Fragen 1
Es ist höchst ungewöhnlich, dass wir imstande sind, Fragen zu stellen. Zu fragen bedeutet ja einzugestehen, dass wir etwas nicht wissen. Und es ist mehr als ein Eingeständnis: es bedeutet, dass einen danach verlangt, sich etwas Unbekanntem zu stellen und es durch Verstehen zu erhellen. Fragen zu stellen bedeutet, nach etwas zu streben. Es macht einen ersten Schritt ins Dunkle und fährt dann fort, sich einen Weg vom Unwissen in Richtung Klarheit zu bahnen, von Verwirrung zum Wiedererkennen, von Fremdheit zur Vertrautheit. Es erzeugt den ersten Riss im Schleier des Unbekannten. Fragen zu stellen schafft eine Öffnung, durch die das Licht der Weisheit scheinen und eindringen kann. Es offenbart gleichzeitig unsere Beschränkungen und unseren Drang, sie zu überwinden.
Berechnende Haltung
Es gibt zwei unterschiedliche Weisen des Fragens. Die gebräuchliche Art ist jene, die die Probleme löst, die uns im Alltagsleben begegnen. Wenn etwas nicht so funktioniert, wie wir das erwarten, fragen wir uns, warum und beginnen, die Ursachen für den Misserfolg zu suchen. Wenn wir auf etwas stoßen, dem wir noch nie begegnet sind, sind wir verwirrt und fragen uns, was los ist. Diese Art von Fragen entsteht aus Neugier. Normalerweise vertrauen wir darauf, dass eine Antwort in unserer Reichweite liegt; es geht nur darum, das herauszufinden. Wir können alle praktischen Fähigkeiten anwenden, die wir erlernt haben, dazu auch die Kräfte unserer Vernunft und unserer Erinnerung, und uns auf die stetig wachsende Menge von Wissen verlassen, die durch andere gesammelt und gespeichert worden ist. Diese Art des Fragens führt auf einen bestimmten Weg. Wir bestimmen, welche Möglichkeiten vor uns liegen, wir schließen auf größere Wahrscheinlichkeiten. Wir eliminieren bestimmte Wahlmöglichkeiten durch Versuch und Irrtum oder durch einfaches Schlussfolgern. Nach jedem Schritt, den wir erledigt haben, berechnen wir unseren nächsten Zug, bis das Problem schließlich gelöst und unsere Neugier durch die Befriedigung, zu wissen, ersetzt ist.
Dieser berechnende Zugang ist in unserer Gegenwart immer dominanter geworden. Die Fortschritte wissenschaftlicher Forschung und Technologie sind dadurch möglich geworden, dass die Möglichkeiten von Berechnung und deren Anwendungen perfektioniert worden sind. Da unsere Welt immer stärker von technischen Errungenschaften dominiert wird und wir zunehmend abhängig von ihnen werden, wird die Rolle, die eine berechnende Haltung in unserem Leben einnimmt, immer bedeutender.
Aber es gibt eine andere Art, zu fragen und zu denken. In einer 1955 gehaltenen Rede hat Martin Heidegger das klar zusammengefasst 2:
Berechnendes Denken kalkuliert. Es berechnet immer neuere, immer vielversprechendere und gleichzeitig ökonomischere Möglichkeiten, es hetzt von einer Perspektive zur nächsten. Berechnendes Denken hält niemals inne, sammelt sich nie. Berechnendes Denken ist nicht meditatives Denken, das den Sinn all dessen beherrscht, was ist.
Heidegger hält berechnendes Denken für insofern gefährlich, als es
…eines Tages als die einzige Art des Denkens akzeptiert und praktiziert werden könnte…dann hätte der Mensch seine eigene Natur als meditatives Wesen geleugnet und weggeworfen…Es geht also darum, die eigentliche Natur des Menschen zu retten, also darum, meditatives Denken am Leben zu erhalten.
Viele Leute halten einen meditativen Zugang zum Leben für weltfern und realitätsfremd. Er gehöre in die Provinz der Mystik und der Philosophen. Unabhängig davon, wie tiefsinnig er auch zu sein scheine, habe er keinen Einfluss auf den Verlauf aktueller Ereignisse. Die Tatsache, dass Meditation oft kritisch oder gar zynisch gesehen wird, zeigt nur noch mehr, in welchem Maße sich heute berechnende Haltung in den Köpfen der Menschen durchsetzt und ihre Bewertungsstandards prägt. Diese unsere Welt, zur Zeit wie wahnsinnig vom Dämon der Berechnung getrieben, entledigt sich spiritueller Werte und rast in eine gefahrvolle Zukunft. Wäre es da nicht an der Zeit, genauer zu erwägen, wie unsere Haltungen sich darauf auswirken, wie unser Leben sich entfaltet?
