieder.
Schließlich hat der deutsche Romanschriftsteller Thomas Mann das zentrale begriffliche Problem beim Namen genannt: die Vorstellung von einer alles dominierenden Wahrheit ist einfach erschöpft und hat jede Bedeutung verloren 10. Wenn wir unsere Sinne öffnen, was sehen wir? Eine wuselnde Welt, die sich der Kontrolle durch eine einfache Idee entzieht.
Wer sich schon länger mit dem Dharma beschäftigt hat, dem mag das bekannt vorkommen. Man könnte sich daran erinnern, wie der Buddha die „eine dominierende Idee“ der Brahmanen vom „All“, dass nämlich die offenkundig unendliche Vielfalt irdischer Phänomene auf die bloße Entfaltung einer einzigen Gottheit hinauslaufe, drastisch umkehrte. Buddha antwortete den Brahmanen 11:
Was ist also, ihr Mönche, alles? Das Auge ist es und die Formen, das Ohr und die Töne, die Nase und die Düfte, die Zunge und die Säfte, der Körper und die Gegenstände, der Geist und die Dinge: das heißt man, ihr Mönche, alles. Wer, ihr Mönche etwa behaupten wollte: ‚Ich werde solch ein <Alles> zurückweisen und ein <Alles> von anderer Art aufweisen,‘ und er würde über den Gegenstand seiner Behauptung befragt werden, so könnte er keinen Bescheid geben, würde vielmehr in weiteren Widerstreit geraten. Und aus welchem Grunde? Weil so etwas, ihr Mönche, nicht zu finden ist.
Auf diese Weise anerkannte Buddha die wimmelnde Vielfalt von Phänomenen, die Fülle unserer direkten Erfahrung, leugnete aber stillschweigend, dass sie auf ein verursachendes erstes Prinzip mit Absolutheitsanspruch zurückzuführen sei. Wie üblich, richtete er sich ausdrücklich gegen metaphysische Spekulation und verwarf jede Form ‚essentieller Wahrheit‘, die der Art zugrunde liegen sollte, in der Phänomene in unseren Sinnen umgesetzt werden. Die Suche nach dieser ‚Wahrheit‘ lenkt uns nur von unserer experimentellen spirituellen Tätigkeit ab.
Zweitausenddreihundert Jahre später hat es das westliche Hauptfeld hinter diese post-metaphysische Ziellinie geschafft, und die Phänomenologie wurde geboren. Watson betont, dass deren krönende Errungenschaft unsere Suche nach Sinn in einem gottlosen Universum sei: er nennt sie die am meisten unterschätzte Bewegung des 20. Jahrhunderts und weist darauf hin, dass durch sie schließlich echter Atheismus begründet worden sei. Durch sie wird die Auffassung unterstrichen,
dass in einer Welt, die nicht länger von Gott oder Vernunft erhellt wird, alle Versuche, die unendliche Vielfalt des Universums auf Begriffe, Ideen oder Wesentliches zu reduzieren – seien sie religiös oder wissenschaftlich, umfassten sie die ‚Seele‘, oder ‚Natur‘ oder ‚Partikel‘, oder das ‚Jenseits‘ – die tatsächliche Vielfalt der Wirklichkeit reduzieren, die einen Teil, und vielleicht den größten Teil, oder sogar die Gesamtheit ihrer Bedeutung ausmachen 12.
Als Edmund Husserl und Martin Heidegger diese Auffassung entwickelten (und Marcel Proust sie literarisch illustrierte), kristallisierte sich ihre Verwandtschaft mit dem Dharma heraus. Husserl hob hervor, dass die Intentionalität, die das menschliche Bewusstsein unterstützt, selber kein ‚Ding‘ sei, sondern bewusste Zuwendung der Aufmerksamkeit zur Welt, um sie direkt zu erfahren. Bewusstsein ist immer transitiv: es ist Bewusstsein von etwas, absichtliches Sich-in-Beziehung-Setzen zu allem, was gerade jetzt in unserer Erfahrungswelt geschieht 13. All das ist Meditierenden vertraut.
Heideggers Beitrag in Sein und Zeit (1927) war es, die menschliche Person mehr als ein Ereignis als als ein Wesen darzustellen – ein Ereignis, bedingt durch ihre oder seine unmittelbaren Umstände, ihre oder seine Welt. Somit hat Heidegger die menschliche Person als etwas, was geschieht, neu bestimmt, als einen Prozess des Daseins und In-der-Welt-Seins, ein Sein, das im Tod endgültig kulminiert.
Aber während wir noch auf den Füßen sind, wird der Lebensprozess, von dem die Rede ist, in einem speziellen, doch sich ändernden Kontext weiter gestaltet. Durch fürsorgliche Beziehungen und durch das Bemühen um Authentizität, die gegen den Druck der Anpassung an herkömmliche Erwartungen gewagt wird, wird er vorangetrieben.
Vergleichen wir diese Vision mit Buddhas kryptischem Statement 14:
…in eben diesem, mit Wahrnehmung und Bewusstsein ausgestatteten Körper von menschlichen Maßen, ist die Welt enthalten, der Welt Entstehung, der Welt Ende und der Pfad.
Zum Abschluss
In drei weiteren Vorträgen möchte ich die Auswirkungen eines Zugangs zur Dharma-Praxis entwickeln, die von dieser begrifflichen Revolution im westlichen Denken beeinflusst sind. Sie stehen auch nonkonformistischen Ausübenden traditioneller Religionen zur Verfügung. Zum Abschluss möchte ich einige Vorschläge machen, wie wir uns zu traditionellen Religionen verhalten könnten, nicht zuletzt zur christlichen, die uns umgibt, aber vielleicht auch zum konventionellen Buddhismus.
