Säkularer Buddhismus versucht eine radikale Neuinterpretation der überlieferten Lehren Buddhas in der und für die heutige säkulare Gesellschaft. Radikal insofern, dass nicht einfach eine oder mehrere der bestehenden buddhistischen Schulen mit all ihren Traditionen in ein moderneres Gewand gekleidet werden, sondern dass die vermutlich zentralen und originären Ideen des historischen Buddha mittels kritischer Analyse der althergebrachten Texte und der historischen Zusammenhänge herausgearbeitet werden. Im Kontext zeitgenössischer philosophischer und wissenschaftlicher Erkenntnisse werden diese Ideen neu interpretiert, mit dem Ziel der Formulierung einer Praxis-Anleitung für ein gelungenes Leben in der heutigen Zeit.
Warum säkular?
“Säkular” wird hier bewusst in der Mehrdeutigkeit des Wortes verwendet: (1) in der Alltagssprache steht „säkular“ im Allgemeinen im Gegensatz zu „religiös“, das häufig als „dogmatisch“ oder „im (vermeintlichen) Besitz ewiger Wahrheiten“ verstanden wird. Ein säkularer Ansatz beansprucht hingegen keine absolute Wahrheit, sondern sucht pragmatisch nach Wegen, einem bestimmten Ziel näher zu kommen. Dabei geht es nicht um wahr oder falsch, sondern ob etwas funktioniert oder nicht. (2) im Sinne des lateinischen Ursprungs des Wortes bedeutet „säkular“ „auf dieses Zeitalter/Jahrhundert bzw. diese Generation bezogen“. „Säkular“ bezieht sich damit auf diese (soll auch heißen: diesseitige) Welt, d.h. auf alles was mit der Qualität unserer persönlichen und sozialen Erfahrung des Lebens auf der Erde zu tun hat. Gleichermaßen bedeutet es aber auch, jede und jeden als Kind ihrer und seiner Zeit zu betrachten, auch Buddha selbst. (3) in einem historisch-gesellschaftlichen Sinn meint „Säkularisierung“ auch den Übergang von kirchlicher und sonstiger religiös-institutioneller Autorität an staatliche und andere weltliche Einrichtungen. Dieser Prozess, der vor zwei- bis dreihundert Jahren begonnen hat, verändert langsam aber stetig unsere Kultur, indem der religiöse Bereich mehr und mehr zurückgedrängt wird, bis schließlich die Mehrheit der Bevölkerung ihr ganzes Leben fast ohne Gedanken an institutionelle Religion leben kann und will.
Wenn man zu den ältesten vorhandenen Quellen zurückgeht, zeigen sich bei Buddha Charakteristika von Säkularisierung in allen diesen drei Bedeutungen, auch wenn damals dieser Begriff nicht existierte: Er rebellierte gegen das religiöse Establishment seiner Zeit, die Brahmanen, lehnte deren privilegierte Vermittlerrolle zur Wahrheit und jegliche Spekulation über die Welt jenseits der unmittelbaren Erfahrbarkeit kategorisch ab, und wandte sich vielmehr, wie an vielen Stellen dokumentiert, ganz pragmatisch den alltäglichen, diesseitigen Problemen der Menschen zu.
Warum Buddhismus?
Dennoch hat sich nach Buddhas Tod die von ihm angestoßene Bewegung schon sehr bald wieder in religiösen Hierarchien mit ihren jeweiligen Dogmen verfestigt. Diesen ist zweifelslos zu verdanken, dass wir heute überhaupt noch etwas von Buddha wissen. Andererseits haben sich im Lauf der Jahrhunderte um den Kern von Buddhas Lehre herum aber auch viele Buddhismen entwickelt, die jeweils bestimmte Aspekte herausgegriffen und betont und andere in den Hintergrund gedrängt oder überhaupt über Bord geworfen haben. Diese Entwicklungen sind sehr stark von ihrem jeweiligen kulturellen Umfeld geprägt worden, haben meist bereits vorhandene regionale religiöse Traditionen übernommen und sich philosophisch auch wieder mehr mit spekulativen Fragen auseinandergesetzt. Und obwohl es in der Geschichte immer wieder einzelne Ausnahmen (wie Nagarjuna, Candrakirti, Milarepa oder Bodhidharma) gegeben hat, sind die heute noch lebendigen Buddhismen im Allgemeinen religiös geprägt. Einem säkularen Buddhismus geht es um den Versuch, einen säkularen Kern von Buddhas Lehre herauszuschälen.