Berechnende Haltung neigt dazu, manipulativ zu sein. Sie geht mit dem Leben so um, als wäre es aus einer so gut wie unendlichen Anzahl voneinander getrennter Teile zusammengesetzt. Diese Einstellung wirkt nicht nur im Bereich des Materiellen; sie betrifft unsere Sicht auf andere Leute und auch auf uns selbst. Sie fragmentiert und trennt, sie macht lebende Wesen zu Dingen. Um effektiv berechnen zu können, müssen wir unsere Objekte mit jener Präzision vermessen, die für das endgültige Ziel, sie erfolgreich zu manipulieren, erforderlich ist. Um die verschiedenartigen Elemente der Wirklichkeit zu kontrollieren, müssen wir sie als getrennte Einheiten sehen, die zerlegt und angehäuft, verworfen und erlangt werden können.
Die Fähigkeit, genau zu berechnen, ist an sich nicht schädlich. Sie verzerrt und verblendet nur dann, wenn ihre Bedeutung so übertrieben wird, dass sie nicht als eine Möglichkeit unter anderen gesehen wird, sondern ihren Schatten über fast alle Bereiche menschlicher Aktivität wirft. Solange Berechnung nicht überschätzt wird, kann sie als hilfreiches Werkzeug dienen, mit dem viele praktische Aufgaben bewältigt werden können. Aber sie ist eindeutig gefährlich, wenn sie zu unserer vorherrschenden Haltung dem Leben als Ganzem gegenüber wird. Wenn unsere Sicht auf die Zukunft und unsere moralischen Entscheidungen nur von berechnender Haltung bestimmt sind, dann sind wir ernsthaft in Gefahr, unsere unsichere Position bei der Suche nach gelassenerem, kontemplativerem Umgang mit dem Leben ganz zu verlieren.
Berechnende Haltung kann unsere Probleme lösen, ist aber ohnmächtig wenn es darum geht, unsere Geheimnisse zu durchdringen. Dem Geheimnisvollen gegenüber können wir uns nicht auf logische oder technische Mittel verlassen, um Einsicht zu erlangen. Denn wenn wir versuchen, ein Geheimnis zu durchdenken, verliert es seine Natur und wird zu einem einfachen Problem. Je allgegenwärtiger Berechnung in unserem Leben wird, desto mehr wird das Geheimnisvolle verdrängt. Und wenn das Gefühl für das Geheimnis des Lebens matt und vage wird, nimmt unsere Fähigkeit zu meditieren ab, bis zu dem Punkt, an dem Meditation in die Randbereiche der Existenz verbannt wird.
Aber das Geheimnisvolle liegt im Herzen unseres Lebens, nicht an der Peripherie. Und seine Gegenwart können wir nur spüren, wenn eine meditative Haltung in uns noch lebendig ist. Anders als ein Problem kann ein Geheimnis nie gelöst, sondern nur durchdrungen werden. Ein Problem, das einmal gelöst ist, hört auf, ein Problem zu sein; aber die Durchdringung eines Geheimnisses macht es um nichts weniger geheimnisvoll. Je vertrauter man mit einem Geheimnis ist, desto stärker strahlt die Aura seines Mysteriums. Die Steigerung eines Geheimnisses führt nicht zu Frustration (wie das bei einem Problem der Fall ist), sondern zu Befreiung.
Meditative Haltung
Meditation wird weithin als eine Art spezialisierter Tätigkeit wahrgenommen. Sie wird als ein Mittel zur Beruhigung und Konzentration des Geistes angesehen, als Allheilmittel für Angst, Unruhe und Spannung. In der herrschenden Obsession für Berechenbarkeit wird sie bezeichnenderweise als eine Technik betrachtet, als eine systematische Anwendung einer Reihe vorgefasster Konzepte. Aber obwohl Richtlinien genannt werden können, gibt es schließlich kein „Wie“ für die Meditation. Bestimmte Übungen und Fähigkeiten können förderlicher für die Meditation sein als andere, aber am Ende ist eine meditative Haltung nicht etwas, was wir jemals erwerben können.