1. Säkulare Menschen haben an sich keine Streitpunkte mit Religion. Sie können sich nach Belieben der symbolischen (einschließlich der ästhetischen) Hilfsmittel erfreuen, die traditionelle Religionen zur Verfügung gestellt haben, ebenso der Rituale rund um besondere Ereignisse im Leben und sogar im Alltag. Aber Säkularität bedeutet, sich dieser Welt in dieser Zeit zuzuwenden. Hier entsteht sicherlich eine Spannung gegenüber Ideen und Geschichten, die Anspruch auf Zeitlosigkeit erheben und ihre Praxis auf eine andere Zeit oder ein anderes Reich hin ausrichten, sowie zu gewissen nach- oder übermenschlichen Daseinszuständen.
2. Wie jedes andere menschliche Produkt müssen Religionen nach ihrer Nützlichkeit bei der Ausführung menschlicher Absichten beurteilt werden, einschließlich der Förderung von Gemeinschaft – vielleicht ihr hauptsächlicher Zweck seit prähistorischen Zeiten. Der Niedergang der Religiosität im Westen, vor allem seit dem Zweiten Weltkrieg, deutet darauf hin, dass ihre Nützlichkeit sinkt und die Menschen andere Mittel finden ihren Bedürfnissen und Absichten gerecht zu werden. Ein Teil dieser sinkenden Nützlichkeit kommt daher, dass traditionelle Religionen an zentralen neuen ethischen Anforderungen scheitern, vor allem an Inklusion von Minderheiten, Geschlechtergerechtigkeit und Demokratie 15.
Aber die traditionellen Religionen haben ihre Nützlichkeit für viele Menschen im Westen noch keineswegs ausgeschöpft, wie Eagleton in seinem Schlusskapitel darlegt. Und die maßgeblichen Kräfte traditioneller Religionen entwickeln sich in fortschrittliche Richtungen weiter.
2. Vortrag: Endlichkeit
Im Dezember 2013 hat ein bestimmter prominenter
Theravãda-Mönch in seiner Eigenschaft als ’spiritueller Berater‘ der Buddhistischen Gesellschaft des australischen Bundesstaates Victoria eine Grundsatzerklärung in Umlauf gebracht, in der verlangt wurde, dass jede Person, die in den Räumlichkeiten der Gesellschaft lehrt, eine Reihe von Aussagen buchstäblich unterschreiben müsse, bevor ihr erlaubt würde, dort Unterweisungen zu geben. Meines Wissens war Stephen Batchelor der erste, auf den sich diese Sperre bezog. Um die Musterung als Buddhist zu absolvieren, sagte das Edikt, müsse man unter anderem bestätigen, dass man an Wiedergeburt glaube und die Prämisse anerkennen, dass mit ‚Sangha‘ nur monastische Gemeinschaften gemeint seien. Das kam von einer Institution, die Offenheit gegenüber Buddhisten aller Traditionen und Richtungen signalisiert hatte.
Nach meinem Gefühl schließt sich eine Mehrheit von Praktizierenden des Dharma im Westen beiden Lehrsätzen nicht an. In unserer Kultur hat besonders das Konzept der Wiedergeburt keinen Stellenwert.
Pragmatisches über ein Leben nach dem Tod
Alle Behauptungen über ein Leben nach dem Tod haben meist soliden materialistischen Rückhalt. Für die längste Zeit der Geschichte des institutionalisierten Christentums war die Angst vor dem Höllenfeuer und das Versprechen, es gebe hier einen Notausgang, das wichtigste Verkaufsinstrument. In vielen buddhistischen Traditionen nährt der Wunsch nach einer glücklichen Wiedergeburt die Frömmigkeit der Laien, die vor allem in der Form des Spendens (dana) an den monastischen Klerus ausgedrückt wird. Das erzeugt Verdienste, die wiederum den Segen für den Spender sichern. Dieses Ringelspiel der Verdienste hält das Mönchswesen in Gang, nicht zuletzt finanziell, und verstärkt die spirituelle Autorität der Mönche. Theravãda-Mönche im speziellen haben also ein begründetes Interesse an Wiedergeburt.
Vor der Entstehung starker, entwickelter Staaten mit Polizeigewalt leisteten Lehren über ein Leben nach dem Tod auch Hilfsdienste, wenn es darum ging, potentielle Bösewichte zu schrecken, sodass sie den Regeln gehorchten. Auch wenn du in diesem Leben damit durchkommst, im nächsten wirst du es büßen. Das war die Botschaft. Solche Lehren waren also nützlich, wie Pragmatiker argumentieren würden, und darum haben Menschenwesen sie sich ausgedacht.
Diese Lehren waren auch psychologisch ansprechend, weil der Tod in all seiner Endgültigkeit für das Ego schwer zu schlucken ist, und jene, denen gerade geliebte Menschen gestorben sind, es tröstlich finden zu denken, dass die Verstorbenen nicht einfach zu existieren aufgehört haben, sondern vielmehr einfach irgendwo anders hingegangen sind – in den Himmel, in ein neues Leben – und dass wir uns nach und nach alle wieder treffen werden.
Aus all diesen guten pragmatischen Gründen stießen jene, die behaupteten oder vermuteten, dass der Tod wirklich das Ende sei, auf eine Menge institutioneller, psychologischer und kultureller Widerstände. Allerdings folgte die Tendenz wissenschaftlicher Entdeckungen, von der Evolution bis zur Neurowissenschaft, dem Weg der Skeptiker und verbannte gleichzeitig eine Menge allgemeinen Glaubens an Übernatürliches aus der Kultur, auch in der Truppe der Kirchgänger. Wie genau erklärt man Wiedergeburt einem Neurowissenschafter?