Der Ansatz dafür ist aber nicht die modernistische Neugestaltung einer traditionellen Form des asiatischen Buddhismus. Es ist weder ein reformierter Theravada-Buddhismus (wie die Vipassana-Bewegung), noch eine reformierte tibetische Tradition (wie Shambala-Buddhismus), noch eine reformierte Nichiren-Schule (wie Soka Gakkai), noch eine reformierte Zen-Linie (wie der Intersein-Orden), noch eine Mischung aus allen oder einigen von diesen (wie der Triratna-Orden). Der Ansatz ist radikaler als das: Er versucht, zum Ausgangspunkt der buddhistischen Tradition zurückzukehren und Buddhismus mit dem heutigen Wissen von Grund auf neu zu denken.
Es stellt sich die Frage, ob man diesen Prozess dann überhaupt noch mit dem Etikett „Buddhismus“ versehen kann und soll. Dagegen spricht, dass die im allgemeinen Verständnis doch eher religiöse Konnotation des Begriffs „Buddhismus“ säkular orientierte Personen von vornherein abschrecken könnte, sich überhaupt mit diesen Gedanken näher zu beschäftigen. Dagegen spricht auch, dass stark in den Traditionen verwurzelte Buddhisten zu Diskussionen über den „wahren“ Buddhismus provoziert werden könnten, die viel Energie binden und trotzdem nicht fruchtbringend sind. Andererseits lässt sich Buddhas Lehre nicht leicht in einem einzigen Begriff fassen, der sowohl passend als auch einigermaßen handlich wäre, sodass eine Bezeichnung nach dem Urheber der Lehren doch als am Ehesten angebracht erscheint.
Was behalten, was weglassen?
Dass Siddhattha Gotama, der später der Buddha genannt wurde, tatsächlich gelebt hat, kann man als historisch einigermaßen gesichert annehmen. Was er gelehrt hat, wurde schon einige Monate nach seinem Tod in einem ersten Konzil und 60 bis 100 Jahre später in einem zweiten in einer kanonischen Sammlung von Lehrreden und Regeln für die Gemeinschaft erfasst, memoriert und mündlich übertragen. Die erste schriftliche Aufzeichnung entstand rund um die Zeitenwende, also etwa 400 Jahre nach Buddhas Tod, in einer Sprache namens Pali. Im Gegensatz zur Gelehrtensprache Sanskrit (ähnlich dem Latein im mittelalterlichen Europa) war Pali näher an den Umgangssprachen, die zu Buddhas Zeiten gesprochen wurden. Jedenfalls ist aber der nach dieser Sprache benannte Pali-Kanon die älteste verfügbare Quelle und damit der Ausgangspunkt der Betrachtungen für einen säkularen Buddhismus.
Die verschiedenen buddhistischen Traditionen, die sich schon ab dem zweiten Konzil aufgrund abweichender Interpretationen der Texte gebildet haben, haben sich im Lauf ihrer Geschichte mehr und mehr vom Pali-Kanon entfernt, indem sie nur noch mehr oder weniger kleine Teile überhaupt in ihren jeweiligen Kanon übernommen haben, dafür aber neuere Texte und Interpretationen aufgenommen und stärker betont haben, die oft wieder stark hinduistische Züge zeigen. Diese Texte sind daher nicht im Fokus des säkularen Buddhismus.