Meditative Haltung ist nichts Neues oder Fremdes. Sie wohnt tief in uns allen; nur ist sie heute ein Gebiet, das zunehmend brach liegt und ignoriert wird. Sie ist nicht etwas, das wir von irgendwo her bringen und in unser Leben einführen müssen. In einer embryonalen und sporadischen Weise ist sie bereits gegenwärtig. Sie kann in Bildern und Hinweisen unerwartet zu uns kommen. Sie wird vage als eine ferne, kaum bekannte Möglichkeit wahrgenommen, wie die Fragmente eines Traums, an den wir uns nicht erinnern können, der uns aber auch nicht in Ruhe lässt. Wir müssen ihre Fragilität erkennen und dann für sie sorgen und sie pflegen, wie wir es bei einem Kind oder einem Keimling tun würden.
Meditation fügt dem Leben nichts hinzu; sie stellt wieder her, was verloren gegangen ist. Sie bedeutet wachsende Aufmerksamkeit dafür, was unsere Existenz aussagt und von uns verlangt. Sie ist etwas Grundlegendes, das durch unsere Verblendung über ein gesondertes Ego und durch unsere endlosen Berechnungen und Melodramen vernebelt wurde. Die Praxis der Meditation liegt darin, diese Haltung durchscheinen zu lassen und uns langsam, oder auch abrupt, damit vertraut zu machen, was sowohl unser Ursprung als auch unser Höhepunkt ist.
Meditation und Geheimnis sind untrennbar. Ebenso wie das Geheimnisvolle nicht durch Berechnung enträtselt werden kann, kann eine meditative Haltung nicht erworben werden, als ob sie eine technische Fähigkeit wäre. Meditation findet statt, wenn unsere innerste Aufmerksamkeit auf die schockierende Nähe und dennoch schwer fassbare Distanz dessen, was vorhanden ist, gerichtet wird.
Die Praxis der Meditation ist ein Prozess der Zermürbung. Der Geist hat eine anscheinend unendliche Kapazität für Geschwätz. Und es gibt kein schnelles oder einfaches Heilmittel für diese Wucherungen von Gedanken und Emotionen. Nur die geduldige Kontinuität der Meditation kann sie schließlich zur Ruhe bringen. Wasser, das geduldig, ohne Eile, aber andauernd fließt, kann den beständigsten und hartnäckigsten Felsen abtragen.
Meditation ist den Tälern näher als den Gipfeln. Meditative Haltung haftet nicht an den Spitzenerfahrungen, diesen berauschenden Höhen der spirituellen Erfahrung, die die Täler und Ebenen weit unter sich lassen. Die dünne und blendende Atmosphäre der Gipfel kann uns erheben und inspirieren, aber wir können dort nicht lange leben. Lebewesen wachsen nicht auf den Gipfeln; sie brauchen den fruchtbaren Boden des Tales. Damit Meditation fruchtbar ist, muss sie nahe am Boden bleiben, um inmitten der unzähligen Details des täglichen Lebens den bescheidenen Wegen die Täler entlang zu folgen.
Meditative Haltung ist eine kreative Haltung. Lediglich die Techniken der Malerei zu meistern reicht nicht aus, um ein Kunstwerk zu schaffen. Das Kunstwerk, sei es ein Gemälde, ein Gedicht oder ein Musikstück, braucht mehr als nur technische Meisterschaft. Ebenso reicht das Beherrschen der Techniken der Meditation allein nicht aus, Einsicht zu schaffen. Einsicht, Weisheit, Mitgefühl und Liebe kommen alle aus einer anderen Quelle als der technischen Meisterschaft. Der Meditierende ist vergleichbar mit einem Künstler, der sein Handwerk beherrscht: ein Könner, der Liebe und Weisheit schafft.