Der Tod als existentielle Zeichensetzung
Vielen der führenden westlichen Denkern (Dichter eingeschlossen) begann zu dämmern, dass es nicht ausreichte, unglaubwürdige Ideen über ein Nachleben aufzugeben; wir sollten unsere Menschlichkeit bekräftigen, indem wir gerade unsere menschliche Sterblichkeit, Verletzlichkeit und unsere begrenzten Fähigkeiten annehmen. Sie seien fundamentale Voraussetzungen, unserem Leben Sinn zu geben und herauszufinden, wie wir es leben könnten. Das ist mit ‚Endlichkeit‘ gemeint, deren Befürworter uns ermutigen, uns voll auf sie voll einzulassen. Das Ziel des Lebens sollte sein, schlägt George Santayana vor, triumphierend mit der Endlichkeit zu leben 16.
Können wir Buddhas Einstellung zu all dem einschätzen? Sicherlich hatte er eine Menge über Tod und Vergänglichkeit zu sagen, nicht zuletzt in seiner ersten Lehrrede mit der Darstellung dessen, was Dukkha ausmacht, – eine Liste, die mit Geburt, Altern, Krankheit und Tod beginnt. In Übereinstimmung mit den vorherrschenden Annahmen seiner Zeit und seiner Weltgegend akzeptierte er allerdings eindeutig, dass Menschen wiedergeboren werden, so wie er auch akzeptiert hätte, dass die Erde flach ist. Aber er hat das niemals als wesentlichen Teil des Dharma gelehrt – es war einfach Teil der kulturellen Tapete.
Am Ende der berühmten Kalama Sutta anerkennt er stillschweigend die Skepsis mancher seiner Zuhörer in Bezug auf Wiedergeburt: er sagt den Kalamern, dass die Praxis des Dharma ihnen jedenfalls ein würdevolles, sinnvolles und unbeschwertes Leben sichern werde, sollte sich herausstellen, es gebe kein späteres Leben 17. Mit anderen Worten: Dharma-Praxis trägt ihren Lohn in sich – ein Thema, zu dem wir später zurückkehren werden.
Wie so oft waren es die Dichter, die das Problem des Lebens nach dem Tod aufgriffen; sie sahen darin eine implizite Herabsetzung dieses Lebens – ein Thema nach dem Herzen von säkular denkenden Menschen (und Dichtern). Rainer Maria Rilke, jedermanns liebster spiritueller Dichter, schrieb über den Irrtum, irgendein Leben nach dem Tod oder eine Wiedergeburt für außerordentlicher zu halten als uns hier überhaupt erst zu finden. Indem wir uns in Träumen von einem Leben nach dem Tod verlieren, verfälschen wir unsere Prioritäten und missachten unsere Chancen und Verantwortlichkeiten in diesem Leben. Hier zu sein, sagte er, ist eine Quelle mit tausend Mündungen; ein Netz aus purer Kraft, das niemand berühren kann, ohne in Ehrfurcht niederzuknien 18.
Rilke fasste eine Idee knapp zusammen, die Heidegger ausgeführt hätte: wir wissen, dass wir sterben werden, und das gibt uns klare Rahmenbedingungen, die Geschichte unseres Lebens auf sinnvolle Weise zu gestalten. Wir wissen, wie es enden wird: der Tod treibt die Handlung unseres Lebens voran, so fasst Watson Rilke zusammen 19. Wir sind die Autoren unserer Lebensgeschichten, die (wie alle guten Geschichten) einen Anfang, eine Mitte und einen Schluss haben müssen. Nicht zu akzeptieren, dass der Tod das Ende bedeutet, heißt, unser Leben wie eine endlose, formlose Seifenoper zu konzipieren.
Diese Empfindung mag für Anhänger des im ersten Vortrag erwähnten Dichters und Liturgikers Thomas Cranmer vertraut klingen. Im seinem Eröffnungsgesang des Begräbnisritus heißt es:
Man that is born of a woman hath but a short time to live, and is full of misery. He cometh up, and is cut down like a flower; he flyeth as it were a shadow and never continueth in one stay.
In the midst of life we are in death.
Die lebende buddhistische Dichterin Mary Oliver wirft am Ende ihres tief berührenden In Blackwater Woods einen optimistischeren Blick auf die Endlichkeit:
To live in this world
you must be able
to do three things:
to love what is mortal;
to hold it
against your bones
knowing your own life depends on it;
and, when the time comes to let it go,
to let it go.
Als der wichtige pragmatische Philosoph Richard Rorty die Diagnose erhielt, dass er todkrank sei, schöpfte er Trost aus dieser Strophe aus Algernon Swinburne’s The garden of Proserpine (1866):
We thank with brief thanksgiving
Whatever gods may be
That no life lives for ever;
That dead men rise up never;
That even the weariest river
Winds somewhere safe to sea.
Endlichkeit in der Phänomenologie
Der Denker, der vielleicht am meisten über Endlichkeit zu sagen hat, war der wichtige Phänomenologe Martin Heidegger. Seine Sichtweise, in schonungsloser Zusammenfassung, war diese: wir sind in eine Lebenswelt geworfen, nicht aus eigener Wahl. Doch während wir reifen, machen wir genau diese Welt zu unserer Heimat, wir wohnen in ihr, wir werden mit ihr vertraut, wir lernen, uns um Teile von ihr zu kümmern (Menschen, Projekte…) und treiben so den Prozess unseres Lebens voran. (In einem späteren Vortrag werden wir diese Sichtweise mit der Praxis von Meditation verknüpfen).
Wie wir im ersten Vortrag gesehen haben: darum geht es beim Dasein und In-der-Welt-Sein. Aber davon untrennbar ist, was Heidegger Sein zum Tode nennt. (In the midst of life we are in death, wie Cranmer es ausdrückt). Wir erfüllen einen Prozess, der sich zwischen Geburt und Tod erstreckt, mit Leben.