Und auch schon bis zur ersten Niederschrift des Pali-Kanons sind einige Stellen eingefügt worden, die wahrscheinlich in den ursprünglichen Versionen so nicht enthalten waren, wie die Überhöhung der Person Buddhas oder spekulative Beschreibungen. Als zusätzliche Schwierigkeit kommt hinzu, dass Buddha gerne geläufige brahmanische Begriffe verwendet hat, manchmal um sich darüber lustig zu machen, aber oft auch, um ihnen eine ganz andere Bedeutung zu geben. Die gerade erst beginnende wissenschaftlich-kritische Auseinandersetzung mit den Texten hilft uns dabei, die Dinge auseinander zu halten, die späteren von den früheren Teilen zu trennen, und passendere Übersetzungen von schwierigen und mehrdeutigen Wörtern zu finden. Ein zunehmendes historisches Verständnis der sozialen, politischen, religiösen und philosophischen Bedingungen, die zu Buddhas Lebzeiten und seither vorherrschten, erleichtert es uns zudem, die Texte und ihre Veränderungen als Reaktion der jeweiligen Autoren auf ihre konkreten historischen Umstände zu verstehen, und nicht als kontextfreie zeitlose Wahrheiten. Auch Buddha als Person stellt sich so nicht als religiöser Messias dar, sondern vielmehr wie einer jener griechischen Philosophen, die in etwa seine Zeitgenossen waren und sich ebenfalls mit menschlichen Schwierigkeiten in turbulenten Zeiten beschäftigt haben.
Ziel ist es also, all jene Lehren zu identifizieren und in den Sprachen unserer Zeit auszudrücken, bei denen es sich vermutlich um originäre Ideen Buddhas handelt, und nicht um allgemeines Gedankengut seiner Zeit, d.h. nichts, das nicht genau so gut von einem brahmanischen Priester oder Jain-Mönch Indiens im fünften Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung gesagt hätte werden können. Wenn man so vorgeht, bleibt interessanterweise nicht nur ein fragmentarisches und verstümmeltes Sammelsurium übrig, sondern ein adäquater ethischer, philosophischer und praktischer Rahmen von Empfehlungen für das Leben in dieser Welt. Auch wenn in der Geschichte verschiedenste Personen zu ähnlichen Ergebnissen in manchen Bereichen gekommen sind, ist gerade die Reichhaltigkeit an konkreten, praktischen Übungsanleitungen zur Ethik und zum Geistestraining nach wie vor ein guter Grund, sich ausgerechnet mit den Lehren dieses Inders auseinanderzusetzen, der zweieinhalbtausend Jahre vor uns gelebt hat. Säkularer Buddhismus bedeutet letztlich, etwas zu tun, nicht etwas zu glauben.
An dieser Stelle soll explizit darauf hingewiesen sein, dass jede Auswahl der Lehren, wie immer sie im Detail auch aussieht, wieder die von Buddha formulierten Charakteristika des Lebens aufweist: Sie ist bedingt entstanden, wird immer unvollkommen sein, und hat keinen festen Kern. Letztlich kann und soll sie auch für jede und jeden anderes aussehen. Speziell gilt es auch, nicht in die Falle des Fundamentalismus zu tappen und zu glauben, man könnte genau das auswählen, was Buddha „wirklich“ gelehrt oder „wirklich“ gemeint hat. Das werden wir bei allem wissenschaftlichen Bemühen nie wissen, wir können es bestenfalls erahnen. Ganz im Sinne des italienischen Philosophen Gianni Vattimo entsteht der Wert der Lehren erst durch die „Produktivität der Interpretation“, durch das in Beziehung Setzen mit, und das Anwenden in, unserer ganz konkreten, ganz persönlichen Situation. Es ist nicht entscheidend, ob es sich um „die Wahrheit“ handelt, die immer und für alle und in jeder Situation gilt, sondern ob sie als Gebrauchsanleitung für das Leben für uns funktioniert oder nicht.
Spannenderweise ist in der heutigen Zeit eine Reihe von Leuten dabei, solche Gebrauchsanleitungen für das Leben aus dem Pali-Kanon zu destillieren. Als einer davon wollen wir uns im Folgenden an jener orientieren, die Stephen Batchelor formuliert hat und deren Kernpunkte sind: (1) das Prinzip der Bedingtheit, (2) der Prozess der vier Aufgaben, (3) die Praxis der Achtsamkeit, und (4) der Primat der Eigenständigkeit.