Nicht-Wissen, Abwarten und Zuhören
Der Kern meditativer Haltung besteht darin, sich selbst in Frage zu stellen. Solche Befragung hat allerdings nichts mit der Neugier der Berechnung zu tun. Meditative Befragung fragt nach keinem unterscheidbaren individuellen Detail des Lebens, sondern nach dem Ganzen. Das Geheimnis des Lebens ist etwas, in das wir untrennbar eingebunden sind. Im Gegensatz zu einer berechnenden Frage, wo die Frage vom Problem getrennt ist, kann zwischen dem Meditierenden und dem Geheimnis nur eine begriffliche Unterscheidung gemacht werden. Meditatives Fragen nimmt an der Natur des Geheimnisses selbst teil. Es ist eine Art von grundlegendem Erstaunen oder von Verblüffung, die das reflektiert, was sich gleichzeitig zeigt und entzieht. Der französische Philosoph und Künstler Gabriel Marcel bemerkt 3:
Ein Problem ist etwas, auf das ich treffe, das ich vollständig vor mir vorfinde, das ich daher belagern und reduzieren kann. Aber ein Geheimnis ist etwas, in das ich eingebunden bin, und es kann daher nur als eine Sphäre gedacht werden, in der die Unterscheidung zwischen dem, was in mir ist und was vor mir ist, ihre Bedeutung und ursprüngliche Gültigkeit verliert. Ein bloßes Problem braucht eine geeignete Technik, durch deren Anwendung es definiert ist: dem gegenüber transzendiert ein Geheimnis definitionsgemäß alle vorstellbare Technik.
Die Konsequenz dieser Unterscheidung wird in dieser Zen-Maxime bestätigt:
Große Zweifel : großes Erwachen. Wenig Zweifel : kleines Erwachen. Kein Zweifel : kein Erwachen
Diese knappen Zeilen drücken aus, wie die Durchdringung des Geheimnisvollen direkt mit dem Ausmaß und der Intensität des Fragens zusammenhängt. Zweifel oder In-Frage-Stellen werden als unverzichtbare Schlüssel zum Erwachen gesehen. Die treibende Lebenskraft einer meditativen Haltung erhöht den Sinn für das Geheimnisvolle bis zu dem Punkt, an dem sich unerwartet offenbart, was bis dahin nicht vorhergesehen und unvermutet geblieben war.
Es gibt eine Art von Nicht-Wissen im meditativen Fragen, die sich sehr von der buddhistischen Vorstellung von Unwissenheit unterscheidet. Der Begriff der Unwissenheit umfasst nicht nur die Abwesenheit von Wissen über etwas, sondern auch dessen Verzerrung. In Unwissenheit erscheinen die Dinge in einer Weise, in der sie nicht existieren. Es ist auch ein Festhalten und Anhaften dabei, das die Verzerrung verstärkt und sie als etwas Reales und Sicheres darstellt. Meditatives Nicht-Wissen ist frei von dieser Art von Festhalten und Verzerrung. Statt festzuhalten, lässt es los. Statt darauf zu bestehen, dass die Dinge in einer bestimmten Weise existieren, akzeptiert es ihre Rätselhaftigkeit. Solches Nicht-Wissen lockert unser Festhalten daran, dass das Vertraute unveränderlich sei. Es ist einfach und entspannt; es behält eine naive, kindliche Offenheit.
In diesen Zustand des Nicht-Wissens können wir auf verschiedene Arten gelangen. Für manche entsteht er als endgültige Akzeptanz der Unzuständigkeit von Logik und Vernunft beim Umgang mit bestimmten überwältigenden Fragen. Es ist wie die spürbare Stille nach dem Zusammenbruch eines Apparats, der bis an seine Grenzen belastet wurde. Die Anerkennung des „Ich weiß nicht“ bedeutet am Ende nicht Versagen oder Schande, sondern Befreiung. Mitten in der Ruhe dieses neu entdeckten Nicht-Wissens gibt es die Andeutung einer tieferen und umfassenderen Weisheit. Dieses Nicht-Wissen ist in der Lage – zuerst vielleicht nur schwach – ,die Regungen des meditativen Bewusstseins zu spüren.
Berechnung, auf der anderen Seite, weigert sich, sich dem Nicht-Wissen zu stellen. Das Nicht-Wissen, das eine solche Fragehaltung in Gang setzt, wird als Herausforderung empfunden, die es zu überwinden und zu beseitigen gilt. Berechnung ist stolz auf Wissen. Um erfolgreich zu sein, muss man sich auf das, was bekannt ist, verlassen, um das, was in einem Problem unbekannt ist, zu beseitigen. Was nicht bekannt ist, wird als eine unangenehme Lücke im Bereich des Wissens sowie als unverzichtbarer Impuls für weiteres Verständnis betrachtet. Nicht-Wissen ist der Feind berechnender Haltung, auch wenn es gleichzeitig das ist, was ihr Fortschritte möglich macht. Berechnung, als Anstrengung gegen das Nicht-Wissen, ist nie einfach oder locker; sie ist nicht in der Lage das, was sie in Bewegung gesetzt hat, wieder zur Ruhe zu bringen.