Um es zu wiederholen: wir sind nicht so sehr stabile Wesen als sich entwickelnde Vorgänge und Ereignisse. Daher müssen wir diesen Lebensprozess zu unserem ganz eigenen machen und Verantwortung dafür übernehmen – um ihm Würde und Bedeutung zu verleihen. Das bedeutet, Authentizität in einem zweifachen Sinn zu erreichen: dem Konformitätsdruck zu widerstehen, und sich beständig der eigenen Sterblichkeit bewusst zu sein.
Um an diesem Punkt zu Rilke zurückzukehren: wir sollten unseren Tod einzigartig machen, genauso wie wir – wenn wir gut leben – unser Leben einzigartig machen. Strebe danach, deinen Tod zu einer Konsequenz deines Lebens zu machen, wie Watson Rilke zusammenfasst 20.
Zum Abschluss
Wenn dieses Leben in dieser Welt das einzige ist, das wir haben, dann sollten wir es wirklich sehr ernst nehmen. Mary Oliver fragt:
Tell me, what is it you plan to do
with your one wild and precious life?
Wir sollten uns tief einlassen auf unsere Erfahrung dieser überreichen Lebenswelt, mit der wir uns beschäftigen müssen. Ist es nicht das, worum es in der Dharma-Praxis geht? Wir praktizieren nicht, um irgendeine zukünftige Belohnung zu erhalten, sondern um dieses Leben, genau hier und jetzt, sinnvoll zu machen. Um das Beste aus seinem Potential von Wachstum, Tiefe und Würze zu machen, um unsere Erfahrung dieser Welt, unserer einzigen Heimat, zu intensivieren. Das ist sicherlich die Intention hinter der grundlegenden Lehre über unsere wesentliche Praxis, die Meditation. Dieser Geist beseelt die Satipatthãna sutta.
Wie Mary Oliver es am Ende ihres Gedichts When death comes formuliert:
When it’s over, I want to say: all my life
I was a bride married to amazement.
I was the bridegroom, taking the world into my arms.When it is over, I don’t want to wonder
if I have made of my life something particular, and real.
I don’t want to find myself sighing and frightened,
or full of argument.I don’t want to end up simply having visited the world.
3. Vortrag: Das Numinose, das Transzendente und das Sublime
Halte in deinem Herzen Raum frei für das Unvorstellbare.
Mary Oliver
Rationalität ist ein Markenzeichen moderner Kultur und die meisten von uns sind sich wohl darin einig, dass sie eine tolle Sache ist. Sie ist unerlässlich für das Lösen von Problemen, für den wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt und dafür, komplizierte Städte, Gesellschaften und globale Netzwerke wie das Internet in großem Maßstab zu koordinieren. Rationalität saugt alle möglichen Arten von Aberglauben, Vorurteilen, irrationalen Ängsten und Feindseligkeiten auf und spuckt sie aus. Verständlicherweise ist eine der übelsten Beurteilungen, die einem Menschen zugeschrieben werden können, zu sagen, er oder sie wäre ‚irrational‘.
Rationalität ist zwar ein guter Dienstbote, hat aber eine Tendenz zum Größenwahn und gibt einen schlechten Chef ab. Das passiert, wenn wir beginnen, ihr Götzendienste zu leisten. Im Jahr 1918 hat der klassische Soziologe Max Weber den berühmten Ausspruch getan, Modernität hätte die Welt rationalisiert und entzaubert. Alle Feen seien gestorben, weil rationalistische Eltern ihre Kinder gelehrt hätten, dass sie nicht existierten. Der Kult des Rationalismus hat eine Neigung, jede Erfahrung auszubleichen, die uns verzaubern, staunen machen und Ehrfurcht und Verwunderung in uns auslösen kann; gegen derartige numinose Erfahrungen stellt er sich.
Während Rationalismus über numinose Erfahrungen die Nase rümpft, machen wir Menschen diese weiterhin – das ist eine menschliche Gabe – und traditionelle Religionen haben das Beste aus ihnen gemacht. In der jüdisch-christlichen Tradition sind sie Andeutungen über das Reich des Transzendenten, über das Wirken – und die Botschaften – Gottes. Gläubige könnten sagen, sie hätten Gott ‚erfahren‘, hätten den Atem Gottes gespürt, hätten eine Heimsuchung der Jungfrau Maria erlebt oder eine Sprachnachricht von einem Heiligen bekommen. Traditionelle Buddhisten könnten sagen, sie hätten einen Hauch des Unbedingten und Todlosen erfahren. Während Rationalismus das Numinose also missbilligt, haben traditionelle Religionen es sich seit langem in der Form angeeignet, die William James ‚gemeinsame Fiktion‘ über Transzendenz nannte 21.
Für sich allein genommen, ist Rationalismus eine aufregende Sache. Er weist auf eine Ebene der Existenz hin, die angeblich viel besser ist als diese Welt, oder einen Aufstieg aus der Conditio humana in eine Art glückseligen, dukkha-freien, perfekten Lebenszustand bedeutet. Oder beides: der Himmel, von Engeln bevölkert. Je schmerzlicher, unterdrückter, benachteiligter und unsicherer jemandes reale Verhältnisse sind, desto verführerischer winkt das Transzendentale.
Als Karl Marx schrieb, Religion sei Opium für das Volk, war Opium das alltäglichste wirksame Schmerzmittel, das zur Verfügung stand. Wenn sie konnten, nützten Menschen Opium als Schmerzstiller, nicht zur Betäubung. Der Satz vor dem allbekannten Zitat lautet 22 :
Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüth einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist.