Prinzip der Bedingtheit
Wie zahlreiche Passagen im Pali-Kanon belegen, vermeidet Buddha kategorisch, Aussagen über die Natur der Welt zu machen, so wie: Ist das Universum endlich oder unendlich, ewig oder nicht? Sind Geist und Körper dasselbe oder verschieden? Existiert man nach dem Tod weiter oder nicht, oder weder noch, oder beides? Buddhas zentrale Lehre, jene der Bedingtheit bzw. des bedingten Entstehens, erscheint auf den ersten Blick wie eine solche metaphysische Aussage. Und in der Tat bezieht sich das Prinzip der Bedingtheit auf alle Phänomene. Im Gegensatz zu früheren vedischen und brahmanischen Traditionen, und auch dem Christentum und sogar manchen späteren buddhistischen Strömungen, kann es für Buddha jedoch gar nichts geben, das vom sonst allgemein akzeptierten Prinzip der dauernden Veränderung und Bedingtheit ausgenommen, also unveränderlich und unbedingt, ist, wie beispielsweise eine Seele oder Gott. Aber die metaphysischen Implikationen sind quasi nur nebensächlich, es geht Buddha hier in erster Linie um das Erfahren von, und die Arbeit mit, Bedingtheit am eigenen Leib, und genau genommen im Prozess der Wahrnehmung.
Sehr minutiös hat Buddha beobachtet und beschrieben, wie unser Erleben jedes einzelnen Sinneseindrucks und unsere Reaktion darauf bedingt sind von den Mustern, die wir uns im Laufe unseres Lebens durch zahllose Wiederholungen angeeignet haben, und die ganz automatisch und blitzschnell ablaufen. Wie wir heute wissen, ist das ein ganz normaler Mechanismus, der sich beim Menschen im Lauf der Evolution herausgebildet hat, für das Individuum im täglichen Leben sehr nützlich ist, und letztlich (bisher) auch zum Überleben der Spezies beigetragen hat. Allerdings hat er auch Nebenwirkungen: Wir vereinfachen sehr stark und nehmen die dauernde Veränderung, die Prozesshaftigkeit und die gegenseitige Abhängigkeit aller Phänomene nicht mehr wahr. Wir entwickeln vielmehr eine starke Tendenz zur Verdinglichung und Starrheit. Das führt unter Anderem dazu, dass wir uns als isoliertes und unveränderliches Selbst erleben, das es aber so nicht gibt; dass wir dauernd Dingen nachjagen, von denen wir uns dauerhafte Befriedigung erhoffen, die aber nie eintritt; dass wir an Dingen festhalten, die sich nicht festhalten lassen.
Das hat als ganz praktische Konsequenz, dass wir uns, den Menschen um uns, und der Umwelt das Leben unnötig schwer machen. Die Erkenntnis Buddhas – lange vor der Entdeckung des Phänomens der Neuroplastizität – lautet aber: Diese Muster sind veränderbar. Wenn wir die Bedingungen ändern, kommen auch andere Ergebnisse heraus, und wir können wiederum unsere eingefahrenen Reaktionen und Gewohnheiten ändern. Und Buddha gibt uns Hinweise, wo wir zur Veränderung ansetzen können.