Meditative Haltung ist bereit, ewig zu warten. Von jedem Anspruch auf Wissen befreit, wird nicht erwartet, dass irgendetwas besonderes geschieht. Solches Warten begnügt sich damit, die Dinge sein zu lassen und gleichzeitig anzuerkennen, dass es, im Geheimnis verborgen, etwas Unbekanntes gibt. Das, was verhüllt ist, kann nicht hervor gelockt werden. Es hat seine eigene Zeit jenseits der Zeit des Erinnern und Antizipierens. Warten wartet; es ist in jedem Moment wachsam, hat aber keine Erwartungen.
Erwartung ist charakteristisch für Berechnung. Unsere Berechnungen sind nur in der Lage, Fortschritte zu machen, so lange wir ein bestimmtes Ergebnis vorhersehen können. Wenn wir von einem solchen Verfahren nichts erwarten könnten (auch wenn es nur der Beweis ist, dass unsere Hypothese fehlerhaft ist), dann hätten wir keinen Anreiz, es anzuwenden. Berechnung ist zielorientiert; jeder Schritt, den sie tut, wird in Erwartung irgendeines Ergebnisses gemacht. Erwartung bezieht ihre Nahrung aus der Vergangenheit. Aus all unseren Erinnerungen setzt sie Stücke zu einem Bild des Erwünschten zusammen und projiziert es dann in die Zukunft als vorweggenommenes Ziel. Indem wir etwas erwarten, entwerfen wir eine Brücke zwischen der Vergangenheit und der Zukunft, die nur in unseren Gedanken existiert.
Es ist verhängnisvoll, in der Meditation Erwartungen zu nähren. Sobald wir in unserem Geist ein Bild dessen festlegen, was wir anstreben, beschränken wir uns auf das, was innerhalb bekannter Bereiche liegt. Die einzigen Einsichten, die wir je hervorbringen können, sind dann dem Pool von Eindrücken, Ideen, Symbolen und Erfahrungen entnommen, die wir in unserem Gedächtnis gespeichert haben. Auch edle Ideen wie „Erwachen“ und „Buddha“ sind schließlich nichts anderes als Collagen vergangener Eindrücke, von Logik und Phantasie zusammengeklebt. Solche Bilder können uns als hilfreiche Wegweiser auf dem Pfad leiten, es sollte ihnen aber nie erlaubt werden, bei unserer meditativen Durchdringung des Geheimnisvollen dazwischen zu treten. Wenn sie – oder irgend ein anderes Bild von einem Ziel – das Unvorhersehbare und Unbekannte ahnen lassen wollen, wird Meditation in die Falle von Denken, Gedächtnis und Vorstellungskraft geraten und von ihrem Geheimnis getrennt werden.
Eine der größten Gefahren von allen liegt in der Erinnerung an unsere eigenen Erfahrungen in der Meditation. Es ist nicht so ungewöhnlich, während der Meditation zu etwas Außergewöhnlichem und Beispiellosem zu erwachen. Aber je ungewöhnlicher und mystischer die Erfahrung ist, desto größer wird die Gefahr. Denn sobald die unmittelbare Erfahrung verblasst ist, werden wir versucht sein, uns ein Bild von ihr zu schaffen und uns dann bemühen, es wieder einzufangen. Sobald dies geschieht und wir getrost unter der Illusion weitermachen, dass das Unberechenbare von jetzt an unseren gut begründeten Erwartungen entsprechen wird, geht die eigentliche meditative Fragehaltung verloren. Anfängerinnen und Anfänger haben hier einen großen Vorteil gegenüber erfahrenen Meditierenden.
Wir sollten einfach warten, ohne Idee oder Bild von dem, was passieren könnte. Auch noch so viel Erfahrung kann die Art, in der das Geheimnisvolle sich entfaltet, nicht vorhersagen. Beim Warten, wie auch beim Nicht-Wissen, können wir nicht auf unsere Speicher angesammelten Wissen zurückgreifen. Aber indem wir sie hinter uns lassen, treten wir nicht in einen Zustand blanker Indifferenz ein, sondern in eine lebendige, unvoreingenommene Fragehaltung.