Für Marx war der einzige Weg, über die Religion hinaus zu wachsen, die Überwindung der sozialen Misere, die zu Träumen von Transzendenz führt.
Das ungezwungen Sublime
Rationalismus und Religion tun sich in den Augen säkular denkender, halbwegs sicher und behaglich lebender Menschen zusammen, um diese Welt und dieses Leben, denen wir keine Aufmerksamkeit widmen sollen, schlecht zu machen. Sie sprechen in Abstraktionen und Verallgemeinerungen, sie lenken uns ab vom fantastischen und überreichen Hier-und-Jetzt, das sie zu einer düsteren, konturlosen Landschaft verflachen. Wenn wir sublime Erfahrungen wollen, stehen sie uns jederzeit zur Verfügung: zurück zu Mary Oliver, der – nach ihrer eigenen Zuschreibung – ‚Braut, vermählt mit dem Erstaunen‘:
Instructions for living a life.
Pay attention.
Be astonished.
Tell about it.
Die Botschaft von Phänomenologen wie Heidegger ist, dass wir uns selbst und unsere Conditio humana nicht übersteigen können (und dazu auch keinen Grund haben). Wir können von der Welt nicht zurücktreten oder uns über sie erheben 23. Das könnte uns gegenüber der Großartigkeit religiöser Begriffe wie Erlösung, Seelenheil und Transzendenz selbst umso argwöhnischer machen. Vielleicht gehört auch ‚Erleuchtung‘ auf diese Liste. All diese Begriffe weisen auf das hin, was die Autorin Cynthia Ozick ‚die immer wiederkehrende Sehnsucht nach menschlicher Vollendung‘ 24 nennt, die ironischerweise auf einen nach- oder übermenschlichen Zustand hindeutet.
Ist es so schrecklich, als menschliches work-in-progress zu sterben? Haben wir eine Alternative?
Erwachen als Prozess oder Zustand?
Der Buddha sprach über ‚Erwachen‘ als einen Prozess. Dharma-Praxis wirkt auf diesen Prozess hin; die Metapher ist ganz einfach. Aufwachen ist etwas, was wir alle wenigstens einmal in 24 Stunden tun, und wir wissen, wie es sich anfühlt, aus Bewusstlosigkeit heraus die Sinne zu öffnen und in die Welt zu treten. Erwachen im spirituellen Sinn ist genauso. Wir erwachen – manchmal auf atemberaubende Weise! – zu Erfahrungen und Einsichten, die frisch und neu für uns sind. Viele von uns haben solche Momente kennengelernt, besonders in Retreats. Das hat mit einer Art von Vollendung nichts zu tun.
Aber der Buddha lebte in einer Kultur, in der die Menschen auf die Idee der Erlösung oder ‚Befreiung‘ (moksha) fixiert waren. Dazu gehörte eine pessimistische Sicht des menschlichen Lebens auf der Erde, durch die eskapistische Sehnsüchte nach Transzendenz und Erlösung genährt wurden. Der Begriff Erwachen bekam daher eine zweite Bedeutung als ein Zustand, der einen auf Dauer aus dem Sumpf der Conditio humana (dukkha) emporheben könne.
Als die Tradition des Buddha nach seinem Tod zur Religion wurde, wurde die zweite Bedeutung von Erwachen zur ersten, und Erwachen selbst wurde durch eine andere Metapher – ‚Erleuchtung‘ – ersetzt, die als ein unumkehrbarer Zustand verstanden wurde, in seinem Wesen transzendent und nach-menschlich. Das wurde zur ‚gemeinsamen Fiktion‘ des als Religion verstandenen Buddhismus, eine Fiktion, die monastisch-autoritäre Strukturen stützte. Einem Erleuchteten widerspricht man nicht! Für uns andere rückt dann der Höhepunkt spiritueller Praxis in unerreichbare Ferne, für alle praktischen Zwecke möglichst dem Blick entzogen.
Wenn wir auf nicht-transzendente Weise über unsere Dharma-Praxis nachdenken: worauf läuft sie hinaus? Wir müssen offenkundig die transzendente Idee loslassen, es gebe eine perfekte Existenzweise. Daran festzuhalten würde bedeuten, unsere Praxis auf Selbst-Reinigung zu beschränken: uns in eine vorgefertigte Schablone hinein zu quetschen und dabei alles, was außerhalb dieser Schablone liegt, wie Fremdkörper und Verunreinigungen zu behandeln.
Beim entgegengesetzten Ansatz geht es um das Bestreben nach Selbst-Erweiterung (um Richard Rorty’s Ausdrücke zu gebrauchen): laufend an sich zu arbeiten, menschliche Intelligenz, Weisheit und Rechtschaffenheit zu kultivieren, und so unser menschliches Potential bis zu seinen Rändern auszuschöpfen 25. Und das bedeutet, so oft wie möglich zu erwachen. Aus unseren kleinen Offenbarungen soviel wie möglich zu machen. Uns niemals zu erlauben, gegenüber den unerwarteten spirituellen Reichtümern dieses Lebens hier auf der Erde blasiert oder abgestumpft zu werden. Paying close attention, wie Mary Oliver vorschlägt.
Das Sublime im Alltag
Wenn man das tut, wird man wahrscheinlich feststellen, dass Max Weber unrecht hatte (aber er hatte eine Entschuldigung: es gab eine Menge Ernüchterung in der Welt von 1918). Diese Welt ist voll von Zauber – man muss sich ihm nur stellen. Ein persönliches Beispiel: vor zehn Tagen habe ich mit vielen anderen einen Freund, einen großen Naturliebhaber, in vollen säkularen Ehren begraben. Es war auf einem Friedhof hoch über dem Meer, an einem klassischen Wintertag in Sydney. Viele Menschen halten ja die Teilnahme an einem gut gestalteten Begräbnis für einen Moment sublimer Vertiefung in die Conditio humana und das Verbundensein aller Dinge; besonders eine Erdbestattung gibt dieser Erfahrung durch das unverhüllt Organische einen eigenen Akzent. Während eines ‚Moments der Besinnung‘, als wir alle still waren, erhob sich ein Wal direkt vor der Küste aus dem Meer. Was für ein Wink, dieses eine kostbare Leben zu genießen und sich ihm anzuvertrauen!