Prozess der vier Aufgaben
Wie wir unsere weniger hilfreichen Gewohnheiten ändern können, hat Buddha ausführlich und detailreich erläutert, wie viele Stellen des Pali-Kanons belegen. Eine Art Zusammenfassung davon stellen die vier Aufgaben dar, die in den buddhistischen Traditionen als die „Vier Edlen Wahrheiten“ bekannt sind. Diese Bezeichnung ist aber sehr irreführend, weil sie Aussagen über die Wirklichkeit suggeriert und gleichzeitig nach Glaubenssätzen klingt, die nicht weiter hinterfragt werden. Wie aber die moderne Textkritik zeigt, ist das Wort „Wahrheit“ vermutlich erst nachträglich in die Texte eingebaut worden, wahrscheinlich um ihnen in der Auseinandersetzung mit religiösen Glaubenssystemen mehr Gewicht zu verleihen. Es handelt sich aber vielmehr um Aufgaben, zu denen uns Buddha herausfordert, um unser Leben grundlegend zu ändern. Es sind dies:
1. Sich auf das einlassen, was gerade passiert (dukkha)
Die meiste Zeit verbringen wir in einem Zustand, den man Alltagstrance nennen könnte, wir sind in Gedanken versunken oder lenken uns sonst auf irgendeine Weise ab, und eine Art Autopilot steuert uns durch unser Leben. Die erste Aufgabe fordert uns auf, da zu sein, wach zu sein, und wieder selbst am Steuer stehend durch Wind und Wetter des Lebens zu segeln. Das ist nicht immer nur angenehm, aber wenn wir etwas ändern wollen, müssen wir überhaupt erst einmal mitbekommen, was eigentlich gerade passiert. Sich angenehmen Situationen zuzuwenden, fällt uns ja noch relativ leichter, obwohl auch hier die Reizschwelle immer höher wird, und auch angenehmen Erfahrungen schon der Samen einer gewissen Frustration über ihr Ende innewohnt. Noch herausfordernder ist es aber bei offensichtlich unangenehmen und schmerzlichen Erfahrungen, und auch auf diese gilt es sich einzulassen. Letztlich kann man negativen Erfahrungen nicht entkommen, und gerade sie und die Suche nach einem guten Umgang mit ihnen sind oft die Motivation, sich überhaupt erst mit einer Lebenspraxis zu beschäftigen.
2. Das Verlangen loslassen (samudaya)
Wenn wir einmal unser Verhalten genau beobachten, dann können wir feststellen, dass wir auf angenehme (biologische) Impulse mit Verlangen reagieren, und auf unangenehme mit Ablehnung oder Verdrängung. Diese Prozesse laufen meist sehr schnell und automatisch ab, und wir glauben, wir könnten gar nicht anders reagieren. Mit etwas Übung können wir uns aber sehr wohl eine gewisse Freiheit von diesen Automatismen erarbeiten, und diese Aufgabe fordert uns dazu auf.
3. Das Stoppen erfahren (nirodha)
Wenn wir kontinuierlich am Unterbrechen unserer Automatismen arbeiten, können wir Momente erleben, in denen wir nicht verwirrt oder von unseren Begierden oder Aversionen getrieben sind. In diesen Momenten des Ausstiegs aus dem mentalen Hamsterrad können wir dem Leben wirklich unvoreingenommen begegnen und es aktiv und kreativ, und nicht nur reaktiv, gestalten.
4. Einen Lebensweg gestalten (magga)
Die vierte Aufgabe ist es, solche Momente der Freiheit mehr und mehr auszudehnen und in alle Lebensbereiche hinein zu tragen, und umgekehrt sein Leben so zu gestalten, dass die Bedingungen für diese Erfahrungen geschaffen werden.
Praxis der Achtsamkeit
Buddhas spezifische Übung, um mit den vier Aufgaben zu arbeiten, ist die Praxis der Achtsamkeit. Achtsamkeit hat viele verschiedene Aspekte, beginnt aber gewissermaßen bei der Konzentration auf das, was man gerade macht. Das bedeutet, sich immer wieder daran zu erinnern, dass man auch präsent sein könnte, anstatt sich in Gedanken und Tagträumen zu verlieren. Wenn man von diesen fortgetragen wird, ist die Übung, sie immer wieder loszulassen und zur Konzentration auf die momentane Tätigkeit zurückzukehren.