Wenn man eine Analogie zu sinnlichem Bewusstsein heranzieht: eine meditative Haltung hört mehr, als sie sieht. Zuhören ist empfänglicher als Sehen. Indem wir unsere Ohren einstimmen, schärfen wir unsere Aufmerksamkeit, so dass sie sich für die unermessliche und subtile Menge von Tönen öffnet, die uns ständig umgeben und bestürmen. Selbst wenn wir auswählen und uns auf einen bestimmten Klang konzentrieren, tun wir dies so, dass dem Klang leichterer Zugang zu uns ermöglicht wird. Sehen hingegen ist oft durch Verengung der Aufmerksamkeit und eine fast zielorientierte Fokussierung auf das Objekt gekennzeichnet. Es ist nicht so, dass der Form des Objekts erlaubt wird in das Bewusstsein einzudringen; eher ist es so, dass wir es ergreifen und durchdringen.
Meditatives Bewusstsein hört. Es ist offen für alles mögliche, da unsere Ohren empfindsam sind für die allgegenwärtige Symphonie aus Klang und Stille, die uns umgibt. Warum sollten wir in der Einfachheit des Wartens nicht eher auf den Tritt des Geheimnisvollen hören als nach einem visionären Zeichen Ausschau halten?
Dem Hören wird in vielen Traditionen zugesprochen, Symbol für Weisheit zu sein. In der sumerischen Sprache zum Beispiel wird dasselbe Wort für Ohr und Weisheit verwendet. An einem Punkt in der Shurangama Sutra 4 bittet der Buddha die anwesenden Bodhisattvas und Arhats 5 über die wirkungsvollste Methode zur Realisierung von Erwachen zu sprechen. Avalokiteshvara antwortet:
Da Buddha nun nach dem besten Mittel zur Vollkommenheit fragt: meine Methode ist, durch die Regulierung des Gehörorgans den Geist für den Einstieg in den Strom der Meditation zu beruhigen, was zum Zustand des Samadhi und dem Erreichen der Erleuchtung führt: sie ist die beste.
In einer späteren Passage aus der selben Lehrrede erklärt der Bodhisattva Manjushri, was gemeint ist:
Wenn man in der Stille wohnt, hört man das Rühren von Trommeln aus zehn Richtungen gleichzeitig. Hören ist also vollkommen und perfekt. Die Augen können ein Bild nicht durchdringen, auch Mund oder Nase können das nicht. Der Körper fühlt nur, wenn er berührt wird, die Gedanken des Geistes sind verwirrt und unverbunden. Aber der Ton, ob nah oder fern, ist zu allen Zeiten zu hören. Die fünf anderen Organe sind nicht perfekt, aber das Hören ist wirklich allgegenwärtig.
- Das Buch „The Faith to doubt“, von dem es keine deutsche Übersetzung gibt, ist Ergebnis von Stephen Batchelors intensiver Auseinandersetzung mit dem koreanischen Zen-Buddhismus, wie er von Kusan Sunim gelehrt wurde. In der Meditation spielt dabei die Haltung des Fragens eine zentrale Rolle. Das Buch, das schon vor längerer Zeit veröffentlicht wurde, hat nichts an Aktualität verloren. Konrad Mohrmann hat uns darauf aufmerksam gemacht und eine zentrale Passage, das 4. Kapitel „Questioning“, pp. 37-49, vorübersetzt. Leicht gekürzt und überarbeitet wurde der Text von Evamaria Glatz ↩
- aus: Martin Heidegger: Gelassenheit, von Batchelor aus der englischen Übersetzung von John M. Anderson und E. Hans Freund zitiert, pp. 45ff. ↩
- Gabriel Marcel, „Etre et avoir“, 1935, von Stephen Batchelor aus der englischen Übersetzung „Being and Having“, p.117, zitiert ↩
- http://www.buddhanet.net/pdf_file/surangama.pdf, in englischer Sprache ↩
- Bodhisattvas und Arhats sind, sehr vereinfacht gesprochen, weit fortgeschrittene Praktizierende, s.: http://de.wikipedia.org/wiki/Bodhisattva und http://de.wikipedia.org/wiki/Arhat ↩