Das war eine eindrucksvolle Begegnung mit dem Sublimen – für uns vielleicht ein besseres Wort als das Numinose, weil es nicht mit derselben religiösen Fracht belastet ist. Auch das Sublime lässt sich allem Ehrfurchtgebietenden, allem unsagbar Schönen, auch dem Grauen, zuschreiben – es ist das, was uns (vielleicht mit Ausnahme der Dichter) über die Grenzen der Sprache hinausführt.
Wir müssen sicher nicht religiös sein, um das Sublime zu erfahren, und es müssen keine außerordentlichen Geschehnisse damit verbunden sein. Ronald Dworkin berichtet in seinem neuen Buch, dass Wissenschafter, die die unendliche Weite des Raums und Komplexität von Partikeln erforscht hätten, von Ehrfurcht erfüllt und überwältigt emotionale Reaktionen zeigten, die einem Zittern nahe kamen 26.
Und Charles Darwin, dieser boshafte Zerstörer religiöser Mythen, war dem gegenüber, was er selbst entdeckt hatte, in ähnlicher Weise ehrfürchtig. Das Sublime erreicht man durch den Gemeinplatz, durch die langsame Ansammlung von Fakten, schrieb er in sein Notizbuch 27. Und am Ende seines Opus magnum, On the Origin of species, steht sein bekannter Kommentar zu dem evolutionären Modell, das er fortgeführt hatte: There is grandeur in this view of life (auch wenn seine religiösen Kritiker das nur in einer gegenteiligen Sichtweise anerkannten).
Für Praktizierende des Dharma hat Stephen Batchelor ‚the everyday sublime‘ als einen Fachausdruck bezeichnet 28. Denn eine seiner Inspirationsquellen, Martin Heidegger, entfaltet das Drama des Daseins, des In-der-Welt-Seins in unserer durchschnittlichen Alltäglichkeit (die uns täglich auf dem Meditationskissen begegnet). Stephen beginnt seinen Artikel also folgendermaßen:
Meditation geht vom Sublimen im Alltag aus und kulminiert darin. Ich bin wenig daran interessiert, Zustände ununterbrochener Konzentration zu erreichen, in denen der sinnliche Reichtum der Erfahrung durch rein introspektive Verzückung ersetzt wird. Ich bin nicht daran interessiert, Mantras zu rezitieren, Buddhas oder ‚Mandalas‘ zu visualisieren, außerkörperliche Erfahrungen zu erreichen, anderer Menschen Gedanken zu lesen, luzides Träumen zu praktizieren, Channeling psychischer Energien durch Chakren zu üben, ganz zu schweigen davon, mein Bewusstsein in die transzendente Vollkommenheit des Unbedingten zu integrieren. Für mich bedeutet Meditation, bereitwillig anzunehmen, was geschieht, während dieser Organismus in diesem Moment mit seiner Umgebung in Berührung kommt. Erfahrung von Mystischem weise ich nicht zurück. Ich weise nur die Ansicht zurück, das Mystische, hinter dem bloß Offenkundigen verborgen, sei irgendetwas anderes als das, was gerade jetzt in Zeit und Raum geschieht. Das Mystische transzendiert die Welt nicht, sondern sättigt sie. ‚Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern dass sie ist‘, notierte Wittgenstein im Jahr 1921.
Hier gibt es ein Echo von Darwins Erkenntnis, das Sublime sei im Gemeinplatz zu finden, und des zentralen Grundsatzes der Phänomenologie: unsere Erfahrungen sprechen für sich selbst – es gibt keine verborgene Wahrheit oder unsichtbare Hand, die sich hinter ihnen versteckt hält. Dem Tänzer vom Tanz zu erzählen, ist nicht möglich und nicht notwendig, wie Rorty es formuliert 29.
Zum Abschluss
Dieser Zugang zur Dharma-Praxis hat weitreichende Konsequenzen für unseren Zugang zur Meditation und für unsere Prioritäten im Dharma. Ich möchte sie und die Implikationen unsere Sichtweise auf die Endlichkeit im letzten Vortrag herausarbeiten.
4. Vortrag: Intensität in der Praxis
Buddha hat einmal gesagt, wir sollten üben, als ob unsere Haare in Brand stünden. Das ist vielleicht etwas drastisch, aber es passt gut zu einem Hauptmotiv in Peter Watsons Buch: praktisch alle von ihm zitierten Denker, die hilfreiche Antworten auf die Frage gegeben haben, wie wir angesichts des Todes Gottes leben sollten, haben geraten, intensiv zu leben, mit Authentizität, und mit wachsender Tiefe und Sensibilität.
Diese unsere Körper von menschlichen Maßen, mit Wahrnehmung und Geist begabt (wie Buddha es formuliert hat), die persönliche Welten bewohnen, die sich schnell ändern – sie sind es, die uns ausmachen, und sie halten nicht so lange. Also: häng dich rein! Erinnere dich an die Zeile von Mary Oliver: ‚I don’t want to end up simply having visited this world.‘
Warum berührt uns diese Botschaft seit dem Tod Gottes (und nachdem wir spätere Versuche, ihn zu ersetzen, aufgegeben haben) so stark? Unsere Kultur war lange von metaphysischen und transzendentalen Ideen durchdrungen, die zur Abkehr von der sinnlichen und wahrnehmbaren Welt drängten. Alte Vorstellungen, durch die uns eingeredet worden war, wir sollten großartige Narrative und ‚eine dominierende Idee‘ unserer gelebten Erfahrung in all ihrer Unmittelbarkeit, Flüchtigkeit und Vielfalt vorziehen, wurden nun ausgemustert. Um an unsere Erfahrung unmittelbar heranzukommen, müssen wir uns von transzendentalen Ablenkungen abwenden.