Die traditionelle Methode zur Schulung der Achtsamkeit ist die Meditation, bei der die Komplexität alltäglicher Lebenssituationen soweit reduziert wird, auf z.B. nur Sitzen und Konzentration auf den Atem, sodass es leichter möglich wird, Achtsamkeit zu entwickeln und über längere Zeit zu halten. Meditation an sich ist aber nicht das höchste Ziel der Praxis, wozu sie in den verschiedenen Traditionen – und besonders im Westen – oft stilisiert wird, sie ist vielmehr einfach eine Art Trockentraining, das es ermöglichen soll, dass wir dann auch den Turbulenzen des Lebens mit einem achtsamen Geist begegnen können.
Insbesondere sind einzelne ungewöhnliche Erfahrungen, die in der Meditation auftreten können, wie das Erleben einer Einheit mit dem Universum oder einer Einsicht in das Absolute, die von manchen buddhistischen Schulen fast schon gewaltsam forciert werden, für Buddha keine „Erleuchtung“. Sein Aufwachen definiert er vielmehr als komplexe Reihe von vielen kleinen, aber wiederholten, eng miteinander verbundenen Fortschritten in den vier Aufgaben, die auf der Basis der Achtsamkeit erfolgen können. Dies deckt sich auch mit den Erkenntnissen der modernen Neurowissenschaft, nach denen Neuroplastizität, also die Ausformung neuer oder anderer „Verdrahtungen“ im Hirn, nur durch häufige Wiederholung erreicht werden kann.
Primat der Eigenständigkeit
Klarerweise müssen wir den Weg der vier Aufgaben selber gehen, wenn wir das wollen. Auch der größte Guru kann das nicht für uns tun. Daher hat Buddha immer die Selbstverantwortung betont und seine Schülerinnen und Schüler aufgefordert, auch seine Lehren kritisch zu hinterfragen. Am Ende seines Lebens hat es Buddha abgelehnt, einen Nachfolger zu bestimmen und eine Tradition zu begründen. Vielmehr ermunterte er seine Schülerinnen und Schüler dazu, ihren eigenen Weg zu finden und zu gehen.
Dass sich nach seinem Tod dennoch Traditionen mit Autoritäten und letztlich auch Machtstrukturen entwickelt haben, ist fast schon ironisch und zeugt wohl vom tief verwurzelten Drang in uns, Verantwortung abzuschieben. Ein säkularer Buddhismus versucht jedoch, diesem Drang zu widerstehen und keine Schulen und Autoritäten zu begründen und vielmehr jede und jeden dabei zu bestärken, selbst die Verantwortung für ihr oder sein Leben zu übernehmen.
Nichtsdestotrotz ist es nicht immer leicht das zu tun, und wir können jede Unterstützung brauchen, die sich uns bietet. Deshalb hat Buddha auch so die Bedeutung der Freundschaft hervorgehoben, die Unterstützung (mehr oder weniger) Gleichgesinnter, aber allerdings immer auf gleicher Augenhöhe.
Was ist der Zweck von säkularem Buddhismus und diesem Blog?
Ein säkularer Buddhismus und damit auch dieser Blog möchten zur Entwicklung individueller Formen von Lebenspraxis ermuntern und beitragen. Eine individuelle Form von Praxis entsteht immer dann, wenn der Auflösung eines persönlichen existenziellen Dilemmas Vorrang gegeben wird vor dem Zwang, einer buddhistischen oder sonstigen Orthodoxie entsprechen zu müssen. Es ist ein Prozess der (Wieder-)Gewinnung von persönlicher Autorität durch Befreiung von kollektiven Glaubenssystemen.