Eine der Kehrseiten des alten metaphysischen Zugangs und der falschen Götter, die ihn ersetzt haben (z. B. Konsumdenken, Wohlstands-Theologien und Formen von ‚Selbstverwirklichung‘) war, dass sie Gleichgültigkeit, Trivialität und defensive Oberflächlichkeit förderten. Kein Wunder, dass Stephen Batchelor im obigen Zitat auflistet, wohin ihn seine Meditationspraxis nicht führen soll!
Während nämlich traditionelle Überzeugungen viel an Boden verloren haben, gibt es weiterhin viel Leichtgläubigkeit, besonders in neueren Formen westlicher Spiritualität. ‚Die Abgebrühten, die an nichts glauben‘, kommentiert Eagleton, ‚erweisen sich oft als die Fantasten, die bereit sind, an alles zu glauben‘ 30. In Großbritannien glauben mehr Leute an UFOs als an Gott. Einer von vier Amerikanern glaubt an Astrologie, einer von fünf an Wiedergeburt. Hollywoodgrößen strömen Scientology zu, riesige Pfingst-Gemeinden schießen wie Pilze aus dem Boden. Und so weiter.
Die Satipatthãna Sutta
Der ausführlichste Rat des Buddha, wie wir unsere Erfahrung des Da-Seins und In-der-Welt-Seins intensivieren können, ist in der Satipatthãna-Sutta enthalten. Darin werden alle phänomenologischen Kästchen angekreuzt: sie ist frei von metaphysischen Wahrheitsansprüchen und lädt uns ein, uns immer tiefer bewusst zu werden, wie wechselhaft, vielfältig und unzentriert – und entscheidend wichtig – unsere Lebenswelten und unser Selbst sind.
Die Sutta enthält keine technischen Anweisungen und verlangt nicht von uns, technische Fertigkeiten zu entwickeln. Sie ist frei von Esoterik und dem Versprechen metaphysischer Offenbarungen (die es nicht gibt). Das, was wir verstehen müssen, wird sich aus unserer eigenen Erfahrung ergeben, wenn wir nach unserem Bauchgefühl praktizieren.
Aber die Praxis, die die Sutta darlegt, verlangt sehr wohl von uns, ein Gespür für Grundlegendes im Dharma zu entwickeln. Daher gibt es heuristische Hinweise, worauf wir sinnvollerweise achten sollten und welche Fragen uns helfen könnten, unserer Lebensweise und ihren Auswirkungen auf unsere ethische und spirituelle Entwicklung nachzuspüren. Als Führer beim ‚Experimentieren mit uns selbst‘ in Rorty’s Sinn ist die Sutta unübertroffen.
Sie kulminiert in der Betrachtung der vier großen Aufgaben (auch bekannt als die Vier Edlen Wahrheiten), aber diese sind in allen Stadien der Dharma-Praxis enthalten. Sie verlangen von uns, die unvermeidlichen Schwierigkeiten der Conditio humana (dukkha, einschließlich unserer Endlichkeit) voll anzunehmen; unsere instinktiven und gewohnheitsmäßigen Ausflüchte aus diesen Schwierigkeiten, nämlich Festhalten oder Sich-Abwenden, loszulassen; zu Augenblicken der Stille zu erwachen, die mit dem vorübergehenden Aufhören von Festhalten oder Sich-Abwenden einhergehen; und eine facettenreiche Lebensform zu kultivieren, die unsere ethische und spirituelle Entwicklung vertieft 31.
In Heideggers Begriffen drücken diese miteinander verknüpften Aufgaben die Fürsorge aus, die wir auf unserem Kissen und im Alltag einführen – die Art, wie wir in unseren Welten zu leben lernen und uns in ihnen entwerfen, auf diese Weise einen Unterschied machend. Das ist mit intensivem Leben gemeint: das Beste aus diesem Leben zu machen.
Wie der Buddha führte Heidegger die mäßigende Größe des Loslassens ein. Intensiv zu leben darf sich nie zu Eigensinn verfestigen und wir dürfen nicht zu Kontrollfreaks werden, die sich in alles einmischen. In diese Falle zu geraten würde gleichzeitig bedeuten, die Entwicklung unserer Sensibilität und Aufnahmefähigkeit zu blockieren. Daher hebt Heidegger Gelassenheit hervor: Ruhe, Gefasstheit, Nicht-Anhaften, Zurückhaltung – die Dinge sein lassen 32. Dieses Prinzip kommt Buddha’s upekkha nahe (Gleichmut, eine der zentralen ‚unmessbaren‘ emotionalen Tönungen des erwachenden Geistes).
Auch das bedeutet ein Leben der Integrität und Autentizität zu leben, im vollen Bewusstsein unserer Endlichkeit, mit der Bestimmung, im Angesicht konventioneller Erwartungen unseren eigenen Kurs zu steuern. Keine geringe Aufgabe!
In der Kommunikation war Heideggers nicht so brillant; hören wir also Mary Oliver zu, in The journey:
One day you finally knew
what you had to do, and began,
though the voices around you
kept shouting
their bad advice –
though the whole house
began to tremble
and you felt the old tug
at your ankles.
‘Mend my life!’
each voice cried.