Säkularer Buddhismus soll nicht noch ein weiteres kollektives Glaubenssystem werden. Wenn Leserinnen und Leser hier Dinge finden, die sie zur Gestaltung ihrer persönlichen Praxis motivieren und sie dabei unterstützen, dann ist das Ziel schon erreicht. Es geht uns nicht darum, eine Wahrheit zu verkünden und diese zu verteidigen. Wir sind uns bewusst, dass Antworten auch im besten Fall immer nur temporäre und kontextbezogene Gültigkeit haben können. Es geht uns vielmehr darum, den kritisch fragenden Geist zu kultivieren, wie auch den Gleichmut, um ohne das Haltegerüst von vermeintlich letztgültigen Antworten leben zu können. Wenn es also Kritikpunkte gibt, bitte diese nach Herzenslust zu äußern. Wir wollen voneinander lernen und diese Plattform als Forum des freundschaftlichen Austausches über diese Themen nutzen, und als eine Möglichkeit, dass sich Gleichgesinnte auch zu gemeinsamer Praxis zusammenfinden können. Gleichermaßen verstehen wir uns selbst nicht als Sprachrohr einer Schule oder einzelner Denkerinnen oder Denker, deren oder dessen Erkenntnisse wir unreflektiert übernehmen würden. Dennoch schätzen wir die Inspiration durch und die Auseinandersetzung mit der Arbeit von Pionieren eines säkularen Buddhismus wie Martine und Stephen Batchelor, John Peacock, Stephen Schettini, und anderen außerordentlich, aber auch Kritikern wie Alan Wallace oder Bikkhu Bodhi. Wie diese paar Namen zeigen, findet diese Arbeit aber bisher fast ausschließlich im englischsprachigen Raum statt. Wir würden gerne einen Beitrag dazu leisten, dass sie auch im deutschsprachigen Raum eine breitere Basis findet.
Wir wollen uns auch von anderen, nicht-buddhistischen Quellen inspirieren lassen. Das können Erkenntnisse aus der aktuellen Bewusstseins- und Hirnforschung sein, der Psychologie oder westliche philosophische Überlegungen. Und hier gibt es spannende und gegenseitig befruchtende Entwicklungen: Zwar sehen wir erst die Anfänge, aber es gibt immer mehr Ergebnisse aus der wissenschaftlichen, und speziell der neurowissenschaftlichen, Erforschung der Auswirkungen von meditativer Praxis. Und auch die Psychologie nimmt Anregungen aus der Achtsamkeitspraxis in Methoden wie Mindfulness-Based Stress Reduction (MBSR) oder Mindfullness-Based Cognitive Therapy (MBCT) auf, und dokumentiert umgekehrt eine Fülle von Erfahrungen und Datenmaterial, die unsere persönliche Praxis bereichern können. Und auch in der Philosophie gibt es Überschneidungen, die zunehmend diskutiert und erforscht werden: So gab es schon im alten Griechenland ganz praktische Philosophen wie Epikur oder Pyrrho, deren Lehren Parallelen zu jenen Buddhas aufweisen (und möglicherweise sogar von diesen beeinflusst waren), ebenso im alten Rom bei Denkern wie Seneca oder Marc Aurel. Aber auch in der jüngeren Geschichte gibt es in der Philosophie seit Nietzsche über Heidegger bis hin zu amerikanischen Pragmatikern wie Rorty ganz unabhängige Entwicklungen, die zu ähnlichen Teilergebnissen kommen wie Buddha. In einzelnen Beiträgen wollen wir uns mit vielen dieser unterschiedlichen Aspekte auseinandersetzen und diese weiter vertiefen.
Alles ist uns willkommen, was die Zuwendung zum Leben und kreatives Engagement damit fördert, was die Präzision im Erleben wie im Denken schärft, und was letztlich der Kultivierung von Freundlichkeit und Verstehen dient.
ich gesteh, von buddha und östlichem denken sehr wenig zu verstehen, bin eher auf den hiesigen winkel beschränkt. die linie zu epikurs seelsorge kann ich nachvollziehen und ihr was abgewinnen.
einen einwand möcht ich hier doch deponieren. ich denke, wir sind nicht bloß individuelle wesen, wir sind von einer erbschaft an gefühlen, lüsten, einstellungen und (geistigen wie matieriellen) strukturen durchdrungen und umgeben und arbeiten an deren weiterem schicksal unvermeidlich mit. die individuelle geistige distanzierung davon eröffnet wohl nur geringe abweichungen von der über viele generationen von vielen kooperierenden menschen festgelebten richtung. ich sehe mich in einer in jedem sinne gewaltigen gesellschaft von meinesgleichen, mit denen ich eng verbunden bin, ob an sie gefesselt oder mit ihnen befreundet. und weil ich die erwähnte richtung als zunehmend verhängnisvoll erlebe, suche ich über die individuelle hinaus nach gemeinsamer handlungsfähigkeit freier individuen.