But you didn’t stop.
You knew what you had to do,
though the wind pried
with its stiff fingers
at the very foundations,
though their melancholy
was terrible.
It was already late
enough, and a wild night,
and the road full of fallen
branches and stones.
But little by little,
as you left their voices behind,
the stars began to burn
through the sheets of clouds,
and there was a new voice
which you slowly
recognised as your own,
that kept you company
as you strode deeper and deeper
into the world,
determined to do
the only thing you could do –
determined to save
the only life you could save.
Zum Abschluss
Über die vier großen Aufgaben müssen wir Bescheid wissen, und es ist ein enormer Vorteil, die Satipatthãna sutta und die dharmischen Lehren, auf die sie anspielt, genau zu kennen. Aber was wir mindestens genauso brauchen ist die Dringlichkeit und Intensität, die Mary Oliver hier wachruft. Für uns Leute im Westen ist es ungewohnt, nicht zielgerichtet zu handeln. Wir wollen Ergebnisse erreichen, Ziellinien überqueren, Erinnerungstrophäen entgegennehmen, vielleicht sogar eine Goldmedaille und ein Zertifikat der vollen Erleuchtung. Ohne das neigen wir dazu, das Interesse zu verlieren und uns etwas anderem zuzuwenden, das uns sofortige und greifbarere Belohnung bietet.
Der größte Segen, den wir uns selbst geben können, ist das, was die Zen-Leute ‚Anfängergeist‘ nennen. Es ist der Königsweg zum Sublimen im Alltag. Wenn unsere Erfahrungen in Meditation und Alltag nicht frisch sind, lebendig und staunenswert – vielleicht gehen wir nicht tief genug beim Abstreifen ausgedienter Gewohnheiten des Geistes. Fahren wir mit Autopilot? Erleben wir unsere Praxis als Routine, sogar als eine lästige Pflicht, als etwas, was von unserem wirklichen Leben getrennt ist?
Vielleicht müssen wir unser Potential an Neugier, Freude und Erstaunen bewusst erschließen. Das können wir tun, indem wir unsere Inspirationsquellen nahe bereithalten; darunter sollten die Natur, die Dichtkunst und unsere Sangha sein. Meditation, und Dharma-Praxis im allgemeinen, sind gemeinschaftliche Unternehmungen. Diese Grundtatsache kann man in unserer individualistischen Kultur leicht aus den Augen verlieren.
Aber mehr als alles müssen wir zu dem großen Ganzen zurückkehren, das unsere eigene Kultur uns zur Verfügung stellt mit ihren Anregungen, dieses eine wilde und kostbare Leben in einem Geist von Dringlichkeit, Intensität und Authentizität, aber auch des Loslassen-Könnens, zu leben.
Übersetzung: Evamaria Glatz
- Im Juli 2014 hat Winton, von dem auf unserer Website schon mehrere Texte zu lesen sind, in Sydney, Australien, einen Workshop mit vier Vorträgen gehalten. Mit seiner freundlichen Zustimmung veröffentlichen wir sie in deutscher Übersetzung. ↩
- New York 2014 ↩
- New York, 2014 ↩
- Darauf hat ursprünglich der klassische Soziologe Emile Durckheim (1858-1917) hingewiesen, s.: Eagleton, p. 148 ↩
- s.Eagleton, p.122 ↩
- s. Brian Cummings, ‚Introduction‘ zu seinem Werk The book of Common prayer: the texts of 1549, 1559 and 1662, Oxford 2011; und Daniel Swift, Shakespeares common prayers: the book of common prayer and the Elizabethan age, Oxford u. New York 2013 ↩
- Eagleton, p. 24 ↩
- Das ist ein Hauptthema von Eagletons Buch ↩
- etwa: Lloyd Geering, From the Big Bang to God, Wellington 2013 ↩
- James Wood paraphrasiert Mann in Watkins, p. 534 ↩
- Samyutta Nikãya 35.23 ↩
- Watson p.553 ↩
- s. Watson, p 72 ↩
- Anguttara Nikãya 4, 45 ↩
- Der wichtige pragmatische Philosoph Richard Rorty hat die Auffassung vertreten, dass hinter dem Tod Gottes mehr die Demokratie stehe als die Wissenschaft: s. Watson’s Diskussion pp. 512-516 ↩
- paraphrasiert bei Watson, p. 68 ↩
- …Gibt es aber keine andere Welt und keine Frucht, kein Ergebnis guter oder schlechter Taten, so lebe ich eben hier in dieser Welt ein leidloses, glückliches Leben, frei von Hass und Übelwollen… (Anguttara Nikaya III. 66) ↩
- zitiert bei Watson, pp. 229-230; das deutsche Originalzitat konnte ich nicht identifizieren E.G. ↩
- Watson, s. Vortrag 1, p. 230 ↩
- Watson, p. 232 ↩
- zitiert bei Watson, p. 133 ↩
- Einleitung zu seiner Schrift ‚Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie‘, 1843 ↩
- Watson, p. 337 ↩
- zitiert in Watson, p.545 ↩
- Richard Rorty, Essays on Heidegger and others, Cambridge 1991, pp. 153-154 ↩
- zitiert bei Watson, p. 522-523 ↩
- zitiert bei Watson, p. 551 ↩
- ‚The everyday sublime‘, Kap. 3 in Manu Brazzano (hrsg.): After mindfulness: new perspectives on psychology and meditation, London 2014; s. auch Stephen Batchelors kommendes Buch: After Buddhism, New Haven and London, 2015 ↩
- Rorty 1991, p.36 ↩
- p. 191 ↩
- s. Batchelor 2014 ↩
- s. Michael Inwood, A Heidegger dictionary, Oxford 1999, p. 117 ↩