Danke für den Kommentar, Lorenz!
Wenn der Eindruck entstanden ist, dass es sich bei (säkularem) Buddhismus um eine rein individualistische Unternehmung handelt, dann ist das eine Schwäche des Textes, die wir wohl in der nächsten Version ausräumen sollten. Ganz im Gegenteil ist aber das Wissen und die unmittelbare Erfahrung der Verbundenheit und gegenseitigen Abhängigkeit von allen und allem ein zentrales Übungsfeld (jedes) Buddhismus.
Allerdings ist schon so, dass der Ansatz für Veränderung im Buddhismus in erster Linie vom Individuum aus gesehen wird, im Sinne von „sei die Veränderung, die du in der Welt sehen möchtest“. Die Methode dazu ist aber alles andere als sich zu distanzieren. Vielmehr geht es bei der Übung der Achtsamkeit darum, ganz intim mit allen Erfahrungen zu werden, und auch besonders sorgsam im Umgang mit andern Menschen, Lebewesen und Dingen.
Dass man sich dazu vielleicht täglich eine halbe Stunde, oder periodisch immer wieder einmal für ein paar Tage, aus dem Alltagstrubel heraus nimmt, dient dazu, sich ganz auf diese Übung konzentrieren zu können, aber nicht Distanzierung im Sinne von Abgrenzung. Es ist eher so wie regelmäßig ins Fitness Center zu gehen oder gar zu einem Trainingslager, aber statt den Körper zu trainieren, geht es hier um das Training von vollem, kreativem Engagement in allen Belangen des Lebens.
Ich möchte Ihnen für diese Webseite und für die Informationen hierin danken. Seitdem ich in Deutschland mit meiner Familie angekommen bin (komme aus den USA), habe ich an verschiedene buddhistische Gruppen teilgenommen aber habe bisher nicht die Richtige gefunden. Das ist mir besonders schwer gefallen, da ich nicht wirklich zurecht mit dem Teil der Zufluchtnahme, das um die Sangha geht, kommen könnte, wenn ich keine Sangha hätte. Derzeit informiere ich mich gern über den säkularen Buddhismus und habe demgemäß so viel Fragen. Aber ich stelle sie nur, nachdem ich mich besser über die hier angebotene Perspektive informiere.
Just wanted to say thanks.
Hallo, Gavin,
danke für Ihre ermutigenden Worte!
Wir denken darüber nach, auf der Seite „Gruppen“ für interessierte Leserinnen und Leser die Möglichkeit einzurichten, in der Nähe ihres Wohnortes Gleichgesinnte zu suchen, mit denen sie gemeinsam eine Sangha bilden könnten. Wäre das etwas für Sie?
einen herzlichen Gruß!
Evamaria
Hallo Evamaria,
Eine Suchfunktion, um in Kontakt mit Gleichgesinnten zu kommen, ist eine sehr gute, praktische Idee. Ich danke Ihnen für die tolle Arbeit, die Sie hier machen.
Schöne Grüße.
– Gavin
Vielen Dank für die ausführliche Erklärung. Ich habe jetzt nicht alles gelesen, einfach zu viel Input. Zum Glück gibt es Lesezeichen :).
Aber die ersten Teile haben mir schon sehr gefallen. Denn genau diese Dogmen haben mich immer etwas gestört, bei der Suche nach dem Eigentlichen. Der Buddhismus war die einzige Religion die mir ansatzweise am meisten zugesprochen hat. Doch auch hier habe ich nur Teilstücke entnommen und für mich verinnerlicht. Ich habe mir angewöhnt immer nur die spirituellen Rosinen herauszupicken, mit denen ich mich am besten identifizieren kann.
Ich lese in einer ruhigen Minute hier mal weiter. Danke dir für die Informationen.
Liebe Grüße aus Dresden
Thomas